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umgedeutet. Nicht mehr die Zerstörung Jerusalems, sondern die Verfolgung der Christen ist ihm die Sünde Roms. Nero aber ist das aus dem Abgrund der Hölle wiederkehrende Tier, die zehn Könige sind auch vielleicht nicht mehr die Parther, sondern irgendwelche gespenstische Gehülfen Neros. Und nicht mehr die Zerstörung Roms ist ihm die Hauptsache, sondern der Kampf des Tieres mit dem Lamm, den er uns 19,11 in seiner ganzen Großartigkeit und Furchtbarkeit schildern wird. Aber auch die Zählung der sieben römischen Kaiser hat er einfach übernommen. Denn wenn er unter Domitian schrieb, so will jene Zählung in keiner Weise mehr recht passen. Da er das ὁ εἷς ἔστιν übernahm, so muß für ihn Domitian der sechste Kaiser gewesen sein, während auch er den siebenten und achten noch von der Zukunft erwartete. Das kommt aber nur bei einer sehr künstlichen Zählung heraus, nämlich wenn man von Nero (exclusive) an zählt: Galba, Otho, Vitellius, Vespasian, Titus, Domitian. Die Zählung ist künstlich, aber bei einer solchen Herübernahme geht es ohne Künstlichkeit nicht ab. Aber vielleicht hat der Apok. überhaupt nicht so genau über die Einzelheiten nachgedacht, sondern einfach tradiert. Dazu daß er mit V. 10-11 nicht so viel anzufangen wußte, würde auch die Annahme stimmen, daß er erst in V. 9 die Deutung der sieben Häupter auf die sieben Berge hinzufügte.

Dagegen ist auf das bestimmteste die Annahme zurückzuweisen, daß für den Apok. letzter Hand das achte Haupt, das doch eines von den sieben sein soll, Domitian sei, daß also unser Apok. geglaubt habe, in Domitian sei die Weissagung von Nero redivivus erfüllt. Als das gesichertste Ergebnis unsrer ganzen bisherigen Untersuchung erschien vielmehr dies, daß der Apok. eine zwar nahe, aber doch furchtbar geheimnisvolle Zukunft weissagt. Ihm ist das Tier, dessen Todeswunde geheilt wurde, das wie das Lamm „geschlachtet“ und doch wieder aufgelebt ist, das aus dem Abgrund aufsteigen wird, um in die Verdammnis zu fahren, eine grausig, gespenstische, übermenschliche Erscheinung der Zukunft, nicht ein gegenwärtiger römischer Kaiser. Und dieser Apok. sollte die wilde Volkssage in rationalistischer Weise umgedeutet und den Domitian zum Nero redivivus gemacht haben! Und das Tier, das nach ihm mit den zwölf Königen gegen das Lamm kämpft, sollte Domitian gewesen sein? Und in der großen Messiasschlacht 19,11ff. soll man sich Domitian als Gegner dessen, der mit seinen Scharen auf weißem Roß dahersprengt, denken? Man raubt m. E. unsrer Apokalypse ihren Stimmungsgehalt, wenn man ihr jene banale rationalistische Umdeutung, die sich übrigens sonst nirgends nachweisen läßt, zuschreibt. Der Apok. hat es in seiner Weissagung mit überirdischen höllischen und himmlischen Gewalten zu tun. Die Deutung auf Domitian ist einfach stilwidrig[1].

Zum Schluß mag noch die Frage erwogen werden, ob etwa hinter der


  1. Wenn J. Weiß zwar den Urapokalyptiker wirklich für einen Propheten hält, den Apok. letzter Hand aber nur für einen Herausgeber und Deuter der Weissagung, so ist demgegenüber abgesehen von dem Recht dieser Scheidung überhaupt (s. o. S. 127f.), gerade darauf Gewicht zu legen, daß der Apok. letzter Hand, d. h. der, welcher den Kampf gegen den Kaiserkultus führt, sich als ein die Zukunft schauender Prophet gibt (s. o. S. 138).
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Wilhelm Bousset: Die Offenbarung Johannis. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1906, Seite 416. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Bousset-S416.png&oldid=- (Version vom 31.7.2018)