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Walter Benjamin: Das Leben der Studenten. In: Der Neue Merkur 2, S. 727–737

zu beantworten, und diese Antwort ist entscheidend. Jeder Leistende strebt nach Totalität, und der Wert einer Leistung liegt eben in ihr, wieweit das ganze und ungeteilte Wesen eines Menschen zum Ausdruck kommt. Die sozial begründete Leistung aber enthält, wie wir sie heute vorfinden, nicht die Totalität, sie ist etwas völlig Bruchstückhaftes und Abgeleitetes. Nicht selten ist die soziale Gemeinschaft der Platz, wo heimlich und in gleicher Gesellschaft gekämpft wird gegen höhere Wünsche, eigenere Ziele, tiefer eingeborene Entwicklung aber verdeckt wird. Die soziale Leistung des Durchschnittsmenschen dient in den allermeisten Fällen zur Verdrängung der ursprünglichen und unabgeleiteten Strebungen des inneren Menschen. Hier ist vom Akademiker die Rede; Menschen, die von Berufs wegen jedenfalls in irgendeiner inneren Verbindung mit geistigen Kämpfen, mit Skeptizismus und Kritizismus des Studierenden stehen. Diese Menschen bemächtigen sich eines völlig fremden, dem ihrigen weltweit abgelegenen Milieus als ihres Arbeitsplatzes, sie schaffen sich dort an entlegener Stelle eine begrenzte Tätigkeit, und die ganze Totalität solchen Tuns ist, daß es einer oft abstrakten Allgemeinheit zugute kommt. Keine innere und ursprüngliche Verbindung besteht zwischen dem geistigen Dasein eines Studierenden und seinem fürsorglichen Interesse für Arbeiterkinder, ja selbst für Studierende. Keine Verbindung als ein mit seiner eigenen und eigensten Arbeit unverbundener Pflichtbegriff, der ein mechanisiertes Gegenüber: ,hie Stipendiat des Volkes‘ – ,da soziale Leistung‘ setzt. Hier ist das Pflichtgefühl errechnet, abgeleitet und umgebogen, nicht aus der Arbeit selbst geflossen. Und jener Pflicht wird genügt: nicht im Leiden für erdachte Wahrheit, nicht im Ertragen aller Skrupel eines Forschenden, überhaupt nicht in irgendwie mit dem eigenen geistigen Leben verbundener Gesinnung. Sondern in einem krassen und zugleich höchst oberflächlichen Gegensatz, vergleichbar dem: ideell-materiell – theoretisch-praktisch. Jene soziale Arbeit mit einem Wort ist nicht die ethische Steigerung, sondern die ängstliche Reaktion eines geistigen Lebens. Nicht dies aber ist der eigentlichste und tiefste Einwand, daß die soziale Arbeit im wesentlichen unverbunden, abstrakt der eigentlich studentischen Arbeit gegenübersteht, darin ein höchster und verwerflichster Ausdruck des Relativismus, der jedes Geistige vom Physischen, jede Setzung von ihrem Gegenteil ängstlich und sorgsam begleitet sehen will – unvermögend synthetischen Lebens –, nicht dies ist das Entscheidende, daß ihre ganze Totalität in Wirklichkeit leere, allgemeine Nützlichkeit ist, sondern: daß trotz alledem sie die Geste und Haltung der Liebe fordert, wo nur mechanische Pflicht, ja oft nur ein Abbiegen stattfindet, um den Konsequenzen geistigen kritischen Daseins, dem der Student verpflichtet ist, auszuweichen.

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Walter Benjamin: Das Leben der Studenten. In: Der Neue Merkur 2, S. 727–737. Müller, München und Berlin 1915, Seite 730. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Benjamin_Das_Leben_der_Studenten.djvu/4&oldid=- (Version vom 31.7.2018)