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misbilligen. Zu der Annahme, dass irgend eines der niederen Thiere diese Fähigkeit habe, haben wir keinen Grund. Wenn daher ein Neufundländer Hund ein Kind aus dem Wasser holt, oder wenn ein Affe sich in Gefahr begibt, um seinen Kameraden zu erretten, oder einen verwaisten Affen in sorgsame Pflege nimmt, so nennen wir dieses Benehmen nicht moralisch; beim Menschen dagegen, welcher allein mit Sicherheit als moralisches Wesen bezeichnet werden kann, werden Handlungen einer gewissen Classe moralische genannt, mögen sie mit Ueberlegung nach einem Kampf mit entgegenstehenden Beweggründen oder in Folge eines augenblicklichen Impulses durch den Instinct oder in Folge der Nachwirkung einer nach und nach erlangten Gewohnheit ausgeführt werden.

Doch kehren wir zu unserem zunächst vorliegenden Gegenstand zurück. Obgleich manche Instincte kräftiger sind als andere und damit zu entsprechenden Handlungen führen, so kann doch nicht behauptet werden, dass die socialen Instincte beim Menschen (mit Einschluss der Ruhmliebe und der Furcht vor Tadel) gewöhnlich stärker sind oder durch langandauernde Gewohnheit stärker geworden sind, als z. B. die Instincte der Selbsterhaltung, des Hungers, der Lust, der Rache u. s. w. Warum bereut der Mensch, – selbst wenn er sich Mühe gibt, jedes solche Gefühl der Reue zu verbannen –, dass er mehr dem einen natürlichen Impuls gefolgt ist als dem andern, und ferner, warum fühlt er, dass er sein Betragen bereuen sollte? In dieser Beziehung weicht der Mensch völlig von den niederen Thieren ab, doch können wir, wie ich glaube, die Ursache dieser Verschiedenheit mit einem ziemlichen Grade von Deutlichkeit erkennen.

In Folge der Lebendigkeit seiner geistigen Fähigkeiten kann der Mensch es nicht vermeiden zu reflectiren: vergangene Eindrücke und Bilder durchziehen unaufhörlich mit Deutlichkeit seine Seele. Bei denjenigen Thieren nun, welche beständig in Massen vereinigt leben, sind die socialen Instincte fortwährend gegenwärtig und ausdauernd. Derartige Thiere sind immer bereit, das Warnungssignal auszustossen, die Genossenschaft zu vertheidigen und ihren Genossen in Uebereinstimmung mit ihren Gewohnheiten zu helfen; sie fühlen zu allen Zeiten, ohne den Antrieb einer speciellen Leidenschaft oder Begierde, einen gewissen Grad von Liebe und Sympathie für sie; sie sind unglücklich, wenn sie lange von ihnen getrennt sind, und wieder in ihrer Gesellschaft immer glücklich. Dasselbe gilt auch für uns selbst. Selbst wenn wir


Empfohlene Zitierweise:
Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, I. Band. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1875, Seite 144. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinAbstammungMensch1.djvu/158&oldid=- (Version vom 31.7.2018)