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zum zweiten Mal nach Betlehem gekommen sei, habe jene ihm erzählt, daß inzwischen das Kind durch Winde und Stürme fortgerissen sei. — Aber wie schon oben angedeutet ist, deckt sich diese Erzählung doch keineswegs mit dem Mythus von Apk 12. Einigermaßen stimmen beide nur in dem einen Zug überein, daß das Kind (von Winden) entrückt wird. Aber hier wird es, wie es scheint, geraubt und dort gerettet. Das Sonnenweib dort ist hier eine irdische Messiasmutter; vom Drachen, seinem Kampf gegen die Sterne, seinem Sturm in den Himmel, von der Flucht des Weibes in die Wüste ist hier nicht die Rede. — Teilweise an Vischer lehnt sich die Deutung Wellhausens an. W. nimmt an, daß das vorliegende Stück in den letzten Zeiten Jerusalems, als die Römer schon im Lande standen, geschrieben sei. Das Weib sei der „sogenannte Rest“ (שארית) des jüdischen Gemeinwesens, der sich durch die Flucht rette. Das Stück stamme aus pharisäischen Kreisen, die sich damals dem letzten Entscheidungskampf durch die Flucht entzogen. Die wunderbare Anschauung von der Geburt des Messias sei durch eine Kombination zweier messianischer Überlieferungen entstanden, nach deren einer der Messias auf Erden geboren werden, nach deren anderer er vom Himmel kommen sollte. Die Vermittelung zwischen beiden Gedanken gebe die hier vorliegende Annahme der Entrückung. Das Schlußstück der Apk., das vom wiederkehrenden Messias gehandelt, sei dann abgebrochen. Es ist zuzugeben, daß bei dieser Annahme der Zug von der Flucht des Weibes einigermaßen gut erklärt ist. Auch dann liegt freilich noch die Inkonzinnität vor, daß das Weib zunächst die israelitische Gemeinde, die Mutter des Messias ist und dann nach der Geburt desselben auch den Rest der Gläubigen bedeuten soll ohne den Messias. — Aber es erheben sich auch große Bedenken gegen die Deutung der merkwürdigen Schilderung von der Geburt des Messias. Einmal ist eine solche Kombination der beiden Messiasbilder in so früher Zeit durchaus nicht nachweisbar[1]. Auch hinsichtlich der oben zitierten Talmudstelle ist die Annahme nicht gesichert, daß der Zug der Entrückung des Messias aus einer Kombination der beiden verschiedenen Messiasbilder entstanden sei. Es kann hier auch eine einfache, das Judentum und seine Erwartungen ironisierende Spotterzählung vorliegen: Mit der Geburt des Messias sei es nur eitel Wind. Und wenn wir eine solche Kombination als möglich einmal zugeben, wozu dann der ganze in Apk 12 aufgebotene groteske Apparat? Die Annahme einer einfachen Entrückung genügte. Wie wenig ist von dem


  1. Die jüdische Idee von dem doppelten Erscheinen des Messias scheint erst in ziemlich später Zeit entstanden zu sein. Justin, ein genauer Kenner jüdischer Haggada, weiß noch nichts davon, obwohl er gerade auf dem Gebiet jüdisch messianischer Vorstellungen gut orientiert ist. Vgl. Dial. 8: Χριστὸς δὲ εἰ καὶ γεγέννηται καί ἐστί που, ἄγνωστός ἐστι καὶ οὐδὲ αὐτὸς ἑαυτὸν ἐπίσταται οὐδὲ ἔχει δύναμιν, μέχρις ἂν ἐλθὼν Ἱλίας χρίσῃ αὐτὸν καὶ φανερὸν πᾶσι ποιήσῃ (vgl. 110 εἰ δὲ καὶ ἐληλυθέναι λέγουσιν, οὐ γινώσκεται, ὅς ἐστιν), dazu vgl. Joh 7,27; näher unsrer Erzählung kommt schon Targum Jonathan zu Micha 4,8: „Du Gesalbter Israels, der Du verborgen bist, wegen der Sünden des Volkes von Zion, Dir wird das Reich zu Teil“ (Gfrörer II 223). — Vielleicht ist erst in der Polemik mit den Christen die Idee von dem doppelten Erscheinen des Messias auf jüdischer Seite entstanden. Auf eine spätere Zeit weist auch der Name des Messias, Menachem. Vgl. Bousset, Religion des Judentums 218f.
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Wilhelm Bousset: Die Offenbarung Johannis. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1906, Seite 348. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Bousset-S348.png&oldid=- (Version vom 31.7.2018)