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häufig ihre zarten Jungen verlassen und sie elendiglich in ihren Nestern umkommen lassen.[1]

Wir können wohl sehen, dass ein instinctiver Antrieb, wenn er in irgendwelcher Weise einer Species vorteilhafter ist als irgend ein anderer oder entgegengesetzter Instinct, durch natürliche Zuchtwahl der kräftigere von beiden werden kann; denn diejenigen Individuen, welche ihn am stärksten entwickelt haben, werden in grösserer Zahl andere überleben. Ob dies aber der Fall ist mit dem Wanderinstinct in Vergleich mit dem mütterlichen, liesse sich wohl bezweifeln. Die grössere Beständigkeit und ausdauernde Wirkung des Ersteren zu gewissen Zeiten des Jahres und zwar während des ganzen Tags, dürften ihm eine Zeitlang eine überwiegende Kraft verleihen.

Der Mensch ein sociales Thier. — Die meisten Leute geben zu, dass der Mensch ein sociales Wesen ist. Wir sehen dies in seiner Abneigung gegen Einsamkeit und in seinem Wunsch nach Gesellschaft noch über die seiner eigenen Familie hinaus. Einzelnhaft ist eine der schärfsten Strafarten, welche über Jemand verhängt werden kann. Einige Schriftsteller vermuthen, dass der Mensch im Urzustande in einzelnen Familien lebte; wenn aber auch heutigen Tages einzelne Familien oder nur zwei oder drei die einsamen Gefilde irgend eines wilden Landes durchziehen, so stehen sie doch immer, soweit ich es nur ermitteln konnte, mit anderen, denselben Bezirk bewohnenden Familien in freundschaftlichem Verkehr. Derartige Familien treffen gelegentlich zu Berathschlagungen zusammen und vereinigen sich zur gemeinsamen Vertheidigung. Darin, dass die, benachbarte Bezirke bewohnenden Stämme


  1. Diese Thatsache wurde nach der Angabe L. Jenyns’s (s. dessen Ausgabe von White’s Natural History of Selborne. 1853, p. 204) zuerst von dem berühmten Jenner berichtet in den Philos. Transact. für 1824, und ist seit jener Zeit von mehreren Beobachtern, besonders von Mr. Blackwall bestätigt worden. Der letztgenannte sorgfältige Beobachter untersuchte zwei Jahre hintereinander spät im Herbst sechsunddreissig Nester. Er fand, dass zwölf davon junge todte Vögel, fünf dem Ausschlüpfen nahe Eier und drei nur eine Zeitlang bebrütete Eier enthielten. Es werden auch viele Vögel, welche zu einem so langen Fluge noch nicht alt genug sind, gleichfalls aufgegeben und zurückgelassen, s. Blackwall, Researches in Zoology. 1834, p. 108, 118. Für weitere Beweise, deren kaum welche nöthig sind, s. Leroy, Lettres philos. 1802, p. 217. In Bezug auf Schwalben s. Gould’s Introduction to the Birds of Great Britain, 1823, p. 5. Aehnliche Fälle sind von Mr. Adams auch in Canada beobachtet worden; s. Popular Science Review, July, 1873. p. 283.
Empfohlene Zitierweise:
Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, I. Band. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1875, Seite 139. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinAbstammungMensch1.djvu/153&oldid=- (Version vom 31.7.2018)