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Walter Benjamin: Das Leben der Studenten. In: Der Neue Merkur 2, S. 727–737

nicht Protektion und Unterstützung der „Wissenschaft“ vom Staate zu fordern wagt. Denn nicht die Übereinkunft der Hochschule mit dem Staate, die sich mit ehrlicher Barbarei nicht schlecht verstünde, zeugt von Verderbnis, sondern die Gewährleistung und Lehre von der Freiheit einer Wissenschaft, von der doch mit brutaler Selbstverständlichkeit erwartet wird, daß sie ihre Jünger zu sozialer Individualität und Staatsdienst führe. Keine Duldung freiester Anschauung und Lehre fördert, solange das Leben, das sie – nicht minder als die strengsten – mit sich führen, nicht gewährt ist und diese ungeheure Kluft naiv durch die Verbindung der Hochschule mit dem Staate geleugnet wird. Es ist mißverständlich, im einzelnen Forderungen zu entwickeln, solange der einzelnen in der Erfüllung doch der Geist ihrer Gesamtheit versagt bliebe, und nur dies soll als bemerkenswert und erstaunlich hervorgehoben werden: wie in der Institution des Gollegs als in einem ungeheuren Versteckspiel die Gesamtheiten der Lehrer und Schüler sich aneinander vorüberschieben und nie erblicken. Immer bleibt hier die Schülerschaft als unbeamtet hinter der Lehrerschaft zurück, und der rechtliche Grundbau der Universität, verkörpert im Kultusminister, den der Souverän, nicht die Universität, ernennt, ist eine halbverhüllte Korrespondenz der akademischen Behörde über die Häupter der Schüler (und in seltenen und glücklichen Fällen auch der Lehrer) mit den staatlichen Organen.

Die unkritische und widerstandslose Ergebung in diesen Zustand ist ein wesentlicher Zug im Studentenleben. Zwar haben die sogenannten freistudentischen Organisationen und andere sozial gerichtete einen scheinbaren Lösungsversuch unternommen. Dieser geht zuletzt auf völlige Verbürgerung der Institution, und nirgends hat sich deutlicher als an dieser Stelle gezeigt, daß die heutigen Studenten als Gemeinschaft nicht fähig sind, die Frage des wissenschaftlichen Lebens überhaupt zu stellen und seinen unlösbaren Protest gegen das Berufsleben der Zeit zu ergreifen. Weil sie überaus scharf die chaotische Vorstellung der Studenten von wissenschaftlichem Leben erklärt, darum ist die Kritik der freistudentischen und der ihr nahestehenden Ideen notwendig und soll mit Worten aus einer Rede geschehen, die vom Verfasser vor Studenten gehalten wurde, als er für die Erneuerung zu wirken gedachte. „Es besteht ein sehr einfaches und sicheres Kriterium, den geistigen Wert einer Gemeinschaft zu prüfen. Die Frage: findet die Totalität des Leistenden in ihr einen Ausdruck, ist der ganze Mensch ihr verpflichtet, ist der ganze Mensch ihr unentbehrlich? Oder ist jedem in gleichem Maße die Gemeinschaft entbehrlich als er ihr? Es ist so einfach, diese Frage zu stellen, so einfach, sie für die jetzigen Typen sozialer Gemeinschaft

Empfohlene Zitierweise:
Walter Benjamin: Das Leben der Studenten. In: Der Neue Merkur 2, S. 727–737. Müller, München und Berlin 1915, Seite 729. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Benjamin_Das_Leben_der_Studenten.djvu/3&oldid=- (Version vom 31.7.2018)