durch die umliegenden Städte und Dörfer. St. Victor war Allen lieb und theuer. Zu ihm nahmen sie in all ihren Nöthen ihre Zuflucht, wie sie von Eltern und Voreltern gelernt hatten. Eine tausendjährige Gewohnheit hatte diese Sitte gefestigt. Frohe Hoffnung kehrte zurück in die durch den Zwist der Fürsten geängstigten Gemüther. Es kam den guten Leuten vor, als wolle ihr siegreicher Patron die Zwietracht zwischen den Landesfürsten beenden, um dann im Sonnenscheine des Friedens seinen Triumphzug zu feiern.
Tag um Tag mehrten sich die Andächtigen, welche knieend vor dem Hochaltare beteten, in dem der Victorschrein verborgen war. Mit dem Wunsche, den feierlichen Zug zu erleben, stieg auch der Eifer, mit welchem man Gott durch die Fürbitte des hl. Victor um Beistand anflehte: er möge die Herzen der Fürsten zur Sanftmuth und zur gegenseitigen Nachgiebigkeit stimmen und die Bemühungen der Gesandten des Pfalzgrafen bei Rhein, die zwischen den Parteien zu vermitteln suchten, mit Erfolg krönen.
Lange schwankten die Verhandlungen. Zuletzt nahmen sie einen so günstigen Verlauf, daß der Friede gesichert schien. Inzwischen war aber schon der Mai gekommen, und es wurde die höchste Zeit, die näheren Vorbereitungen zum Feste zu beginnen und die Einladungen zu erlassen. Kaum hatte darum der Dechant die guten Nachrichten vernommen, als er einen Brief an den Herzog von Cleve schrieb, worin er von ihm, als dem Landesherrn, die Erlaubniß zur geplanten Feier erbat. Der Brief ging am 6. Mai ab. Da am 9. Mai noch keine Antwort gekommen war und die Sache eilte, schrieb Heimerich einen zweiten Brief. Aber auch dießmal kam der Kapitelsbote ohne Bescheid von Cleve nach Xanten zurück. Am 10. Mai verfaßte der Dechant einen dritten Brief. In demselben stellte er dem Herzoge vor, wie der hl. Victor an 43 Jahre vernachlässigt worden sei, und bat dringend, zu überlegen, welche Ehre Seine Herrlichkeit sich bei Gott und den Menschen erwerben könne, wenn durch deren hohe Bemühungen der heilige Martyrer wieder zu seinem alten Ansehen komme.
Der Herzog antwortete dießmal umgehend, sprach sich aber dahin aus, er könne erst dann eine Entscheidung treffen, wenn eine Deputation von zwei oder drei Stiftsherren zu ihm nach Cleve käme, um über die ganze Angelegenheit einen ausführlichen Bericht zu erstatten.
Der Brief des Herzogs wurde im Kapitel verlesen. Obgleich die Berechtigung des Herzogs Johann zu einer solchen Antwort bezweifelt
Stephan Beissel: Die Victortracht des Jahres 1464 In: Die Bauführung des Mittelalters. Studie über die Kirche des hl. Victor zu Xanten. Freiburg im Breisgau: Herder, 1889, Seite 52. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Beissel_%E2%80%93_Die_Victortracht_des_Jahres_1464.djvu/04&oldid=- (Version vom 31.7.2018)