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Pompejanischen Wandgemälde und durch die Gebräuche vieler Wilden bewiesen.

Wir haben nun gesehen, dass Handlungen von Wilden für gut oder schlecht gehalten werden und wahrscheinlich auch von dem Urmenschen so betrachtet wurden, nur insofern sie in einer auffallenden Weise die Wohlfahrt des Stammes, nicht die der Art, ebensowenig wie die des Menschen als eines individuellen Mitglieds des Stammes betreffen. Diese Folgerung stimmt sehr gut mit dem Glauben überein, dass das sogenannte moralische Gefühl ursprünglich den socialen Instincten entstammte; denn beide beziehen sich zunächst ausschliesslich auf die Gesellschaft. Die hauptsächlichsten Ursachen der niedrigeren Moralität Wilder, wenn sie nach unserem Maassstab beurtheilt wird, sind erstens die Beschränkung der Sympathie auf denselben Stamm; zweitens unzureichendes Vermögen des Nachdenkens, so dass die Beziehungen vieler Tugenden, besonders der das Individuum betreffenden, zu der allgemeinen Wohlfahrt des Stammes nicht erkannt werden. So erkennen z. B. Wilde die mannichfachen Uebel nicht, welche einem Mangel an Keuschheit, Mässigung u. s. w. folgen. Und drittens ist als Ursache der niederen Moralität Wilder die schwache Entwickelung der Selbstbeherrschung zu nennen; denn dieses Vermögen ist noch nicht durch lange fortgesetzte, vielleicht vererbte Gewohnheit, durch Unterricht und Religion gekräftigt worden.

Ich bin auf die eben erwähnten Einzelnheiten in Bezug auf die Immoralität der Wilden[1] eingegangen, weil einige Schriftsteller neuerer Zeit eine sehr hohe Meinung von der moralischen Natur derselben geäussert oder die meisten ihrer Verbrechen einem misverstandenen Wohlwollen zugeschrieben haben.[2] Diese Schriftsteller scheinen ihre Folgerungen darauf zu gründen, dass die Wilden diejenigen Tugenden besitzen, welche für die Existenz einer Familie und einer Stammesgemeinschaft von Nutzen oder selbst nothwendig sind, – Eigenschaften, welche sie unzweifelhaft und zwar oft in einem sehr hohen Grade besitzen.

Schlussbemerkungen. – Die Philosophen der derivativen[3]


  1. Zahlreiche Belege über denselben Gegenstand findet man im VIII. Capitel von Sir J. Lubbock’s Origin of Civilisation. 1870.
  2. z. B. Lecky, History of European Morals. Vol. I, p. 124.
  3. Dieser Ausdruck wird in einem guten Artikel in der Westminster Review, Oct. 1869, p. 498 gebraucht. Ueber das Princip des grössten Glücks s. J. S. Mill, Utilitarianism. p 17.
Empfohlene Zitierweise:
Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, I. Band. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1875, Seite 154. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinAbstammungMensch1.djvu/168&oldid=- (Version vom 31.7.2018)