Felder keinen so günstigen Ertrag geliefert, als in den Jahren 1462–1464. Für den Tagelohn von 6 Arbeitstagen konnte z. B. der Schreinermeister der Kirche 1 Malter Weizen mit fast ⅔ Malter Roggen kaufen, die heute an 40 Mark kosten würden.
Von allen Seiten kamen die Processionen mit ihren Fahnen und Kreuzen. Schon bei der letzten Victortracht von 1421 hatten sie deren 360 mitgebracht. Jetzt sah man noch mehr, und alle waren reicher geziert. Die Pilger zogen ein in die altehrwürdige Kirche und pflanzten ihre Banner auf am Schreine des hl. Victor, so daß ihn bald ein Wald von Kreuzen und Fahnen fast verdeckte. Auch ihre Reliquien hatten die Pfarrer der Umgend mitgebracht, wie ihnen befohlen war, und als sie dieselben um den Victorschrein aufgestellt hatten, schien es, wie der beredte Heimerich voll freudiger Begeisterung erzählt, als ob alle Heiligen, die um Xanten herum in Stadt und Land verehrt wurden, gekommen seien, den Anführer der thebäischen Soldaten zu verehren und seinen Hofstaat zu bilden.
So groß wurde schon am Vorabende des Festzuges das Volksgewühl, daß man sich kaum durch die Straßen drängen konnte. Die lauterste Fröhlichkeit herrschte. Hier waren Musikanten mit ihren Posaunen und Hörnern und Flöten, dort Schauspieler und Possenreißer in ihren Buden. Denn das Mittelalter verbot nicht unschuldige Scherze und harmlose Erheiterung. Es liebte den Komiker und verwehrte der Satire nicht einmal den Eingang in’s Heiligthum. Es kam die Nacht, um ihren dunkeln Schleier über die Stadt auszubreiten. Aber dießmal vertrieb sie die Menge nicht von den Straßen. Vergeblich kämpften die Schatten gegen die Lichter und Fackeln, welche alle Straßen und Gassen erleuchteten.
In der Kirche beteten diejenigen, die noch Eingang gefunden; andere lagen vor den Thoren auf ihren Knieen. Die Einen sangen, die Andern musicirten. Wieder Andere suchten in kurzem Schlafe Ruhe und Erquickung für die durch die Reise ermüdeten Glieder. Überall herrschte, wie die Augenzeugen versichern, christliche Zucht und Sitte, und Alle hielten sich streng innerhalb ihrer Schranken. Immer heller und klarer schaute der Mond aus dem Wolkenschleier heraus. Lange hatte reichlicher Regen Besorgnisse für den Festzug erregt. Aber der Himmel klärte sich zusehends auf. Endlich versprach eine hellglänzende Morgenröthe am wolkenlosen Himmel das herrlichste Augustwetter.
Vom hohen Thurme begrüßte eine auserlesene Schaar von Musikern die ersten Strahlen der aufsteigenden Sonne. Das Echo antwortete aus
Stephan Beissel: Die Victortracht des Jahres 1464 In: Die Bauführung des Mittelalters. Studie über die Kirche des hl. Victor zu Xanten. Freiburg im Breisgau: Herder, 1889, Seite 64. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Beissel_%E2%80%93_Die_Victortracht_des_Jahres_1464.djvu/16&oldid=- (Version vom 31.7.2018)