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Futter würde hin sie legen
Alle Abend, alle Morgen,

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Und dir schiens ein selig Leben,

Ging zu beten früh die Fromme,
Flögst du mit ihr zur Kapelle,
Die am Felsen höher oben;

Und wenn sie aus vollem Herzen

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Unter Tränen spräch die Worte:

Herr, ach schau zu meinem Herzen,
Es ist ganz von Schmerz umdornet!

Herr, um deines Sohnes Schmerzen
Richte auf den Vater Kosme,

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Laß ihn nicht verzweifelnd sterben,

Öffne ihm die Gnadenpforte:

Dann wär deine Lust zu Ende,
Deine Seligkeit zerronnen,
Denn nicht ferne von den Menschen

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Überall das Elend wohnet.


Und es ist kein öder Felsen
Und kein Bächlein oder Bronnen,
Keine waldumschlossne Stelle
Unterm Monde und der Sonne,

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Wo ein Mensch das Licht gesehen,

Wo nicht wär gesündigt worden,
Wo nicht wären bittre Tränen
Vor dem Herrn vergossen worden.

Und du würdest Abschied nehmen

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Vor der nächsten Morgensonne,

Sängst noch einmal ihr am Fenster,
Flögst dann weiter unbesorget. –

Empfohlene Zitierweise:
Clemens Brentano: Romanzen vom Rosenkranz. Hrsg. von Alphons Maria von Steinle. Trier: Petrus-Verlag G.m.b.H., 1912, Seite 278. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Brentano_Romanzen_vom_Rosenkranz_278.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)