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Versuchung nachgegeben, so empfinden wir ein Gefühl des Unbefriedigtseins, der Scham, Reue und Gewissensbisse, analog dem, welches in Folge anderer starker nicht befriedigter oder unterdrückter Instincte empfunden wird, und in diesem Falle nennen wir es Gewissen: denn wir können nicht verhindern, dass vergangene Bilder und Eindrücke beständig durch unsere Seele ziehen. Wir vergleichen den abgeschwächten Eindruck einer vorübergegangenen Versuchung mit den beständig gegenwärtigen socialen Instincten oder mit Gewohnheiten, welche wir in früher Jugend erlangt und durch unser ganzes Leben gekräftigt haben, bis sie zuletzt fast so stark wie Instincte geworden sind. Wenn wir, die Versuchung immer vor unsern Augen, derselben nicht nachgegeben haben, so geschah dies, weil entweder der sociale Instinct oder irgend eine Gewohnheit in dem Augenblicke in uns vorherrschte, oder weil wir gelernt haben, dass diese uns später, wenn wir sie mit dem abgeschwächten Eindruck der Versuchung vergleichen, um so stärker erscheinen, und dass wir ihre Verletzung schmerzlich empfinden würden. Blicken wir auf spätere Generationen, so haben wir keine Ursache zu befürchten, dass die socialen Instincte schwächer werden würden; und wir können wohl erwarten, dass tugendhafte Gewohnheiten stärker und vielleicht durch Vererbung fixirt werden. In diesem Falle wird der Kampf zwischen unsern höheren und niederen Antrieben weniger hart sein und die Tugend wird triumphiren.

Zusammenfassung der letzten beiden Capitel. – Es lässt sich nicht zweifeln, dass die Verschiedenheit zwischen der Seele des niedrigsten Menschen und der des höchsten Thieres ungeheuer ist. Wenn ein anthropomorpher Affe leidenschaftslos seinen eigenen Zustand beurtheilen könnte, so würde er zugeben, dass, obgleich er einen kunstvollen Plan sich ausdenken konnte, einen Garten zu plündern, obgleich er Steine zum Kämpfen oder zum Aufbrechen von Nüssen benutzen könnte, doch der Gedanke, einen Stein zu einem Werkzeug umzuformen, völlig über seinen Horizont gienge. Er würde ferner zugeben, dass er noch weniger im Stande wäre, einem Gedankengange metaphysischer Betrachtungen zu folgen oder ein mathematisches Problem zu lösen, oder über Gott zu reflectiren, oder eine grosse Naturscene zu bewundern. Einige Affen würden indess wahrscheinlich erklären, dass sie die Schönheit der farbigen Haut und des Haarkleides ihrer Ehegenossen bewundern könnten und wirklich bewundern; sie würden zugeben,


Empfohlene Zitierweise:
Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, I. Band. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1875, Seite 162. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinAbstammungMensch1.djvu/176&oldid=- (Version vom 31.7.2018)