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socialen Instincten verglichen werden, und bei seiner hohen Achtung vor der guten Meinung seiner Mitmenschen wird sicherlich Reue eintreten; der Mensch wird dann Gewissensbisse, Reue, Bedauern oder Scham empfinden; doch bezieht sich das letztere Gefühl fast ausschliesslich auf das Urtheil Andrer. Er wird in Folge dessen sich entschliessen, mit mehr oder weniger Kraft, in Zukunft anders zu handeln. Dies ist das Gewissen; denn das Gewissen schaut rückwärts und dient uns als Führer für die Zukunft.

Die Natur und Stärke der Empfindungen, welche wir Bedauern, Scham, Reue oder Gewissensbisse nennen, hängen dem Anschein nach nicht allein von der Stärke des verletzten Instincts, sondern auch zum Theil von der Stärke der Versuchung und häufig noch mehr von dem Urtheil unsrer Mitmenschen ab. In wie weit jeder Mensch die Anerkennung Andrer würdigt, hängt von der Stärke seines angebornen oder erlangten Gefühls der Sympathie ab, auch von seiner eignen Fähigkeit, die entfernteren Folgen seiner Handlungen sich zu überlegen. Ein anderes Element ist äusserst bedeutungsvoll, wennschon nicht nothwendig, die Ehrfurcht oder Furcht vor Gott oder den Geistern, an die jeder Mensch glaubt; dies gilt vorzüglich für die Fälle, wo Gewissensbisse empfunden werden. Mehrere Kritiker haben mir eingehalten, dass, wenn auch ein geringer Grad von Bedauern oder Reue durch die in diesem Capitel vertheidigte Ansicht erklärt werden könne, es doch unmöglich sei, in dieser Weise das seelenerschütternde Gefühl der Gewissensbisse zu erklären. Ich kann diesem Einwurf nur wenig Gewicht beilegen. Meine Kritiker definiren nicht, was sie unter Gewissensbissen meinen, und ich kann keine Definition finden, die mehr enthielte als ein überwältigendes Gefühl der Reue. Gewissensbisse scheinen in demselben Verhältniss zur Reue zu stehen, wie Wuth zu Aerger, oder Todesangst zu Schmerz. Es ist durchaus nicht befremdend, dass ein so starker und so allgemein bewunderter Instinct wie Mutterliebe, wenn ihm nicht gehorcht wird, zum tiefsten Elend führt, sobald der Eindruck der vorübergegangenen Veranlassung zum Nichtgehorchen abgeschwächt ist. Selbst wenn eine Handlung keinem speciellen Instincte entgegengesetzt ist: einfach zu wissen, dass unsere Freunde und Gleichstehenden uns verachten, ist hinreichend, uns sehr unglücklich zu machen. Wer kann daran zweifeln, dass die Verweigerung eines Duells aus Furcht manchem Manne die allerbitterste Scham verursacht hat? So mancher Hindu ist, wie man sagt, bis auf den Grund seiner Seele


Empfohlene Zitierweise:
Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, I. Band. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1875, Seite 147. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinAbstammungMensch1.djvu/161&oldid=- (Version vom 31.7.2018)