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Endlich werden die socialen Instincte, welche ohne Zweifel vom Menschen ebenso wie von den niederen Thieren zum Besten der ganzen Gemeinschaft erlangt worden sind, von Anfang an den Wunsch, seinen Genossen zu helfen, und ein gewisses Gefühl der Sympathie in ihm angeregt, ihn aber auch dazu veranlasst haben, ihre Billigung und Misbilligung zu beachten. Derartige Antriebe werden ihm in einer sehr frühen Periode als eine rohe Regel für Recht und Unrecht gedient haben. Aber in dem Maasse, als der Mensch nach und nach an intellectueller Kraft zunahm und in den Stand gesetzt wurde, die weiter ab liegenden Folgen seiner Handlungen zu übersehen, als er hinreichende Kenntnisse erlangt hatte, verderbliche Gebräuche und Aberglauben zu verwerfen, als er, je länger desto mehr, nicht bloss die Wohlfahrt, sondern auch das Glück seiner Mitmenschen in’s Auge fassen lernte, als in Folge von Gewohnheit, einer Folge wohlthätiger Erfahrung, wohltätigen Unterrichts und Beispiels, seine Sympathien zarter und weiter ausgedehnt wurden, so dass sie sich auf alle Menschen aller Rassen, auf die schwachen, gebrechlichen und andern unnützen Glieder der Gesellschaft erstreckten, endlich sogar auf die niederen Thiere, – in dem Maasse wird auch der Maassstab seiner Moralität höher und höher gestiegen sein. Und die Moralisten der derivativen Schule und auch einige Intuitionisten geben zu, dass der Maassstab der Moralität seit einer frühen Periode der Geschichte der Menschheit wirklich ein höherer geworden ist.[1]

Da man zuweilen sieht, dass zwischen verschiedenen Instincten bei niederen Thieren ein Kampf besteht, so ist es nicht überraschend, dass auch beim Menschen ein Kampf zwischen seinen socialen Instincten, mit den davon abgeleiteten Tugenden, und seinen niederen, wenn auch im Augenblick stärkeren, Antrieben und Begierden sich erhebt. Dies ist, wie Mr. Galton[2] bemerkt hat, um so weniger überraschend, als der Mensch sich aus dem Zustand der Barbarei innerhalb einer verhältnissmässig neueren Zeit erst erhoben hat. Haben wir irgend einer


  1. Ein Schriftsteller, welcher der Bildung eines gesunden Urtheils wohl fähig ist, drückt sich in der North British Review, July 1869. p. 531 sehr entschieden in diesem Sinne aus. Mr. Lecky scheint (History of Morals. Vol. I. p. 143) in gewissem Maasse einzustimmen.
  2. s. sein merkwürdiges Buch „On Hereditary Genius“. 1869, p. 349. Der Herzog von Argyll gibt in seinem: Primeval Man. 1869. p. 188 einige gute Bemerkungen über den in der Natur des Menschen auftretenden Kampf zwischen Recht und Unrecht.
Empfohlene Zitierweise:
Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, I. Band. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1875, Seite 161. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinAbstammungMensch1.djvu/175&oldid=- (Version vom 31.7.2018)