Das Leben der Studenten
Es gibt eine Geschichtsauffassung, die im Vertrauen auf die Unendlichkeit der Zeit nur das Tempo der Menschen und Epochen unterscheidet, die schnell oder langsam auf der Bahn des Fortschritts dahinrollen. Dem entspricht die Zusammenhanglosigkeit, mangelnde Präzision und Strenge der Forderung, die sie an die Gegenwart stellt. Die folgende Betrachtung geht dagegen auf einen bestimmten Zustand, in dem die Historie als in einem Brennpunkt gesammelt ruht, wie von jeher in den utopischen Bildern der Denker. Die Elemente des Endzustandes liegen nicht als gestaltlose Fortschrittstendenz zutage, sondern sind als gefährdetste, verrufenste und verlachte Schöpfungen und Gedanken tief in jeder Gegenwart eingebettet. Den immanenten Zustand der Vollkommenheit rein zum absoluten zu gestalten, ihn sichtbar und herrschend in der Gegenwart zu machen, ist die geschichtliche Aufgabe. Dieser Zustand ist aber nicht mit pragmatischer Schilderung von Einzelheiten (Institutionen, Sitten usw.) zu umschreiben, welcher er sich vielmehr entzieht, sondern er ist nur in seiner metaphysischen Struktur zu erfassen, wie das messianische Reich oder die französische Revolutionsidee. Die jetzige historische Bedeutung der Studenten und der Hochschule, die Form ihres Daseins in der Gegenwart, verlohnt also nur als Gleichnis, als Abbild eines höchsten, metaphysischen, Standes der Geschichte beschrieben zu werden. Nur so ist sie verständlich und möglich. Solche Schilderung ist kein Aufruf oder Manifest, die eines wie das andere wirkungslos geblieben sind, aber sie zeigt die Krisis auf, die im Wesen der Dinge liegend zur Entscheidung führt, der die Feigen unterliegen und die Mutigen sich unterordnen. Der einzige Weg, über die historischen Stelle des Studententums und der Hochschule zu handeln, ist das System. Solange mancherlei Bedingungen hierzu versagt sind, bleibt nur, das Künftige aus seiner verbildeten Form im Gegenwärtigen erkennend zu befreien. Dem allein dient die Kritik.
An das Leben der Studenten tritt die Frage nach seiner bewußten Einheit heran. Sie steht am Anfang, denn es fördert nicht, im Studentenleben Probleme zu unterscheiden – Wissenschaft, Staat, Tugend –, wenn ihm der Mut fehlt, sich überhaupt zu unterwerfen. Das Auszeichnende im Studentenleben ist in der Tat der Gegenwille, sich einem Prinzip zu unterwerfen, mit der Idee sich zu durchdringen. Der Name der Wissenschaft dient vorzüglich, eine tiefeingesessene, verbürgerte Indifferenz zu verbergen. Das studentische Leben an der Idee der Wissenschaft messen, bedeutet keineswegs Panlogismus, Intellektualismus – wie man zu fü[r]chten geneigt ist –, sondern das ist immanente Kritik, da zu allermeist die Wissenschaft als der eherne Wall der Studenten gegen „fremde“ Ansprüche aufgeführt wird. Also es handelt sich um innere Einheit, nicht um Kritik von außen. Hier ist die Antwort gegeben mit dem Hinweis, daß für die allermeisten Studenten die Wissenschaft Berufsschule ist. Weil „Wissenschaft mit dem Leben nichts zu tun hat“, darum muß sie ausschließlich das Leben dessen gestalten, der ihr folgt. Zu den unschuldig-verlogensten Reservaten vor ihr gehört die Erwartung, sie müsse X und Y zum Berufe verhelfen. Der Beruf folgt so wenig aus der Wissenschaft, daß sie ihn sogar ausschließen kann. Denn die Wissenschaft duldet ihrem Wesen nach keine Lösung von sich, sie verpflichtet den Forschenden, in gewisser Weise immer als Lehrer, niemals zu den staatlichen Berufsformen des Arztes, Juristen, Hochschullehrers. Es führt zu nichts Gutem, wenn Institute, wo Titel, Berechtigungen, Lebens- und Berufsmöglichkeiten erworben werden dürfen, sich Stätten der Wissenschaft nennen. Der Einwand, wie der heutige Staat zu seinen Ärzten, Juristen und Lehrern kommen soll, erhellt hier nichts. Er zeigt nur die umwälzende Größe der Aufgabe: eine Gemeinschaft von Erkennenden zu gründen, an Stelle der Korporation von Beamteten und Studierten. Er zeigt nur, bis zu welchem Grade die heutigen Wissenschaften in der Entwicklung ihres Berufsapparates (durch Wissen und Fertigkeiten) von ihrem einheitlichen Ursprung in der Idee des Wissens abgedrängt sind, der ihnen ein Geheimnis, wenn nicht eine Fiktion geworden ist. Wem der heutige Staat das Gegebene ist und alles in der Linie seiner Entwicklung beschlossen, der muß das verwerfen; wenn er nur nicht Protektion und Unterstützung der „Wissenschaft“ vom Staate zu fordern wagt. Denn nicht die Übereinkunft der Hochschule mit dem Staate, die sich mit ehrlicher Barbarei nicht schlecht verstünde, zeugt von Verderbnis, sondern die Gewährleistung und Lehre von der Freiheit einer Wissenschaft, von der doch mit brutaler Selbstverständlichkeit erwartet wird, daß sie ihre Jünger zu sozialer Individualität und Staatsdienst führe. Keine Duldung freiester Anschauung und Lehre fördert, solange das Leben, das sie – nicht minder als die strengsten – mit sich führen, nicht gewährt ist und diese ungeheure Kluft naiv durch die Verbindung der Hochschule mit dem Staate geleugnet wird. Es ist mißverständlich, im einzelnen Forderungen zu entwickeln, solange der einzelnen in der Erfüllung doch der Geist ihrer Gesamtheit versagt bliebe, und nur dies soll als bemerkenswert und erstaunlich hervorgehoben werden: wie in der Institution des Gollegs als in einem ungeheuren Versteckspiel die Gesamtheiten der Lehrer und Schüler sich aneinander vorüberschieben und nie erblicken. Immer bleibt hier die Schülerschaft als unbeamtet hinter der Lehrerschaft zurück, und der rechtliche Grundbau der Universität, verkörpert im Kultusminister, den der Souverän, nicht die Universität, ernennt, ist eine halbverhüllte Korrespondenz der akademischen Behörde über die Häupter der Schüler (und in seltenen und glücklichen Fällen auch der Lehrer) mit den staatlichen Organen.
Die unkritische und widerstandslose Ergebung in diesen Zustand ist ein wesentlicher Zug im Studentenleben. Zwar haben die sogenannten freistudentischen Organisationen und andere sozial gerichtete einen scheinbaren Lösungsversuch unternommen. Dieser geht zuletzt auf völlige Verbürgerung der Institution, und nirgends hat sich deutlicher als an dieser Stelle gezeigt, daß die heutigen Studenten als Gemeinschaft nicht fähig sind, die Frage des wissenschaftlichen Lebens überhaupt zu stellen und seinen unlösbaren Protest gegen das Berufsleben der Zeit zu ergreifen. Weil sie überaus scharf die chaotische Vorstellung der Studenten von wissenschaftlichem Leben erklärt, darum ist die Kritik der freistudentischen und der ihr nahestehenden Ideen notwendig und soll mit Worten aus einer Rede geschehen, die vom Verfasser vor Studenten gehalten wurde, als er für die Erneuerung zu wirken gedachte. „Es besteht ein sehr einfaches und sicheres Kriterium, den geistigen Wert einer Gemeinschaft zu prüfen. Die Frage: findet die Totalität des Leistenden in ihr einen Ausdruck, ist der ganze Mensch ihr verpflichtet, ist der ganze Mensch ihr unentbehrlich? Oder ist jedem in gleichem Maße die Gemeinschaft entbehrlich als er ihr? Es ist so einfach, diese Frage zu stellen, so einfach, sie für die jetzigen Typen sozialer Gemeinschaft zu beantworten, und diese Antwort ist entscheidend. Jeder Leistende strebt nach Totalität, und der Wert einer Leistung liegt eben in ihr, wieweit das ganze und ungeteilte Wesen eines Menschen zum Ausdruck kommt. Die sozial begründete Leistung aber enthält, wie wir sie heute vorfinden, nicht die Totalität, sie ist etwas völlig Bruchstückhaftes und Abgeleitetes. Nicht selten ist die soziale Gemeinschaft der Platz, wo heimlich und in gleicher Gesellschaft gekämpft wird gegen höhere Wünsche, eigenere Ziele, tiefer eingeborene Entwicklung aber verdeckt wird. Die soziale Leistung des Durchschnittsmenschen dient in den allermeisten Fällen zur Verdrängung der ursprünglichen und unabgeleiteten Strebungen des inneren Menschen. Hier ist vom Akademiker die Rede; Menschen, die von Berufs wegen jedenfalls in irgendeiner inneren Verbindung mit geistigen Kämpfen, mit Skeptizismus und Kritizismus des Studierenden stehen. Diese Menschen bemächtigen sich eines völlig fremden, dem ihrigen weltweit abgelegenen Milieus als ihres Arbeitsplatzes, sie schaffen sich dort an entlegener Stelle eine begrenzte Tätigkeit, und die ganze Totalität solchen Tuns ist, daß es einer oft abstrakten Allgemeinheit zugute kommt. Keine innere und ursprüngliche Verbindung besteht zwischen dem geistigen Dasein eines Studierenden und seinem fürsorglichen Interesse für Arbeiterkinder, ja selbst für Studierende. Keine Verbindung als ein mit seiner eigenen und eigensten Arbeit unverbundener Pflichtbegriff, der ein mechanisiertes Gegenüber: ,hie Stipendiat des Volkes‘ – ,da soziale Leistung‘ setzt. Hier ist das Pflichtgefühl errechnet, abgeleitet und umgebogen, nicht aus der Arbeit selbst geflossen. Und jener Pflicht wird genügt: nicht im Leiden für erdachte Wahrheit, nicht im Ertragen aller Skrupel eines Forschenden, überhaupt nicht in irgendwie mit dem eigenen geistigen Leben verbundener Gesinnung. Sondern in einem krassen und zugleich höchst oberflächlichen Gegensatz, vergleichbar dem: ideell-materiell – theoretisch-praktisch. Jene soziale Arbeit mit einem Wort ist nicht die ethische Steigerung, sondern die ängstliche Reaktion eines geistigen Lebens. Nicht dies aber ist der eigentlichste und tiefste Einwand, daß die soziale Arbeit im wesentlichen unverbunden, abstrakt der eigentlich studentischen Arbeit gegenübersteht, darin ein höchster und verwerflichster Ausdruck des Relativismus, der jedes Geistige vom Physischen, jede Setzung von ihrem Gegenteil ängstlich und sorgsam begleitet sehen will – unvermögend synthetischen Lebens –, nicht dies ist das Entscheidende, daß ihre ganze Totalität in Wirklichkeit leere, allgemeine Nützlichkeit ist, sondern: daß trotz alledem sie die Geste und Haltung der Liebe fordert, wo nur mechanische Pflicht, ja oft nur ein Abbiegen stattfindet, um den Konsequenzen geistigen kritischen Daseins, dem der Student verpflichtet ist, auszuweichen. Denn wirklich ist er zu dem Zwecke Student, daß ihm das Problem des geistigen Lebens mehr am Herzen liegt, als die Praxis der sozialen Frage. Endlich – und dies ist ein untrügliches Zeichen: es ist von jeher studentisch sozialen Arbeit keine Erneuerung des Begriffs und der Schätzung sozialer Arbeit überhaupt erwachsen. Noch immer ist der Öffentlichkeit soziale Arbeit jenes eigentümliche Gemenge von Pflicht- und Gnadenakt des Einzelnen geblieben. Studenten haben ihre geistige Notwendigkeit nicht ausprägen, und daher nie eine wahrhaft ernst gesinnte Gemeinschaft in ihr gründen können, vielmehr nur eine pflichteifrige und interessierte. Jener Tolstoische Geist, der die ungeheure Kluft zwischen dem Bürger- und Proletarierdasein aufriß, der Begriff, daß den Armen dienen eine Menschheitsaufgabe, nicht Sache des Studenten im Nebenamt sei, der hier, gerade hier alles, oder nichts forderte, jener Geist, der in den Ideen der tiefsten Anarchisten und in christlichen Klostergemeinschaften erwuchs, dieser wahrlich ernste Geist einer sozialen Arbeit, der aber der kindlichen Versuche der Einfühlung in Arbeiter- und Volkspsyche nicht bedurfte, ist in studentischen Gemeinschaften nicht erwachsen. An der Abstraktheit und Beziehungslosigkeit des Objekts scheiterte der Versuch, den Willen einer akademischen Gemeinschaft zu einer sozialen Arbeitsgemeinschaft zu organisieren. Die Totalität des Wollenden fand keinen Ausdruck, weil sein Wille in dieser Gemeinschaft nicht auf die Totalität gerichtet sein konnte.“ Die symptomatische Bedeutung der freistudentischen Versuche, der christlich-sozialen und vieler anderen ist, daß sie den Zwiespalt, den die Universität mit dem Staatsganzen bildet, mikrokosmisch innerhalb der Universität wiederholen, im Interesse ihrer Staats- und Lebenstüchtigkeit. Sie haben nahezu allen Ego- und Altruismen, jedweder Selbstverständlichkeit des großen Lebens eine Freistatt in der Universität erobert; nur dem radikalen Zweifel, der grundlegenden Kritik und dem Notwendigsten: dem völligem Neuaufbau gewidmeten Leben ist sie versagt. Es steht in diesen Dingen nicht der Fortschrittswille der freien Studenten gegen die reaktionäre Macht der Korps. Wie es zu zeigen versucht wurde und wie es zudem aus der Uniformität und Friedfertigkeit des gesamten Zustandes der Universität hervorgeht, sind die freistudentischen Organisationen selbst weit entfernt, einen durchdachten geistigen Willen auf den Plan zu führen. In keiner der Fragen, die in dem vorliegenden Versuch zur Sprache kommen, hat sich bisher ihre Stimme entscheidend bemerkbar gemacht. Aus Unentschiedenheit bleibt sie unvernehmlich. Ihre Opposition verläuft in den geebneten Bahnen der liberalen Politik, die Entwicklung ihrer sozialen Prinzipien ist auf dem Niveau der liberalen Presse stehengeblieben. Die eigentliche Frage der Universität hat das freie Studententum nicht durchdacht, insofern ist es bitteres historisches Recht, daß bei den offiziellen Gelegenheiten der Korpsstudent als unwürdiger Repräsentant der studentischen Tradition erscheint. Denn in den letzten Fragen bringt der Freistudent gar keinen ernsteren Willen, keinen höheren Mut auf als das Korps, und seine Wirksamkeit ist fast gefährlicher als die des Korps, weil täuschender und irreführender: indem diese bourgeoise, disziplinlose und kleinliche Richtung den Ruf des Kämpfers und Befreiers im Leben der Universität beansprucht. Wer über die Studentenschaft das strengste und verneinende Urteil spricht, der tut auch der Freistudentenschaft nicht unrecht, der schließt sie in dies Urteil ausdrücklich ein. Das heutige Studententum ist keineswegs an den Stellen zu finden, wo um den geistigen Aufstieg der Nation gerungen wird, keineswegs auf dem Felde seines neuen Kampfes um die Kunst, keineswegs an der Seite seiner Schriftsteller und Dichter, keineswegs an den Quellen religiösen Lebens. Nämlich das deutsche Studententum als solches – das existiert nicht. Und dies alles nicht etwa, indem es nicht jeweils die neuesten, „modernsten“ Strömungen mitmacht, sondern indem es als Studentenschaft alle diese Bewegungen in ihrer Tiefe überhaupt ignoriert, indem diese Studentenschaft ständig und ständig im Schlepptau der öffentlichen Meinung, in ihrem breitesten Fahrwasser sich dahinziehen läßt, indem sie das von allen Parteien und Bünden umschmeichelte und verdorbene Kind ist, von jedem gelobt, weil jedem irgendwie gehörig, aber ganz und gar ohne den Adel, der bis vor hundert Jahren deutsches Studententum sichtbar machte und es an sichtbare Stellen als Verteidiger des besten Lebens treten ließ.
Jene Verfälschung des Schöpfergeistes in Berufsgeist, die wir überall am Werke sehen, hat die Hochschule ganz ergriffen und sie vom unbeamteten schöpferischen Geistesleben isoliert. Die kastenhafte Verachtung des staatsfremden, oft staatsfeindlichen freien Gelehrten- und Künstlertums ist hiervon ein schmerzhaft deutliches Symptom. Einer der berühmtesten deutschen Hochschullehrer sprach vom Katheder über „die Kaffeehausliteraten, nach denen das Christentum schon lange abgewirtschaftet habe“. Ton und Richtigkeit dieser Worte halten sich die Wage. Deutlicher als gegen die Wissenschaft, die durch „Anwendbarkeit“ unmittelbar staatliche Tendenzen vortäuscht, muß eine so organisierte Hochschule ganz und gar mit baren Händen den Musen gegenüberstehen. Sie muß, indem sie auf den Beruf hinlenkt, notwendig das unmittelbare Schaffen als Form der Gemeinschaft verfehlen. Wirklich ist die feindselige Fremdheit, die Verständnislosigkeit der Schule gegen das Leben, welches die Kunst bedingt, deutbar als Ablehnung des unmittelbaren, nicht aufs Amt bezogenen Schaffens. Ganz von innen heraus erscheint dies in der Unmündigkeit und Schülerhaftigkeit des Studenten. Vom ästhetischen Gefühl aus ist vielleicht das Auffallendste und Peinigendste an der Erscheinung der Hochschule die mechanische Reaktion, mit der die Hörerschaft dem Vortragenden folgt. Dies Maß von Rezeptivität könnte nur durch eine wahrhaft akademische oder sophistische Kultur des Gesprächs aufgewogen werden. Davon sind auch die Seminarien durchaus entfernt, die sich vorzüglich ebenso der Vortragsform bedienen, wobei es wenig verschlägt, ob Lehrer oder Schüler sprechen. Die Organisation der Hochschule beruht nicht mehr auf der Produktivität der Studenten, wie es im Geiste ihrer Gründer lag. Sie dachten den Studenten wesentlich als Lehrer und Schüler zugleich; als Lehrer, weil Produktivität gänzliche Unabhängigkeit bedeutet, Hinblick auf die Wissenschaft, nicht mehr auf den Lehrenden. Wo die beherrschende Idee des Studentenlebens Amt und Beruf ist, kann sie nicht Wissenschaft sein. Sie kann nicht mehr in der Widmung an eine Erkenntnis bestehen, von der zu fürchten ist, daß sie vom Wege der bürgerlichen Sicherheit abführt. Sie kann so wenig in der Widmung an die Wissenschaft bestehen, als in der Hingabe des Lebens an eine jüngere Generation. Und doch ist dieser Beruf: zu lehren – wenn auch unter ganz anderen Formen als heutigen – mit jeder eigensten Erfassung der Wissenschaft geboten. Solche gefahrvolle Hingabe an Wissenschaft und Jugend muß als Fähigkeit zu lieben schon im Studenten leben und die Wurzel seines Schaffens sein. Dagegen steht sein Leben im Gefolge der Alten, er lernt dem Lehrer seine Wissenschaft ab, ohne ihm im Beruf zu folgen. Er verzichtet leichten Mutes auf die Gemeinschaft, die ihn mit den Schaffenden verbindet und die ihre allgemeine Form allein von der Philosophie her erhalten kann. An einem Teil soll er zugleich Schaffender, Philosoph und Lehrer sein und dies in seiner wesentlichen und bestimmenden Natur. Von hier aus ergibt sich Form des Berufes und Lebens. Die Gemeinschaft schöpferischer Menschen erhebt jedes Studium zur Universalität: unter der Form der Philosophie. Solche Universalität gewinnt man nicht, indem man dem Juristen literarische, dem Mediziner juristische Fragen vorträgt (wie manche Gruppe von Studenten versucht), sondern indem die Gemeinschaft sorgt und von selbst es bewirkt, daß vor aller Besonderung des Fachstudiums (die sich doch nur mit Hinsicht auf den Beruf erhalten kann), über allem Betriebe der Fachschulen, sie selbst, die Gemeinschaft der Universität als solche, Erzeugerin und Hüterin der philosophischen Gemeinschaftsform sei, wiederum nicht mit den Fragestellungen der begrenzten wissenschaftlichen Fachphilosophie, sondern mit den metaphysischen Fragen des Platon und des Spinoza, der Romantiker und Nietzsches. Dies nämlich, nicht aber Führungen durch Fürsorgeinstitute, würde tiefste Verbindung des Berufes mit dem Leben, allerdings einem tieferen Leben bedeuten. Würde die Erstarrung des Studiums zu einem Haufen von Wissen verhüten. Es hätte diese Studentenschaft die Universität, die den methodischen Bestand des Wissens samt den vorsichtigen kühnen und doch exakten Versuchen neuer Methoden mitteilt, zu umgeben, gleichwie das undeutliche Wogen des Volkes den Palast eines Fürsten, als die Stätte der beständigen geistigen Revolution, wo zuerst die neuen Fragestellungen weitausgreifender, unklarer, unexakter, aber manchmal vielleicht auch tiefer ahnend als die wissenschaftlichen Fragen sich vorbereiten. Die Studentenschaft wäre in ihrer schöpferischen Funktion als der große Transformator zu betrachten, der die neuen Ideen, die früher in der Kunst, früher im sozialen Leben zu erwachen pflegen als in der Wissenschaft, überzuleiten hätte in wissenschaftliche Fragen durch philosophische Einstellung.
Die heimliche Herrschaft der Berufsidee ist nicht die innerlichste jener Verfälschungen, deren Furchtbarkeit es ist, daß sie alle das Zentrum schöpferischen Lebens treffen. Eine banale Lebenseinstellung handelt Surrogate gegen den Geist ein. Es gelingt ihr, immer dichter die Gefährlichkeit des geistigen Lebens zu verschleiern und den Rest der Sehenden als Phantasten zu verlachen. Die erotische Konvention verbildet tiefere Schichten des unbewußten Lebens in den Studenten. Mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der die Berufsideologie das intellektuelle Gewissen fesselt, lastet die Vorstellung der Heirat, die Idee der Familie als eine dunkle Konvention auf dem Eros. Er scheint verschwunden aus einer Epoche, die zwischen dem Dasein des Familiensohnes und Familienvaters sich leer und unbestimmt erstreckt. Wo die Einheit im Dasein des Schaffenden und des Zeugenden liegt und ob diese Einheit in der Form der Familie geschaffen ist, diese Frage durfte nicht gestellt werden, solange es die heimliche Erwartung der Heirat galt, eine illegitime Zwischenzeit, in der man höchstens Widerstandsfähigkeit gegen Versuchungen trefflich bewähren könne. Der Eros der Schaffenden – wenn überhaupt eine Gemeinschaft ihn zu erblicken und um ihn zu ringen vermöchte, so wäre es die studentische. Aber noch dort, wo alle äußeren Bedingungen der Bürgerlichkeit fehlten, wo bürgerliche Zustände, das heißt Familien, zu gründen aussichtslos war, wo in vielen Städten Europas eine tausendköpfige Menge von Frauen ihre ökonomische Existenz nur auf die Studierenden gründet – die Prostituierten –, noch da hat er sich nach dem Eros, der ihm ursprünglich eignete, nicht gefragt. Ihm mußte es fraglich werden, ob Zeugung und Schöpfung in ihm getrennt bleiben sollten, ob die eine der Familie, die andere dem Amte zukomme, und in ihrer Trennung beide verbildet, keines aus seinem eigentümlichen Dasein entspringen sollte. Denn so hohnvoll und schmerzhaft es ist, eine solche Frage an das Leben heutiger Studenten heranzuführen, so muß es geschehen, weil in ihnen – dem Wesen nach – diese beiden Pole menschlichen Daseins in der Zeit zugleich liegen. Es handelt sich um die Frage, die keine Gemeinschaft ungelöst lassen kann und die doch seit den Griechen und frühen Christen kein Volk mehr in der Idee gemeistert hat; immer lastete sie auf den großen Schaffenden: wie sie dem Bilde der Menschheit genügen sollten und Gemeinschaft mit Frauen und Kindern ermöglichten, deren Produktivität anders gerichtet ist. Die Griechen, wie wir wissen, übten Gewalt, indem sie den zeugenden Eros dem schaffenden nachstellten, so daß endlich ihr Staat, aus dessen Inbegriff Frauen und Kinder verbannt waren, zerfiel. Die Christen gaben die mögliche Lösung für die civitas dei: sie verwarfen die Einzelheit in beiden. Die Studentenschaft hat es in ihren fortgeschrittensten Teilen immer bei unendlich ästhetisierenden Betrachtungen über Kameradschaftlichkeit und Studiengenossinnen gelassen; man scheute sich nicht, eine „gesunde“ erotische Neutralisierung der Schüler und Schülerinnen zu erhoffen. In der Tat ist mit Hilfe der Dirnen die Neutralisierung des Eros in der Hochschule gelungen. Und wo sie ausblieb, ist jene so ganz haltlose Harmlosigkeit, jene schwüle Heiterkeit ausgebrochen, und die burschikose Studentin wird als Nachfolgerin der häßlichen alten Lehrerin jubelnd begrüßt. Hier drängt sich die allgemeine Bemerkung auf, wieviel mehr furchtsamen Instinkt die katholische Kirche für die Macht und Notwendigkeit des Eros hat, als das Bürgertum. Es liegt an den Hochschulen eine ungeheure Aufgabe verschüttet, ungelöst, verleugnet; größer als die zahllosen, an denen die soziale Geschäftigkeit sich reibt. Es ist die, aus dem geistigen Leben heraus zur Einheit zu bilden, was an geistiger Unabhängigkeit des Schaffenden – im Korpsstudententum – und an Liebe des Schaffenden zur Frau – in der Prostitution – verzerrt und zerstückelt als Torso des einen geistigen Eros uns traurig ansieht. Die notwendige Unabhängigkeit des Schaffenden und die notwendige Einbeziehung der Frau, welche nicht produktiv im Sinne des Mannes ist, in eine einzige Gemeinschaft Schaffender – durch Liebe –, diese Gestaltung muß allerdings vom Studenten verlangt werden, weil sie die Form seines Lebens ist. Hier aber herrscht so mörderische Konvention, daß noch nicht einmal das Studententum sein Schuldbekenntnis an der Prostitution abgelegt hat; daß man diese ungeheure blasphemische Verwüstung mit Keuschheitsempfehlungen einzudämmen denkt, weil man wiederum nicht den Mut hat, dem eigenen schöneren Eros ins Auge zu blicken. Diese Verstümmelung der Jugend trifft ihr Wesen zu tief, als daß mit mehreren Worten auf sie gewiesen werden könnte. Sie ist dem Bewußtsein der Denkenden zu überliefern und der Entschlossenheit der Mutigen. Der Polemik ist sie nicht erreichbar.
Wie sieht eine Jugend sich selbst an, welches Bild trägt sie von sich im Innern, die solche Verfinsterung ihrer eignen Idee, solche Beugung ihrer Lebensinhalte zuläßt? Dieses Bild ist im Korpsgeist ausgeprägt, und er ist noch immer der sichtbarste Träger des studentischen Jugendbegriffes, dem die anderen, voran freistudentischen Organisationen ihre sozialen Schlagworte entgegenschleudern. Das deutsche Studententum ist, bald mehr bald minder, von der Idee besessen, es müsse seine Jugend genießen. Jene ganz irrationale Wartezeit auf Amt und Ehe mußte irgendeinen Inhalt aus sich herausgebären und das mußte ein spielerischer, pseudo-romantischer, zeitvertreibender sein. Es ist ein furchtbares Stigma auf aller gerühmten Heiterkeit der Kommerslieder, auf der neuen Burschenherrlichkeit. Es ist Angst vor dem Kommenden und zugleich ein gemütsruhiges Paktieren mit dem unvermeidlichen Philisterium, das man sich als „alten Herrn“ sehr gerne vor Augen hält. Weil man dem Bürgertum die Seele verkauft hat, samt Beruf und Ehe, hält man streng auf jene paar Jahre bürgerlicher Freiheiten. Dieser Tausch wird im Namen der Jugend eingegangen. Offen oder heimlich, – auf der Kneipe oder in betäubenden Versammlungsreden wird der teuer erkaufte Rausch erzeugt, der ungestört bleiben soll. Es ist das Bewußtsein verspielter Jugend und verkauften Alters, das nach Ruhe dürstet, und an ihm sind die Versuche der Beseelung des Studententums zuletzt gescheitert. Aber wie diese Lebensform jeder Gegebenheit spottet und von allen geistigen und natürlichen Mächten gestraft wird, von der Wissenschaft durch den Staat, vom Eros durch die Hure, so vernichtend von der Natur. Denn die Studenten sind nicht die jüngste Generation, sondern die Alternden. Es ist ein erschütternder Entschluß, das Alter zu erkennen, für solche, die ihre Jünglingsjahre auf deutschen Schulen verloren, und denen das Studium endlich das Leben des Jünglings zu eröffnen schien, das sich von Jahr zu Jahr ihnen versagte. Dennoch gilt es zu erkennen, daß sie Schaffende, also Einsame und Alternde sein müssen, daß ein reicheres Geschlecht von Jünglingen und Kindern schon lebt, dem sie sich nur als Lehrende weihen können. Von allen Gefühlen ist dies ihnen das fremdeste. Eben darum finden sie sich nicht in ihr Dasein und sind nicht bereit, von Anfang an mit den Kindern zu leben – denn das ist lehren –, weil sie nirgends in die Sphäre der Einsamkeit hineinragen. Weil sie ihr Alter nicht erkennen, gehen sie müßig. Nur die eingestandene Sehnsucht nach einer schönen Kindheit und würdigen Jugend ist die Bedingung des Schaffens. Ohne dies wird keine Erneuerung ihres Lebens möglich sein: ohne die Klage um versäumte Größe. Die Furcht vor Einsamkeit ist es, die ihre erotische Ungebundenheit verschuldet, Furcht vor Hingabe. Sie messen sich an den Vätern, nicht an den Nachgeborenen, und retten den Schein ihrer Jugend. Ihre Freundschaft ist ohne Größe und Einsamkeit. Jene expansive, auf das Unendliche gerichtete Freundschaft der Schaffenden, die auch dann noch auf unendliche geht, wenn sie zu zweien oder ihre Sehnsucht allein bleibt, hat keine Stelle in der Jugend der Hochschulen. Ihre Statt hat die persönlich zugleich beschränkte und zügellose Verbrüderung, die sich gleich bleibt auf der Kneipe und bei der Vereinsgründung im Café. Diese Lebensinstitutionen alle sind ein Markt von Vorläufigem, wie das Treiben in Kollegien und Cafés, Ausfüllungen leerer Wartezeit, Ablenkung vom Ruf der Stimme, ihr Leben aus dem einigen Geiste von Schaffen, Eros, Jugend aufzubauen. Es gilt eine keusche und verzichtende Jugend, die von der Ehrfurcht vor den Folgenden erfüllt ist. Aus Mutlosigkeit ist das Leben der Studenten solcher Ehrfurcht fern gerückt. Es folgt aber jede Lebensform und ihr Rhythmus aus den Geboten, die das Leben Schaffender bestimmen. Solange sie sich dem entziehen, wird ihr Dasein sie mit Häßlichkeit strafen und noch den Stumpfen wird Hoffnungslosigkeit ins Herz treffen.
Noch geht es um die äußerste gefährdete Notwendigkeit, es bedarf der strengen Richtung. Jeder wird seine eigenen Gebote finden, der die oberste Forderung an sein Leben heranträgt. Er wird das Künftige aus seiner verbildeten Form im Gegenwärtigen erkennend befreien.