Walter Benjamin: Das Leben der Studenten. In: Der Neue Merkur 2, S. 727–737 | |
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Von allen Gefühlen ist dies ihnen das fremdeste. Eben darum finden sie sich nicht in ihr Dasein und sind nicht bereit, von Anfang an mit den Kindern zu leben – denn das ist lehren –, weil sie nirgends in die Sphäre der Einsamkeit hineinragen. Weil sie ihr Alter nicht erkennen, gehen sie müßig. Nur die eingestandene Sehnsucht nach einer schönen Kindheit und würdigen Jugend ist die Bedingung des Schaffens. Ohne dies wird keine Erneuerung ihres Lebens möglich sein: ohne die Klage um versäumte Größe. Die Furcht vor Einsamkeit ist es, die ihre erotische Ungebundenheit verschuldet, Furcht vor Hingabe. Sie messen sich an den Vätern, nicht an den Nachgeborenen, und retten den Schein ihrer Jugend. Ihre Freundschaft ist ohne Größe und Einsamkeit. Jene expansive, auf das Unendliche gerichtete Freundschaft der Schaffenden, die auch dann noch auf unendliche geht, wenn sie zu zweien oder ihre Sehnsucht allein bleibt, hat keine Stelle in der Jugend der Hochschulen. Ihre Statt hat die persönlich zugleich beschränkte und zügellose Verbrüderung, die sich gleich bleibt auf der Kneipe und bei der Vereinsgründung im Café. Diese Lebensinstitutionen alle sind ein Markt von Vorläufigem, wie das Treiben in Kollegien und Cafés, Ausfüllungen leerer Wartezeit, Ablenkung vom Ruf der Stimme, ihr Leben aus dem einigen Geiste von Schaffen, Eros, Jugend aufzubauen. Es gilt eine keusche und verzichtende Jugend, die von der Ehrfurcht vor den Folgenden erfüllt ist. Aus Mutlosigkeit ist das Leben der Studenten solcher Ehrfurcht fern gerückt. Es folgt aber jede Lebensform und ihr Rhythmus aus den Geboten, die das Leben Schaffender bestimmen. Solange sie sich dem entziehen, wird ihr Dasein sie mit Häßlichkeit strafen und noch den Stumpfen wird Hoffnungslosigkeit ins Herz treffen.
Noch geht es um die äußerste gefährdete Notwendigkeit, es bedarf der strengen Richtung. Jeder wird seine eigenen Gebote finden, der die oberste Forderung an sein Leben heranträgt. Er wird das Künftige aus seiner verbildeten Form im Gegenwärtigen erkennend befreien.
Walter Benjamin: Das Leben der Studenten. In: Der Neue Merkur 2, S. 727–737. Müller, München und Berlin 1915, Seite 737. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Benjamin_Das_Leben_der_Studenten.djvu/11&oldid=- (Version vom 31.7.2018)