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Schule der Moralisten nahmen früher an, dass der Grund der Moralität in einer Art von Selbstsucht läge, neuerdings aber ist das „Princip des grössten Glücks“ besonders in den Vordergrund gebracht worden. Es ist indess richtiger von diesem letztern Princip als von dem Maassstabe zu sprechen, als dasselbe als das Motiv des Betragens zu bezeichnen. Nichtsdestoweniger äussern sich alle Schriftsteller, deren Werke ich consultirt habe, mit einigen wenigen Ausnahmen,[1] so, als müsste für jede Handlung ein bestimmtes Motiv existiren, und dass dies mit einem gewissen Behagen oder Unbehagen verbunden sein müsse. Der Mensch scheint aber häufig impulsiv zu handeln, d. h. einem Instinct oder alter Gewohnheit folgend, ohne irgend sich eines Vergnügens bewusst zu werden, in derselben Weise wie wahrscheinlich eine Biene oder Ameise handelt, wenn sie blindlings ihren Instincten folgt. In Fällen äusserster Gefahr, so wenn ein Mensch während eines Feuers ein Mitgeschöpf, ohne einen Augenblick zu zögern, zu retten unternimmt, kann er kaum ein Vergnügen empfinden; und noch weniger hat er Zeit, darüber nachzudenken, was für ein Unbefriedigtsein er später empfinden würde, wenn er nicht jenen Versuch machte. Sollte er nachher über sein Benehmen nachdenken, so würde er fühlen, dass in ihm noch eine impulsive Kraft liegt, welche von der Sucht nach Vergnügen oder Glück weit verschieden ist; und dies scheint der tief eingewurzelte sociale Instinct zu sein.

Was die niedern Thiere betrifft, so scheint es viel passender, von


  1. Mill erkennt in der deutlichsten Weise an (System of Logic, Vol. II, p. 422), dass Handlungen aus Gewohnheit ohne vorherige Erwartung eines Vergnügens ausgeführt werden können. Auch H. Sidgwick bemerkt in seinem Aufsatze über Behagen und Begierde (The Contemporary Review, April, 1872, p. 671): „Um Alles zusammenzufassen, so würde ich in Widerspruch zu der Theorie, dass unsre bewussten thätigen Impulse immer auf die Erzeugung angenehmer Empfindungen in uns gerichtet sind, behaupten, dass wir überall im Bewusstsein einen besonders Acht habenden Impuls finden, der auf etwas, was nicht Vergnügen ist, gerichtet ist, und dass in vielen Fällen der Impuls in sofern mit dem Gedanken an das eigne Selbst unverträglich ist, als diese Zwei nicht leicht in demselben Momente des Bewusstseins gleichzeitig vorhanden sind“. Ein dunkles Gefühl, dass unsre Impulse durchaus nicht immer aus einem gleichzeitigen oder erwarteten Vergnügen entspringen, ist, wie ich nicht anders glauben kann, eine der Hauptursachen für die Annahme der intuitiven Theorie der Moral und für das Verwerfen der utilitarischen Theorie oder der des „grössten Glückes“. Was die letztere Theorie betrifft, so ist ohne Zweifel der Maassstab für das Betragen und das Motiv zu demselben häufig mit einander verwechselt worden; doch sind beide factisch in einem gewissen Grade verschmolzen.
Empfohlene Zitierweise:
Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, I. Band. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1875, Seite 155. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinAbstammungMensch1.djvu/169&oldid=- (Version vom 31.7.2018)