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als von andern,[1] und ferner warum ähnliche Verschiedenheiten selbst unter civilisirten Nationen bestehen. Da wir wissen, wie stark viele fremdartige Gebräuche und Aberglauben fixirt worden sind, brauchen wir uns darüber nicht zu verwundern, dass die auf das Individuum Bezug habenden Tugenden uns jetzt in einem Grade natürlich erscheinen (da sie in der That auf Nachdenken beruhen), dass man sie für eingeboren halten möchte, trotzdem sie vom Menschen in seinem frühesten Zustand nicht geschätzt wurden.

Trotz vieler Zweifelsquellen kann der Mensch meistens und zwar leicht, zwischen den höheren und niederen moralischen Regeln unterscheiden. Die höheren gründen sich auf die socialen Instincte und beziehen sich auf die Wohlfahrt Anderer; sie beruhen auf der Billigung unserer Mitmenschen und auf Nachdenken. Die niederen Regeln, trotzdem manche von ihnen, wenn sie Selbstaufopferung mit im Gefolge haben, kaum den Namen niederer verdienen, beziehen sich hauptsächlich auf das eigene Selbst und verdanken ihren Ursprung der öffentlichen Meinung, sobald diese durch Erfahrung und Cultur gereift ist; denn sie werden von rohen Stämmen nicht befolgt.

Wenn der Mensch in der Cultur fortschreitet und kleinere Stämme zu grösseren Gemeinschaften vereinigt werden, so wird das einfachste Nachdenken jedem Individuum sagen, dass es seine socialen Instincte und Sympathien auf alle Glieder derselben Nation auszudehnen hat, selbst wenn sie ihm persönlich unbekannt sind. Ist dieser Punkt einmal erreicht, so besteht dann nur noch eine künstliche Grenze, welche ihn abhält, seine Sympathien auf alle Menschen aller Nationen und Rassen auszudehnen. In der That, wenn gewisse Menschen durch grosse Verschiedenheiten im Aeussern oder in der Lebensweise von ihm getrennt sind, so dauert es, wie uns unglücklicherweise die Erfahrung lehrt, lange, ehe er sie als seine Mitgeschöpfe betrachtet. Sympathie über die Grenzen der Menschheit hinaus, d. h. Humanität gegen die niederen Thiere scheint eine der spätesten moralischen Erwerbungen zu sein. Wilde besitzen dieses Gefühl, wie es scheint, nicht, mit Ausnahme der Humanität gegen ihre Schoossthiere. Wie wenig die alten Römer dasselbe kannten, zeigt sich in ihren abstossenden Gladiatorenkämpfen. Die blosse Idee der Humanität war, soviel ich beobachten


  1. Gute Beispiele theilt Mr. Wallace mit in „Scientific Opinion“, Sep. 15. 1869, und ausführlicher in seinen Contributions to the Theory of Natural Selection. 1870, p. 353.
Empfohlene Zitierweise:
Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, I. Band. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1875, Seite 158. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinAbstammungMensch1.djvu/172&oldid=- (Version vom 31.7.2018)