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Musikempfindens. Er griff darum zurück auf den französischen „Vater der Harmonie“, auf Rameau, um von ihm aus den Weg zu einer neuen freien Entfaltung des melodischen Stiles zu finden. Debussy hat durch seine Rückwendung zu Rameau erreicht, was er erreichen wollte. Er ist zunächst zu einer für die Begriffe seiner Zeit außerordentlich freien Behandlung der Harmonie gelangt, die in Wirklichkeit nichts anderes war als eine Auflösung der bisherigen harmonischen Grundgesetze, ihre Unterstellung unter die Gesetze des melodischen Werdens. Es ist ihm dank seinem französischen Formensinn auch gelungen, solche Gesetze des melodischen Werdens in seinen Werken aufzustellen, Formungen zu finden, die auf der Suprematie der Melodik beruhen. Freilich ist die von Debussy gefundene Lösung noch im höchsten Maße subjektiv bedingt, sie setzt vor allem eine bewußte enge Anlehnung an die Literatur voraus und steht außerdem unter dem Zwange des impressionistischen, sich auf den Reiz des augenblicklichen, flüchtigen Stimmungseindrucks beschränkenden Kunstschaffens. Sie berührt sich darin mit der Kunst des genialen Russen Mussorgsky, der, gleichfalls unter Umgehung zeitgenössischer Schaffensart, aus dem großen Schatz der russischen Volks- und Kirchenmusik neue Quellen des melodischen Ausdrucks ebenfalls – in impressionistischer Manier – erschloß.

Debussy und dem ihm angeschlossenen Kreise ist auch der ältere César Franck sowie der ausgezeichnete, allerdings mehr didaktisch als schöpferisch gerichtete Kenner der alten Musik Vincent d’Indy zuzurechnen. Ihnen nahe steht der Deutsch-Engländer Frederick Delius. Auch er ein Freilichtkünstler, weniger innerlich als äußerlich an die Jungfranzosen gebunden, eine sehr fein profilierte Lyrikererscheinung, in der sich angelsächsische, deutsche und französische Elemente in merkwürdiger Mischung durchdringen. Eine ähnliche Mischnatur, obwohl aus ganz anderen Bestandteilen zusammengesetzt, ist Ferruccio Busoni, seinem

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Paul Bekker: Neue Musik. Stuttgart und Berlin: Deutsche Verlags-Anstalt, 1923, Seite 110. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Bekker_Neue_Musik_Vortrag.djvu/028&oldid=- (Version vom 31.7.2018)