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nachgegeben und sein Leben nicht gewagt hat, um das eines Mitgeschöpfes zu retten, oder warum bereut er es, in Folge peinlichen Hungers Nahrung gestohlen zu haben?

An erster Stelle ist es offenbar, dass beim Menschen die instinctiven Impulse verschiedene Grade der Mächtigkeit besitzen. Ein Wilder wird sein Leben wagen, um das eines Mitgliedes seiner Genossenschaft zu retten, wird aber in Bezug auf einen Fremden völlig indifferent bleiben; eine junge furchtsame Mutter wird vom mütterlichen Instinct getrieben, ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, sich der grössten Gefahr um ihres Kindes willen auszusetzen, aber nicht um eines blossen Mitgeschöpfes willen. Trotzdem hat schon mancher Mann oder selbst Knabe, welcher noch niemals zuvor sein Leben für ein anderes wagte, in dem aber Muth und Sympathie schön entwickelt waren, mit Hintansetzung des Instincts der Selbsterhaltung sich augenblicklich in den Strom gestürzt, um einen dem Ertrinken nahen Mitmenschen, wenn es auch ein Fremder war, zu retten. In diesem Falle wird der Mensch durch dasselbe instinctive Motiv getrieben, welches den kleinen heroischen americanischen Affen, den ich früher erwähnte, veranlasste, den grossen und von ihm gefürchteten Pavian anzugreifen, um seinen Wärter zu retten. Derartige Handlungen, wie die ebengenannten, scheinen das einfache Resultat davon zu sein, dass die socialen oder mütterlichen Instincte stärker sind als irgend welche andere Instincte oder Motive; denn um Folge einer Ueberlegung oder Folge eines Gefühls von Freude oder Schmerz sein zu können, werden sie zu augenblicklich ausgeübt, wennschon die Nichtausübung ein Unbehagen veranlassen würde. Andererseits kann aber wohl in einem furchtsamen Menschen der Instinct der Selbsterhaltung so stark sein, dass er unfähig wäre, sich dahin zu bringen, irgend eine solche Gefahr zu laufen, vielleicht selbst dann nicht, wenn es das Leben seines eigenen Kindes gilt.

Ich weiss wohl, dass manche Personen behaupten, Handlungen, welche durch einen plötzlichen Antrieb zur Ausführung gelangen, wie in den obenerwähnten Fällen, gehörten nicht in den Bereich des moralischen Gefühls und könnten daher nicht moralisch genannt werden. Dieselben beschränken diesen Ausdruck auf Handlungen, welche mit Ueberlegung und nach einem siegreichen Wettstreit über entgegenstehende Begierden ausgeführt werden, oder auf Handlungen, welche Folgen irgend eines edlen Motivs sind. Es scheint indessen kaum möglich zu sein, eine scharfe Unterscheidungslinie dieser Art zu


Empfohlene Zitierweise:
Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, I. Band. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1875, Seite 142. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinAbstammungMensch1.djvu/156&oldid=- (Version vom 31.7.2018)