I. Schon die Vorbereitungen zur Victortracht von 1464 geben ein wechselvolles Spiegelbild jener bewegten Zeit. Sieben Jahre vorher hatte Äneas Sylvius Piccolomini, Cardinal-Erzbischof von Siena, die Propstei von Xanten in Besitz genommen. Als er 1458 zum Papste erwählt wurde, entsagte er seiner Propstei zu Gunsten seines Neffen, des Cardinal-Erzbischofs Franz Piccolomini von Siena. Da der neue Propst nie nach Xanten kam, führte der zeitige Dechant die Geschäfte des Kapitels. Derselbe stammte aus einer angesehenen Familie der Stadt Cleve und stand beim dortigen Herzoge in hohen Ehren. Er hieß Arnold Heimerich (Heimericus).
Seine Gewandtheit und sein Talent, das er in seinen Schriften glänzend bewährte, machten ihn zu einem der einflußreichsten Männer des Herzogthums und gaben ihm großes Ansehen in Xanten. Dort trat er im Beginne des Jahres 1464 in einer Kapitelssitzung mit dem Antrage hervor, man möge noch im Laufe dieses Jahres eine feierliche Victortracht halten. Als gewandter Redner unterstützte er seinen Vorschlag so gut, daß sich gleich eine Mehrheit bildete, die sich für seinen Plan begeisterte und denselben nachdrücklich befürwortete. Auch an einer Anzahl von Gegnern konnte es in einem so zahlreichen Kapitel nicht fehlen. Ihr Sprecher wies auf die großen Schwierigkeiten hin, die sich dem Vorhaben entgegenstellten, und betonte nachdrücklich, die Zeitverhältnisse seien so ungünstig, daß sie die Festfeier leicht zu einem Unglückstage für Stadt, Land und Kapitel machen könnten.
Aber der Widerspruch reizte zum Festhalten. Die älteren Mitglieder des Stiftes, die von den Erinnerungen ihrer Jugend lebten, erzählten von vergangenen Victortrachten, vom glänzenden Verlaufe des Festes im Jahre 1421, sowie von allem, was die Vorfahren ihnen überliefert hätten, und entzündeten so in den jüngern Kanonikern das Verlangen, ein ähnliches Fest mitzufeiern und den Glanz ihrer alten Kirche zu erneuern. Zusehends wuchs die Zahl derer, welche sich für den Vorschlag des Dechanten entschieden, und zuletzt wurde einstimmig der Beschluß gefaßt, wenn die Streitigkeiten zwischen dem neu erwählten Erzbischofe von Köln, Ruprecht von der Pfalz, und dem Herzoge Johann von Cleve beigelegt würden, wolle man noch im kommenden Sommer die Reliquien des hl. Victor in feierlicher Procession durch die Stadt tragen.
Das Ergebniß der langen und stürmischen Kapitelssitzung konnte nicht geheim bleiben. Die Vikare der Kirche und die Bürgerschaft von Xanten hörten davon, und bald verbreiteten geschäftige Zungen die Nachricht
Stephan Beissel: Die Victortracht des Jahres 1464 In: Die Bauführung des Mittelalters. Studie über die Kirche des hl. Victor zu Xanten. Freiburg im Breisgau: Herder, 1889, Seite 51. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Beissel_%E2%80%93_Die_Victortracht_des_Jahres_1464.djvu/03&oldid=- (Version vom 31.7.2018)