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erschüttert worden, weil er an unreiner Nahrung Theil genommen hat. Das folgende ist ein fernerer Fall von Gewissensbissen, wie man es meiner Meinung nach wohl nennen muss. Dr. Landor fungirte als Magistratsperson in Westaustralien und erzählt,[1] dass ein Eingeborner auf seiner Farm nach dem Verluste einer seiner Frauen in Folge von Krankheit zu ihm gekommen sei und gesagt habe, „dass er im Begriffe sei, zu einem entfernten Stamme zu gehen, um zur Befriedigung seines Gefühls von Pflicht gegen seine Frau ein andres Weib mit dem Speere zu tödten. Ich sagte ihm, dass, wenn er es thäte, ich ihn zeitlebens in’s Gefängniss bringen würde. Er blieb ein paar Monate auf der Farm, wurde aber ausserordentlich mager und klagte, dass er nicht ruhen und nicht essen könne, dass der Geist seiner Frau ihn heimsuche, weil er nicht ein andres Leben für ihres genommen habe. Ich blieb unerbittlich und versicherte ihm, dass ihn nichts retten würde, wenn er es thäte“. Nichtsdestoweniger verschwand der Mann für länger als ein Jahr und kehrte dann in gehobener Stimmung zurück. Seine andere Frau erzählte dann Dr. Landor, dass ihr Mann einem zu einem entfernten Stamme gehörenden Weibe das Leben genommen habe; es war aber unmöglich, legale Zeugnisse für die Handlung beizubringen. Die Verletzung einer vom Stamme heilig gehaltenen Regel lässt hiernach, wie es scheint, die tiefsten Gefühle entstehen, – und zwar völlig getrennt von den socialen Instincten, ausgenommen in so fern die Regel auf das Urtheil der Genossenschaft gegründet ist. Wie so viele fremdartige Formen des Aberglaubens auf der ganzen Erde entstanden sind, wissen wir nicht; auch können wir nicht angeben, woher es kommt, dass einige wirkliche und schwere Verbrechen, wie z. B. Incest, selbst von den niedersten Wilden verabscheut werden (doch ist dies allerdings nicht ganz allgemein). Es ist selbst zweifelhaft, ob bei manchen Stämmen Incest mit grösserem Abscheu betrachtet werden würde, als die Heirath eines Mannes mit einer Frau, die denselben Namen führt, auch wenn es keine Verwandte ist. „Dies Gesetz zu verletzen ist ein Verbrechen, welches die Australier in höchstem Maasse verabscheuen, worin sie vollständig mit gewissen Stämmen in Nordamerica übereinstimmen. Wenn in beiden Theilen der Erde die Frage aufgestellt wird: ist es schlechter, ein Mädchen eines fremden Stammes zu tödten, oder ein Mädchen des eignen Stammes zu heirathen, so würde eine


  1. Insanity in Relation to Law; Ontario, United States, 1871, p. 14
Empfohlene Zitierweise:
Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, I. Band. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1875, Seite 148. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinAbstammungMensch1.djvu/162&oldid=- (Version vom 31.7.2018)