die rein individuelle Erledigung hinausreichen. Ich nannte vorhin die Sonate. Sie ist kein Schema, sie ist ein Kunstbegriff, an dessen Feststellung Generationen gearbeitet, ein Formproblem, für das Unzählige immer neue Lösungen gefunden haben und das doch in seiner Grundidee jenseits aller Problematik steht als Erzeugnis einer ganz bestimmten Kunstanschauung. Ähnliches gilt von der Fuge als Repräsentantin des melodisch polyphonen Stils. Die Frage bleibt: Ist es der neuen Musik möglich, eine solche, alle individuellen Verschiedenheiten überbrückende formale Grundidee als Ausdruck ihres Willens zu prägen? Wenn ich vorhin sagte, die bisher vorliegenden Werke der romanischen Künstler geben keine klare Antwort, sondern bedeuten nur individuelle Kompromisse, so wollte ich damit andeuten, daß eben das Hauptproblem der neuen Musik, ungeachtet genialer Einzelleistungen, bisher nur gestreift und individuell beleuchtet, aber nicht geklärt ist. Wie steht es nun mit den deutschen Musikern?
Es liegt auch hier bereits eine beträchtliche Anzahl von Einzelversuchen vor. Ich möchte sie, der Übersichtlichkeit halber, flüchtig gruppieren nach Gattungen: Oper, Lyrik, Kammermusik und Instrumentalmusik großen Stiles. In der Oper fesselt zunächst eine Erscheinung wie Franz Schreker. Er ist zweifellos die stärkste musikdramatische Begabung, die wir seit Wagner kennen. Man darf hinzusetzen: auch die einzige wirklich musikdramatische Begabung seit Wagner. Schreker ist kein Nachahmer, die dramatische Uridee in ihm ist ganz anders verwurzelt als bei Wagner und hat sich dementsprechend eine wesentlich anders gerichtete Technik erzeugt. Auch Schreker bedient sich noch der motivischen Technik, doch in einer von Wagner grundverschiedenen Bedeutung. Bei ihm sind romanische Einflüsse stark spürbar, die Melodie gewinnt wieder den Eigenwert der musikalischen Erscheinung, das Motiv ist nicht Mittel der psychologischen Charakteristik und Verdeutlichung, sondern es sinkt in das Unterbewußtsein. Es ist daher,
Paul Bekker: Neue Musik. Stuttgart und Berlin: Deutsche Verlags-Anstalt, 1923, Seite 112. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Bekker_Neue_Musik_Vortrag.djvu/030&oldid=- (Version vom 31.7.2018)