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Walter Benjamin: Das Leben der Studenten. In: Der Neue Merkur 2, S. 727–737

hat das freie Studententum nicht durchdacht, insofern ist es bitteres historisches Recht, daß bei den offiziellen Gelegenheiten der Korpsstudent als unwürdiger Repräsentant der studentischen Tradition erscheint. Denn in den letzten Fragen bringt der Freistudent gar keinen ernsteren Willen, keinen höheren Mut auf als das Korps, und seine Wirksamkeit ist fast gefährlicher als die des Korps, weil täuschender und irreführender: indem diese bourgeoise, disziplinlose und kleinliche Richtung den Ruf des Kämpfers und Befreiers im Leben der Universität beansprucht. Wer über die Studentenschaft das strengste und verneinende Urteil spricht, der tut auch der Freistudentenschaft nicht unrecht, der schließt sie in dies Urteil ausdrücklich ein. Das heutige Studententum ist keineswegs an den Stellen zu finden, wo um den geistigen Aufstieg der Nation gerungen wird, keineswegs auf dem Felde seines neuen Kampfes um die Kunst, keineswegs an der Seite seiner Schriftsteller und Dichter, keineswegs an den Quellen religiösen Lebens. Nämlich das deutsche Studententum als solches – das existiert nicht. Und dies alles nicht etwa, indem es nicht jeweils die neuesten, „modernsten“ Strömungen mitmacht, sondern indem es als Studentenschaft alle diese Bewegungen in ihrer Tiefe überhaupt ignoriert, indem diese Studentenschaft ständig und ständig im Schlepptau der öffentlichen Meinung, in ihrem breitesten Fahrwasser sich dahinziehen läßt, indem sie das von allen Parteien und Bünden umschmeichelte und verdorbene Kind ist, von jedem gelobt, weil jedem irgendwie gehörig, aber ganz und gar ohne den Adel, der bis vor hundert Jahren deutsches Studententum sichtbar machte und es an sichtbare Stellen als Verteidiger des besten Lebens treten ließ.

Jene Verfälschung des Schöpfergeistes in Berufsgeist, die wir überall am Werke sehen, hat die Hochschule ganz ergriffen und sie vom unbeamteten schöpferischen Geistesleben isoliert. Die kastenhafte Verachtung des staatsfremden, oft staatsfeindlichen freien Gelehrten- und Künstlertums ist hiervon ein schmerzhaft deutliches Symptom. Einer der berühmtesten deutschen Hochschullehrer sprach vom Katheder über „die Kaffeehausliteraten, nach denen das Christentum schon lange abgewirtschaftet habe“. Ton und Richtigkeit dieser Worte halten sich die Wage. Deutlicher als gegen die Wissenschaft, die durch „Anwendbarkeit“ unmittelbar staatliche Tendenzen vortäuscht, muß eine so organisierte Hochschule ganz und gar mit baren Händen den Musen gegenüberstehen. Sie muß, indem sie auf den Beruf hinlenkt, notwendig das unmittelbare Schaffen als Form der Gemeinschaft verfehlen. Wirklich ist die feindselige Fremdheit, die Verständnislosigkeit der Schule gegen das Leben, welches die

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Walter Benjamin: Das Leben der Studenten. In: Der Neue Merkur 2, S. 727–737. Müller, München und Berlin 1915, Seite 732. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Benjamin_Das_Leben_der_Studenten.djvu/6&oldid=- (Version vom 31.7.2018)