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des Geschehens gemacht, aber sie haben ihr dafür eine Expansions- und Wandlungsfähigkeit, eine Breite und Tragkraft gegeben, wie sie eben nur der Stil eines außerordentlich fruchtbaren, in seinen genialsten Vertretern auf äußerster Höhe stehenden Zeitalters gewähren konnte. Ich weise hier nur auf das Gesetz der Formbildung durch thematische und motivische Arbeit hin – ein Gesetz, das an sich aus durchaus unmelodischer Denkweise entsprungen ist, denn es dient der Weiterführung der harmonischen Entwicklung und macht die thematische oder motivische eben nur zum Bindeglied, zum Mittler dieser harmonischen Weiterführung. Und doch, welch eine unabsehbare Reihe musikalischer Formorganismen hat sich aus diesem Urgesetz gestaltet. Welch eine gewaltige Schöpfung ist die Sonate, dieses Prototyp des harmonischen Musikempfindens – mag sie nun als Sinfonie, als Kammermusikschöpfung, als Solosonate erscheinen, mag sie sich im einzelnen als Sonatensatz, als mehr oder minder erweitertes Lied, als Variationengebilde oder als Rondo darstellen. Diese Sonate, die sich schon in der gegensätzlichen tonartlichen Gliederung als harmonisch bestimmter Organismus kennzeichnet, innerhalb dessen das Thema eigentlich nur noch die Rolle eines rein akzidentellen Mottos spielt, diese Sonate mit all ihren Spielarten bis zur sinfonischen Dichtung ist das Werk einer Zeit, vor deren gestaltender Kraft wir höchste Achtung hegen müssen. Wenn man nun die kaum zu erschöpfende Kunst der motivischen Durchbildung betrachtet, wie sie etwa Wagner in seinen Bühnenwerken zur Entfaltung gebracht hat, so muß man gestehen, daß es kein Leichtes ist, sich von diesen ebenso großartigen wie für die Nachahmung bequemen Mustern loszusagen und sich darüber klar zu werden, daß die Wege dieser großen Künstler- und Schöpfernaturen nicht mehr die unsrigen sind und nicht mehr sein dürfen.

Aber welches sind nun diese Wege? Kann man sie aus einem rein spekulativen Willen herausfinden, gehört nicht dazu in

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Paul Bekker: Neue Musik. Stuttgart und Berlin: Deutsche Verlags-Anstalt, 1923, Seite 106. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Bekker_Neue_Musik_Vortrag.djvu/024&oldid=- (Version vom 31.7.2018)