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Nichtsdestoweniger kann auch eine lange Reihenfolge von lebendigen und zusammenhängenden Ideen durch die Seele ziehen, ohne die Hülfe von irgend einer Form von Sprache, wie wir aus den langen Träumen von Hunden schliessen können. Wir haben auch gesehen, dass Thiere im Stande sind, bis zu einem gewissen Grade nachzudenken, und dies offenbar ohne die Hülfe der Sprache. Der innige Zusammenhang zwischen dem Gehirn, wie es jetzt bei uns entwickelt ist, und der Fähigkeit der Sprache zeigt sich deutlich in jenen merkwürdigen Fällen von Gehirnerkrankung, bei denen die Sprache besonders afficirt ist, wie in dem Falle, wo das Vermögen, sich substantiver Wörter zu erinnern, verloren ist, während andere Wörter völlig correct gebraucht werden können, oder wo Substantiva einer gewissen Classe, oder alle Substantiva und Eigennamen mit Ausnahme ihrer Anfangsbuchstaben vergessen sind[1]. In der Annahme, dass der fortgesetzte Gebrauch der Stimmorgane und der geistigen Organe zu erblichen Veränderungen in ihrem Bau und ihren Functionen führe, liegt nicht mehr Unwahrscheinliches als in der gleichen Annahme für die Form der Handschrift, welche zum Theil von der Bildung der Hand, zum Theil von der Geistesbeschaffenheit abhängt; und die Form der Handschrift wird sicher vererbt[2].

Mehrere Schriftsteller, besonders Prof. Max Müller[3], haben neuerdings behauptet, der Gebrauch der Sprache setze das Vermögen voraus, allgemeine Begriffe zu bilden; und dass, da vermeintlich kein Thier dies Vermögen besitze, hierdurch eine unübersteigliche Schranke zwischen ihnen und dem Menschen gezogen sei[4]. Was die Thiere betrifft,


  1. Viele merkwürdige Fälle der Art sind mitgetheilt worden. Dr. Bateman, on Aphasia, 1870, p. 27, 31, 53, 100 etc. s. auch Inquiries concerning the Intellectual Powers von Abercrombie 1838, p. 150.
  2. Ueber das Variiren der Thiere und Pflanzen im Zustande der Domestication. 2. Aufl. Bd. 2, S. 6.
  3. Lectures on „Mr. Darwin’s Philosophy of Language“, 1873.
  4. Das Urtheil eines so ausgezeichneten Philologen wie Prof. Whitney wird in Bezug auf diesen Punkt viel mehr Gewicht haben, als irgend etwas was ich sagen könnte. Von Bleek’s Ansichten sprechend bemerkt er (Oriental and Linguistic Studies, 1873, p 297): „Weil im Grossen und Ganzen die Sprache das nothwendige Hülfsmittel des Gedankens, unentbehrlich zur Entwickelung des Denkvermögens, zur Deutlichkeit und Mannichfaltigkeit und Complexität der Begriffe, zur vollen Herrschaft des Bewusstseins ist, deshalb möchte er mit Unrecht den Gedanken ohne Sprache absolut unmöglich machen, die Fähigkeit mit ihrem Werkzeuge identificirend. Er könnte ebenso vernünftig behaupten wollen, die menschliche Hand könne nicht ohne ein Werkzeug handeln. Von einer solchen Theorie ausgehend kommt er Müller’s schlimmsten Paradoxen ziemlich nahe, dass ein Kind (in-fans, nicht sprechend) kein menschliches Wesen ist, und dass Taubstumme nicht eher in den Besitz der Vernunft gelangen, bis sie gelernt haben, ihre Finger zur Nachahmung gesprochner Worte zu benutzen“. Max Müller gibt (Lectures on Mr. Darwin’s Philosophy of Language, 1873, dritte Vorlesung) den folgenden Aphorismus in cursivem Druck: „Es gibt keinen Gedanken ohne Worte, ebensowenig wie es Worte ohne Gedanken gibt“. Was für eine merkwürdige Definition muss hier das Wort „Gedanken“ erhalten haben!
Empfohlene Zitierweise:
Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, I. Band. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1875, Seite 114. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinAbstammungMensch1.djvu/128&oldid=- (Version vom 31.7.2018)