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ganz allein sind, wie oft denken wir mit Vergnügen oder mit Kummer daran, was Andere von uns denken – an deren vermeintliche Billigung oder Misbilligung; und dies Alles ist Folge der Sympathie, eines Fundamentalelements der socialen Instincte. Ein Mensch, welcher keine Spur derartiger Instincte besässe, würde ein unnatürliches Monstrum sein. Auf der andern Seite ist die Begierde, den Hunger oder irgend eine Leidenschaft, wie die der Rache, zu befriedigen, ihrer Natur nach temporär und kann zeitweise vollständig befriedigt werden. Es ist auch nicht leicht, vielleicht kaum möglich, mit vollständiger Lebendigkeit z. B. das Gefühl des Hungers sich zurückzurufen und, wie oft bemerkt worden ist, nicht einmal das Gefühl irgendwelchen Leidens. Der Instinct der Selbsterhaltung wird nicht gefühlt, ausgenommen in Gegenwart einer drohenden Gefahr, und mancher Feigling hat sich für tapfer gehalten, bis er seinem Feinde Auge in Auge gegenüber gestanden hat. Der Wunsch nach dem Besitzthum eines anderen Menschen ist vielleicht ein so beständiger wie irgend einer, der angeführt werden kann; aber selbst in diesem Falle ist das befriedigende Gefühl wirklichen Besitzes meist ein schwächeres Gefühl als der Wunsch darnach. Schon mancher Dieb, wenn er kein gewohnheitsgemässer war, hat sich nach glücklichem Erfolg gewundert, warum er Dies oder Jenes gestohlen hat.[1]


  1. Feindschaft oder Hass scheint gleichfalls ein in hohem Maasse ausdauerndes Gefühl zu sein, vielleicht mehr als irgend ein andres, was etwa angeführt werden könnte. Neid wird definirt als Hass eines Andern wegen irgend eines Vorzugs oder Erfolgs. Bacon betont (Essay IX): „von allen andern Affecten ist Neid der ungelegenste und beständigste“. Bei Hunden kommt es leicht vor, dass sie sowohl fremde Menschen als fremde Hunde hassen, besonders wenn sie in der Nachbarschaft leben, aber nicht zu derselben Familie, zu demselben Stamm oder Gefolge gehören. Hiernach möchte das Gefühl eingeboren zu sein scheinen, und es ist sicherlich ein äusserst andauerndes. Es scheint das Complement und der Gegensatz des echten socialen Instincts zu sein. Nach dem was wir von den Wilden hören, gilt allem Anschein nach etwas dem Aehnliches auch für sie. Wenn dies der Fall ist, so wäre es nur ein kleiner Schritt, um bei Jedem solche Gefühle auf irgend ein Mitglied desselben Stammes zu übertragen, wenn ihm dies einen Schaden zugefügt hätte und sein Feind geworden wäre. Auch ist es nicht wahrscheinlich, dass das primitive Gewissen eines Menschen darüber Vorwürfe machen würde, dass er seinen Feind schädigt; es würde ihm eher vorwerfen, dass er sich nicht gerächt habe. Gutes zu thun in Erwiederung für Böses, den Feind zu lieben, ist eine Höhe der Moralität, von der wohl bezweifelt werden dürfte, ob die socialen Instincte für sich selbst uns dahin gebracht haben würden. Nothwendigerweise mussten diese Instincte, in Verbindung mit Sympathie, hoch cultivirt und mit Hülfe des Verstandes, des Unterrichts, der Liebe oder Furcht Gottes erweitert werden, ehe eine solche goldne Regel je hätte erdacht und befolgt werden können.
Empfohlene Zitierweise:
Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, I. Band. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1875, Seite 145. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinAbstammungMensch1.djvu/159&oldid=- (Version vom 31.7.2018)