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Marie. Eine edle grosse Seele. Sie haben den Brief gelesen, den er schrieb, als er mein Unglück erfuhr. Jeder Buchstabe davon steht in meinem Herzen. Wenn Du schuldig bist, schreibt er, so erwarte keine Vergebung; über dein Elend soll noch die Verachtung eines Bruders auf Dir schwer werden, und der Fluch eines Vaters. Bist du unschuldig! O dann alle Rache, alle, alle glühende Rache auf den Verräther! – Ich zittere! Er wird kommen. Ich zitere, nicht für mich, ich stehe vor Gott in meiner Unschuld. – Ihr müßt, meine Freunde – Ich weis nicht was ich will! O Clavigo.

Sophie. Du hörst nicht! Du wirst Dich umbringen.

Marie. Ich will stille seyn! Ja ich will nicht weinen. Mich dünkt auch, ich hätte keine Thränen mehr! Und warum Thränen? Es ist mir nur leid, daß ich euch das Leben sauer mache. Denn im Grunde, worüber beklag ich mich. Ich habe viel Freude gehabt, so lang unser alter Freund noch lebte. Clavigos Liebe hat mir viel Freude gemacht, vielleicht mehr als ihm die meinige. Und nun – Was ist’s nun weiter? Was ist an mir gelegen?

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Johann Wolfgang von Goethe: Clavigo. Ein Trauerspiel. Weygandsche Buchhandlung, Leipzig 1774, Seite 12. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Clavigo._Ein_Trauerspiel_(Goethe)_1774_-_012.jpg&oldid=- (Version vom 5.1.2019)