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der Gesellschaft geschieht. Diese verschiedenen subordinirten Sätze müssen nun erörtert werden und einige von ihnen in ziemlicher Ausführlichkeit.

Es dürfte zweckmässig sein, zunächst voranzuschicken, dass ich nicht behaupten will, dass jedes streng sociale Thier, wenn nur seine intellectuellen Fähigkeiten zu gleicher Thätigkeit und gleicher Höhe wie beim Menschen entwickelt wären, genau dasselbe moralische Gefühl wie der Mensch erhalten würde. In derselben Weise wie verschiedene Thiere ein gewisses Gefühl von Schönheit haben, trotzdem sie sehr verschiedene Gegenstände bewundern, können sie auch ein Gefühl von Recht und Unrecht haben, trotzdem sie durch dasselbe zu sehr verschiedenen Handlungsweisen veranlasst werden. Um einen extremen Fall anzuführen: wäre z. B. der Mensch unter genau denselben Zuständen erzogen wie die Stockbiene, so dürfte sich kaum zweifeln lassen, dass unsere unverheiratheten Weibchen es ebenso wie die Arbeiterbienen für eine heilige Pflicht halten würden, ihre Brüder zu tödten, und die Mütter würden suchen, ihre fruchtbaren Töchter zu vertilgen, und Niemand würde daran denken, dies zu verhindern.[1] Nichtsdestoweniger würde in unserem angenommenen Falle die Biene oder irgend ein anderes sociales Thier, wie es mir scheint, doch irgend ein Gefühl von Recht und Unrecht oder ein Gewissen erhalten. Denn jedes Individuum würde ein innerliches Gefühl von dem Besitze gewisser weniger starker und andauernder Instincte haben, so dass oft ein Kampf entstehen


  1. H. Sidgwick bemerkt in einer trefflichen Erörterung dieses Gegenstands (The Academy, 15. June, 1872, p. 231): „eine höher entwickelte Biene würde, wie wir überzeugt sein können, eine mildere Lösung der Bevölkerungsfrage anstreben“. Nach den Gewohnheiten vieler oder der meisten Wilden zu urtheilen, löst indessen der Mensch das Problem durch weiblichen Kindermord, Polyandrie und völlig freies Vermischen; es liesse sich daher wohl zweifeln, ob es eine mildere Methode sei. Miss Cobbe, welche über dasselbe Beispiel Erörterungen anstellt (Darwinism in Morals, in: Theological Review. Apr., 1872, p. 188—191) sagt, die Grundsätze der socialen Pflicht würden dadurch umgekehrt werden. Damit meint sie, wie ich vermuthe, dass die Erfüllung einer socialen Pflicht die Individuen zu schädigen streben würde; sie übersieht aber die Thatsache, welche sie ohne Zweifel zugeben wird, dass die Instincte der Biene zum Besten der Gemeinschaft erlangt worden sind. Sie geht so weit, dass sie sagt, wenn die in diesem Capitel vertheidigte Theorie der Moral jemals allgemein angenommen würde, „könne sie nicht umhin zu glauben, dass in der Stunde ihres Triumphs die Tugend der Menschheit zu Grabe geläutet wird!“ Es steht zu hoffen, dass der Glaube an die Dauer der Tugend auf dieser Erde nicht bei vielen Menschen an einem so schwachen Faden hängt.
Empfohlene Zitierweise:
Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, I. Band. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1875, Seite 128. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinAbstammungMensch1.djvu/142&oldid=- (Version vom 31.7.2018)