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Walter Benjamin: Das Leben der Studenten. In: Der Neue Merkur 2, S. 727–737

hat; daß man diese ungeheure blasphemische Verwüstung mit Keuschheitsempfehlungen einzudämmen denkt, weil man wiederum nicht den Mut hat, dem eigenen schöneren Eros ins Auge zu blicken. Diese Verstümmelung der Jugend trifft ihr Wesen zu tief, als daß mit mehreren Worten auf sie gewiesen werden könnte. Sie ist dem Bewußtsein der Denkenden zu überliefern und der Entschlossenheit der Mutigen. Der Polemik ist sie nicht erreichbar.


Wie sieht eine Jugend sich selbst an, welches Bild trägt sie von sich im Innern, die solche Verfinsterung ihrer eignen Idee, solche Beugung ihrer Lebensinhalte zuläßt? Dieses Bild ist im Korpsgeist ausgeprägt, und er ist noch immer der sichtbarste Träger des studentischen Jugendbegriffes, dem die anderen, voran freistudentischen Organisationen ihre sozialen Schlagworte entgegenschleudern. Das deutsche Studententum ist, bald mehr bald minder, von der Idee besessen, es müsse seine Jugend genießen. Jene ganz irrationale Wartezeit auf Amt und Ehe mußte irgendeinen Inhalt aus sich herausgebären und das mußte ein spielerischer, pseudo-romantischer, zeitvertreibender sein. Es ist ein furchtbares Stigma auf aller gerühmten Heiterkeit der Kommerslieder, auf der neuen Burschenherrlichkeit. Es ist Angst vor dem Kommenden und zugleich ein gemütsruhiges Paktieren mit dem unvermeidlichen Philisterium, das man sich als „alten Herrn“ sehr gerne vor Augen hält. Weil man dem Bürgertum die Seele verkauft hat, samt Beruf und Ehe, hält man streng auf jene paar Jahre bürgerlicher Freiheiten. Dieser Tausch wird im Namen der Jugend eingegangen. Offen oder heimlich, – auf der Kneipe oder in betäubenden Versammlungsreden wird der teuer erkaufte Rausch erzeugt, der ungestört bleiben soll. Es ist das Bewußtsein verspielter Jugend und verkauften Alters, das nach Ruhe dürstet, und an ihm sind die Versuche der Beseelung des Studententums zuletzt gescheitert. Aber wie diese Lebensform jeder Gegebenheit spottet und von allen geistigen und natürlichen Mächten gestraft wird, von der Wissenschaft durch den Staat, vom Eros durch die Hure, so vernichtend von der Natur. Denn die Studenten sind nicht die jüngste Generation, sondern die Alternden. Es ist ein erschütternder Entschluß, das Alter zu erkennen, für solche, die ihre Jünglingsjahre auf deutschen Schulen verloren, und denen das Studium endlich das Leben des Jünglings zu eröffnen schien, das sich von Jahr zu Jahr ihnen versagte. Dennoch gilt es zu erkennen, daß sie Schaffende, also Einsame und Alternde sein müssen, daß ein reicheres Geschlecht von Jünglingen und Kindern schon lebt, dem sie sich nur als Lehrende weihen können.

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Walter Benjamin: Das Leben der Studenten. In: Der Neue Merkur 2, S. 727–737. Müller, München und Berlin 1915, Seite 736. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Benjamin_Das_Leben_der_Studenten.djvu/10&oldid=- (Version vom 31.7.2018)