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und da das Stehlen ein so seltenes Verbrechen in den wohlhabenden Classen ist, so können wir die in zwei oder drei Mitgliedern derselben Familie auftretende Neigung nicht durch eine zufällige Coincidenz erklären. Werden schlechte Neigungen überliefert, so ist es wahrscheinlich, dass auch gute in gleicher Weise vererbt werden. Dass der Zustand des Körpers mit seiner Einwirkung auf das Gehirn einen bedeutenden Einfluss auf die moralischen Neigungen hat, ist den meisten von denen bekannt, welche an chronischer Verdauungsstörung oder an der Leber gelitten haben. Dieselbe Thatsache zeigt sich auch darin, dass „die Verirrung oder Zerstörung des moralischen Gefühls oft eines der ersten Symptome beginnender geistiger Störung ist“;[1] und Geisteskrankheiten werden notorisch häufig vererbt. Ausgenommen durch das Princip der Vererbung moralischer Neigungen haben wir kein Mittel, die Verschiedenheiten zu erklären, welche, wie man annimmt, in dieser Beziehung zwischen den verschiedenen Menschenrassen existiren.

Selbst die theilweise Vererbung tugendhafter Neigungen würde eine unendliche Unterstützung für den primären Antrieb sein, welcher direct aus den socialen Instincten und indirect aus der Gutheissung unserer Mitmenschen entspringt. Nehmen wir für einen Augenblick an, dass tugendhafte Neigungen vererbt werden, so erscheint es wenigstens in solchen Fällen, wie Keuschheit, Mässigkeit, Humanität gegen Thiere u. s. w. wahrscheinlich, dass sie der geistigen Organisation sich zuerst durch Gewohnheit, Unterricht und Beispiel, mehrere Generationen hindurch in derselben Familie fortgesetzt, einprägten und nur in einem völlig untergeordneten Grade, wenn überhaupt, dadurch, dass diejenigen Individuen, welche solche Tugenden besassen, in dem Kampf um’s Dasein am besten fortkamen. Der hauptsächlichste Grund, welcher mich mit Rücksicht auf irgend eine derartige Vererbung zweifeln lässt, liegt in jenen sinnlosen Gebräuchen, abergläubischen Formen und Geschmacksrichtungen, wie das Entsetzen eines Hindu vor unreiner Nahrung, welche doch nach demselben Princip vererbt werden müssten. Obschon dies an sich vielleicht nicht weniger wahrscheinlich ist, als dass Thiere durch Vererbung den Geschmack für gewisse Arten von Nahrung oder die Furcht vor gewissen Feinden erlangen, so ist mir doch kein Zeugniss vorgekommen zur Unterstützung der Annahme, dass auch abergläubische Gebräuche und sinnlose Gewohnheiten vererbt würden.


  1. Maudsley, Body and Mind. 1870, p. 60.
Empfohlene Zitierweise:
Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, I. Band. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1875, Seite 160. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinAbstammungMensch1.djvu/174&oldid=- (Version vom 31.7.2018)