Schloß Josephsthal
Das Hausmädchen des Professor Laurentius kam ins Wohnzimmer und brachte ihrem Herrn die Abendzeitung. Sie kam und ging auf leisen Sohlen, hütete sich sorgsam, irgendwo anzustoßen; an der Thür blickte sie noch einmal zurück in das behagliche Zimmer, in dem die große Hängelampe so hellen Schein verbreitete. Sonst war der Professor dem Mädchen stets entgegengeeilt, hatte das von Druckerschwärze noch feuchte Blatt aus ihrer Hand genommen und häufig genug schon im Stehen begonnen zu lesen. Heute ließ er Bertha bis zum Tisch kommen, hatte keine Antwort auf ihre geflüsterte Frage wegen der Stunde des Abendessens und winkte nur mechanisch – – – ja, ja, es sei gut – schon gut – und sie könne gehen!
Leise legte sich die Thür ins Schloß. Der Professor saß, den Kopf in die Hand gestützt, und starrte mit zusammengezogenen Brauen ins Lampenlicht. Es war, als horchte er.
Hinter seinem Rücken teilten sich die dicken, dunklen Thürvorhänge – eine blonde Frau trat näher. Ein ungewöhnlich sympathisches Gesicht hatte sie, gute und kluge blaue Augen, die viel verstehen gelernt haben mußten. Nicht mehr sehr jung und durchaus nicht schön – aber wenn die Leute, die sie kannten, so häufig von ihr sagten „die reizende Frau“, so waren sie in ihrem Recht.
Ihre blauen Augen hatten eben geweint, man sah es deutlich, aber um die Lippen legte sich ein weiches Lächeln. Die Frau trat von rückwärts her lautlos an ihren Mann heran und schlang ihm beide Arme um den Hals.
Er fuhr herum, seine Augen trafen in die ihrigen.
„Maria –“ begann er atemlos.
Sie neigte sich ganz zu ihm hernieder.
„Außer jeder Gefahr!“ flüsterte sie dicht an seinem Ohr. „Die Operation ist nicht nötig!“
Wieder quollen ihr die Augen über, die Thränen fielen rasch und dicht in ihres Mannes Haar. Der Professor sagte kein einziges Wort, er atmete nur ganz tief auf, wie ein Mensch, der den Druck einer namenlosen Angst sich von der Seele wälzen will, und lehnte sein Haupt gegen den Arm seiner Frau. Die Lippen zitterten ihm, er konnte nicht reden. Wozu denn auch? Maria wußte ja, wie ihm zu Mute war.
„Komm!“ Sie zog ihn empor und mit sich ins andere Zimmer; sie mußte ihm doch ausführlicher erzählen.
Auch hier, in diesem Raum, brannte eine Hängelampe. Ihr Licht fiel auf Bücher, Bücher ohne Zahl und Ende, in jeder Größe, in jedem Einband. Eine Gelehrtenwerkstatt, wie man sie sich besser kaum denken kann!
Hand in Hand saßen die zwei auf dem weichen, braunen Ledersofa.
„Also,“ begann die Frau mit leiser Stimme, in der die Erregung noch nachzitterte, „unser Doktor kam und brachte den andern mit, den berühmten Chirurgen. Sie hoben Werner aus dem Bett, wickelten ihn in Decken und legten ihn auf den großen Tisch – dort konnten sie besser sehen. Ich leuchtete ihnen mit der Lampe!“
Der Professor faßte die Hand seiner Frau fester und küßte sie drei-, viermal hintereinander.
„Du hast viel, viel mehr Mut und Kraft als ich! Ich hätte das nicht gekonnt!“
„Nein,“ sagte sie weich, „du nicht, mein armer, lieber Mann. Das ist Sache einer Mutter.“
„Nun – und – –“
[454] „Sie haben gründlich untersucht, der eine, wie der andere. Dann hat der große Mann ein paar lateinische Worte zu unserm Doktor gesagt – ach, Ernst, daß ich die paar lateinischen Worte nicht verstand! An denen hing für mich nun die Entscheidung, und ich mußte warten – eine – zwei Minuten warten, bis sie mir’s übersetzten. Gott, wie unwissend ist solch’ eine Frau!“
„Du, Maria – und unwissend!“
„Doch, doch! Sie haben es mir dann endlich auf gut Deutsch gesagt: operieren wäre ganz unnütz, es sei viel, viel besser, keine Gefahr mehr – das bißchen Belag in der Rachenhöhle nicht mehr der Rede wert – das Fieber bedeutend zurückgegangen. Nur noch fleißig gurgeln und spülen mit einer neuen Lösung, die der Professor aufschrieb – und wie der zu Kindern reden kann, Ernst! Er hat Werner gesagt, er hätt’ auch einen Jungen von zehn Jahren, aber nicht so groß und stark wie unserer, und unserer hat gesagt, der sollte ihn nur besuchen, und hat dann erzählt, daß er in Quinta Fünfter wäre und im nächsten Semester versetzt würde – wie zwei alte Freunde waren sie, und unser Doktor stand dabei und lachte über sein ganzes gutes Gesicht!“
„Und jetzt? Wie steht es jetzt?“
„Werner war ein bißchen müde nach der Untersuchung; der Professor meinte, er würde bald schlafen. Denk dir, er nahm den schweren Jungen auf den Arm und schleppte ihn selbst ins Bett zurück. So ein berühmter Mann!“
„Berühmte Männer sind auch Väter und Menschen!“
„Ja, gottlob, dies war ein solcher. Er hat noch dies und das zu mir gesagt, aber es betraf nicht den Jungen, und so weiß ich nicht mehr, was es gewesen ist. Mit meinen Gedanken war ich schon immer bei dir und deiner Angst. Wie sie dann fort waren, hab’ ich mich neben Werners Bett gesetzt, und er hat gleich gebeten: ‚Geh’ doch zu Papa und sag’ ihm, daß es mir gut geht und daß sie mich nicht schneiden werden!‘“
„Mein guter, guter Junge! Das hat er gesagt?“
„Ja, aber ihm fielen beinahe schon die Augen zu vor Mattigkeit. Da blieb ich doch noch, bis er einschlief, und jetzt ist Betty bei ihm. So, jetzt weißt du alles! Ach, ich bin Gott so dankbar!“
Sie faltete ihre Hände über denen ihres Mannes zusammen und neigte das Haupt. Er küßte ihr blondes Haar, und nun war es eine kleine Weile still im Zimmer. Draußen ging in leisem Klagen der Tauwind. Der Februar hatte scharfe Kälte gebracht, die war jetzt umgeschlagen, aber der Winter hielt darum doch sein weißes Scepter in Händen. Es schneite in großen Flocken, und zuweilen klang Schellenläuten in das stille Studierzimmer hinein.
Frau Maria richtete sich auf. „Daß ich’s ja nicht vergesse! Ich hab’ es Alix in die Hand gelobt, ihr heute abend noch Botschaft zu schicken. Bertha muß hinüberlaufen. Unser Elschen, so klein es noch ist mit seinen sechs Jahren, hat auch geweint und gesagt, es will immer wissen, wie es Werner geht – ich glaube, das arme kleine Ding wird sich sehr bangen, trotzdem Alix bei ihm ist!“
„Und Alix selbst ist ungern fortgegangen!“
„Ich hab’ sogar meine ganze Autorität aufbieten müssen, damit sie überhaupt ging. Aber ich bitte dich, die Verantwortung kann ich doch nicht auf mich nehmen, sie hier zu behalten und der Ansteckungsgefahr auszusetzen! Die Menschen sehen ja zumeist nur die Pensionärin in ihr, die ein so glänzendes Jahrgeld zahlt, um die mich alle Kollegenfrauen beneiden …. wie fest sie mir aber als mein Pflegekind ans Herz gewachsen ist, das weiß keiner!“
„Außer mir, Maria!“
„Außer dir, versteht sich! Ich kann mir meinen Hausstand ohne Alix gar nicht mehr denken!“
„Versuch’ es lieber, es dennoch zu thun! Ein junges, schönes und schwer reiches Mädchen wie Alix wird doch immer über kurz oder lang heiraten – oder es erscheint eines schönen Tages ihr Vater und fordert sie zurück.“
„Ach, der wird sich wohl hüten, zu erscheinen! Was soll er denn mit ihr? Der seinen Kopf so voll von Projekten hat! Der kaum weiß, daß er eine einzige Tochter hat, und dem diese Thatsache, wenn er sich auf sie besinnt, höchstens unbequem ist! Und heiraten! Hat sie’s bis jetzt nicht gethan, ist auch weiter die Gefahr nicht so groß – – Herrgott, wie kann man so ungestüm klingeln!“
Beide Gatten lauschten stumm hinaus. Das heftige Läuten wiederholte sich nicht, wohl aber pochte es diskret an die Thür.
„Das ist Berthas Klopfen. Nun, Bertha?“
Das Mädchen schlich, wie zuvor, auf den Fußspitzen herein und reichte ihrer Herrschaft ein Telegramm.
„Der Depeschenbote war’s. Für unser gnädiges Fräulein. Soll ich es ihr hintragen?“
„Aus Josephsthal.“ Der Professor drehte das zusammengelegte Blättchen unschlüssig hin und her.
„Am Ende meldet ihr Vater seine Ankunft!“
„Jetzt?“
„Allerdings ist er um diese Zeit noch nie gekommen. Vielleicht …. gehen Sie einstweilen, Bertha – – was möchten Sie noch?“
„Bloß – bloß möcht’ ich wissen“ – die frische, hübsche Frankfurterin zerdrückte vor Verlegenheit erbarmungslos die steifgebügelte schneeweiße Schürze – „bloß, wie’s unserm Wernerchen geht!“
„Besser, viel besser, gottlob, Bertha!“
„Und sie werden ihm nicht innen im Hals schneiden?“
„Nein, das ist nicht mehr nötig!“
„Ach, ich dank denn auch viele Male!“ Bertha sagte dies so strahlenden Angesichts, als hätte sie das schönste Geschenk erhalten. „Und wenn ich zum gnädigen Fräulein gehen soll …. ich kann gleich laufen!“
„Ist nicht nötig!“ sagte eine Stimme hinter ihr. „Das gnädige Fräulein ist selbst zur Stelle!“
„Alix, Alix!“ rief Frau Laurentius erschrocken und streckte die Hand vor, als wollte sie die Eintretende von sich abwehren.
„Nun, was denn, mein Gott? Mir hat’s keine Ruhe gelassen, und Bertha blieb mir zu lange aus – ich mußte selbst kommen, nach dem Jungen fragen. Wegen Else braucht ihr nicht bange zu sein – ich bin zu Fuß gekommen, direkt durchs ganze Schneegestöber gelaufen und ebenso geh’ ich zurück. Kann mich auch noch mit irgend ’nem Zeug desinfizieren, wenn euch das beruhigt!“
„Nicht Elschens wegen allein! Du selbst, Kind –“
„Ich?“ Das Mädchen lachte trotzig auf. „Als ob ich’s nicht bewiesen hätte, daß ich gefeit bin gegen jede Ansteckung. Denk doch daran, wie Else Scharlach hatte …. Sag’ mir aber endlich Bescheid, Maria – daß es viel besser geht, seh’ ich euch beiden sofort an den Gesichtern an, also – was hat der große Mann der Wissenschaft gesagt?“
„Geduld, Geduld, Kind!“ sagte der Professor. „Hier ist eine Depesche für Sie – wollen Sie nicht zuerst –“
„Ach, bewahre!“ machte sie gleichgültig. „Das wissen Sie doch, wie oft Papa mir depeschiert, es spart ihm die Zeit fürs Briefeschreiben. Also, nun sag’ mir alles, Maria, ja?“
Das that die Professorin. Und während sie sprach und in ihrer anschaulichen Manier lebhaft schilderte, kam ein warmes Licht in die dunkelblauen Augen ihrer Zuhörerin, wunderschöne, länglich geschnittene Augen, die unter dunklen Brauen lagen.
„Nun, gottlob! Ich war immer mit meinen Gedanken hier! Weißt du, mit dem Ausquartieren ist das eine schauerliche Sache – man steht noch zehnmal mehr Angst aus, wenn man fern sein muß, als wenn man dabei sein kann!“
„Du läßt dich ja gar nicht fernhalten!“
„Nein! Thu’ ich auch nicht! Ich bin überhaupt bloß Elses wegen fortgegangen. Bekomm’ ich keinen Kuß, Maria?“
„Alix, wirklich, du mußt verständig sein! Ich war doch eben erst bei Werner, habe mich freilich vorgesehen, aber es könnte –“
„Schön, schön! ‚Zur Liebe kann ich dich nicht zwingen!‘ Denken wir an Else! Sie ist übrigens munter, die kleine Maus; ich hab’ ihr’s natürlich nicht gesagt, daß ich herging, sonst hätte sie geweint und mitgewollt. Sie redet immerzu von euch und von Werner und will für ihn sehr viel Chokolade und bunte Bildchen aufheben – wenn sie es durchsetzt nota bene! Die Leute sind alle sehr gut zu ihr; denen ist solch’ kleines Mädchen wie ein neues Spielzeug!“
„Verwöhnt mir nur meine Tochter nicht!“ mahnte der Professor. „Aber nun – Ihr Telegramm – wollen Sie es jetzt nicht öffnen, Alix?“
Er reichte es ihr hin, sie riß die Marke los, schlug das Blatt auseinander und sah lächelnd hinein. Das Lächeln wich alsbald von ihrem Gesicht, wie sie las – es war ein längeres Telegramm.
Der Professor sah das und wollte fragen; seine Frau machte ihm ein Zeichen, still zu bleiben. Mit Sorge beobachtete sie, wie sich des Mädchens Brauen während des Lesens aneinanderrückten, [455] wie die vollen Lippen sich zusammenpreßten. Unwillkürlich griff Maria nach ihres Mannes Hand und hielt sich daran fest.
Alix mußte die Depesche nochmals überlesen; es dauerte lange, ehe sie das Blatt ihrer älteren Freundin hinreichte. Sie sagte kein Wort dazu.
Das Ehepaar blickte gleichzeitig in das offene Blatt.
„Fräulein Alexandra von Hofmann. Frankfurt am Main.
Ihr Herr Vater leider verunglückt. Schwere Kopfwunde. Zustand bedenklich. Beste Aerzte sofort aufgeboten. Alles Erforderliche veranlaßt. Pflege und Wartung vortrefflich. Patient ohne Besinnung. Aerzte vorläufig außerstande, endgültige Diagnose zu stellen. Jedenfalls bitte nicht eher abzureisen, als bis Brief eintrifft. Ueberweg.“
Keines von den dreien sprach zunächst. In der tiefen Stille, die im Zimmer herrschte, hörte man deutlich, wie draußen ein Windstoß eine ganze Ladung von Schneeflocken gegen die Fensterscheiben warf.
Der Professor brach endlich das Schweigen.
„Fassen Sie Mut, Alix!“ sagte er mit gedämpfter Stimme. „Es ist vielleicht nicht so schlimm. Nähere Angaben fehlen – die wird der Brief enthalten. Auf jeden Fall müssen Sie bleiben, bis der Brief eingetroffen ist – er muß alles entscheiden!“
Halb mechanisch nickte das junge Mädchen. „Ja – – den werd’ ich abwarten müssen.“ Nach einer Pause fügte sie mit etwas belebterer Stimme hinzu: „Wann kann er hier sein?“
„Lassen Sie mich sehen, wann die Depesche aufgegeben ist. Halb sechs Uhr nachmittags; jetzt haben wir gleich Sieben. Das – das – Unglück kann vielleicht um zwei Uhr geschehen sein. Wie gut, daß der alte Rechtsbeistand Ihres Vaters aus Greifswald zufällig gerade in Josephsthal war! Der Justizrat hat erst depeschiert, als alle Maßregeln getroffen, Aerzte zur Stelle waren, das nimmt schon Zeit in Anspruch. Jedenfalls hat er seinen Brief inzwischen geschrieben und schickt ihn mit dem Nachtschnellzug fort. Morgen früh um Acht können wir ihn hier haben.“
„Und du würdest dann mit dem Neunuhrzug fahren und wärest abends sieben Uhr an Ort und Stelle.“
„Ja – morgen um diese Zeit!“ sagte Alix tonlos.
Der Professor stand auf. „Ich lasse Sie jetzt bei meiner Frau, liebe Alix; muß doch endlich nach meinem Jungen sehen. Keine Angst, Maria, ich weck’ ihn dir nicht auf!“
Er drückte dem jungen Mädchen fest und bedeutsam die Hand und ging aus dem Zimmer. Es war nur ein Vorwand gewesen; er ließ seinen Knaben ruhig schlafen und ging in das kleine Boudoir seiner Frau hinüber, in dem eine rosa verschleierte Lampe brannte. Vom Bücherbrett nahm er auf gut Glück ein Buch herunter und setzte sich damit in einen der tiefen niedrigen Sessel, die umherstanden. Seine Frau und Alix sollten jetzt allein miteinander sein. – – Die Professorin hielt die feine Hand ihrer jungen Gefährtin, die vor Schreck kalt geworden war. Sie hatte eigentümlich beseelte Hände; fest und zuverlässig im Druck, lind und sanft, wenn es Leidende anzufassen galt, geschickt und tüchtig zu jeder Hantierung – „Segenshände“ hatte der Gatte sie getauft.
Unbewußt empfand das verstörte junge Geschöpf den Einfluß dieser Berührung. Alix hob den Kopf und sah empor.
„Ach, Maria, die Ungewißheit – die Ungewißheit! Das ist das schlimmste! Wenn ich heute noch reiste – was meinst du?“
„Nein, Kind! Kannst du wissen, was im Brief steht? Ob nicht irgend welche Bestimmung –“
„Ach, reisen würd’ ich ja auf jeden Fall, selbst wenn es im Brief heißen würde, es ginge besser – nur nicht warten!“
„Ueberweg ist eine vorsichtige Natur. Er wird gewußt haben, was er that, als er dir so bestimmt zu warten anriet.“
„Warten! Ein entsetzliches Wort! Vielleicht, Maria – vielleicht ist Papa schon tot!“
„Gott woll’ es verhüten! In dem Fall bekämst du sicher ein zweites Telegramm. Mein geliebtes Herzenskind!“
Sie faßte das Mädchengesicht in ihre beiden Hände und drückte einen innigen Kuß auf die leise zuckenden Lippen. Jetzt dachte sie nicht mehr an eine mögliche Ansteckung.
„Du bleibst selbstverständlich diese Nacht hier. Ich schicke Bertha hinüber und lasse Françoise Bescheid sagen.“
„Das wolltest du? Und Else –“
„Else geht um sieben Uhr zu Bett, du weißt ja – und ist im übrigen gut dort aufgehoben, das hast du mir selbst gesagt. Ich bleibe bei dir, bis du eingeschlafen bist, dann setz’ ich mich an Werners Bett, und von Zeit zu Zeit komm’ ich, nach dir sehen.“
„Du willst aufbleiben? Aber die Aerzte haben dir gesagt –“
„Daß es besser geht – ja, Gott sei Dank! Aber große Vorsicht und strenge Ueberwachung ist doch nötig … und bei einem so lebhaften Kind wie Werner doppelt. Ach, Liebste, daß sich dies so treffen muß – daß ich nicht mit dir reisen kann! Wirst du mir auch stark und tapfer sein bei allem Schweren, das dich voraussichtlich erwartet?“
Mit einem seltsamen Gesichtsausdruck, den wohl niemand, außer Frau Maria, richtig zu deuten gewußt hätte, nickte Alix vor sich hin. „Es muß ja sein! Du wirst doch nicht all diese Jahre umsonst versucht haben, etwas – etwas wenigstens von deinem Charakter auf mich zu übertragen!“
„Als du deinen Vater das letzte Mal sahst,“ begann die Professorin nach einer kurzen Stille, „wie war er da? Fandest du ihn unverändert? Rüstig, wie sonst?“
Alix drehte mechanisch die Depesche hin und her. „Das letzte Mal als ich ihn sah? Das war in London, bei unsern englischen Verwandten – im September vergangenen Jahres. Ich hatte gedacht, er wär’ um meinetwillen herübergekommen, um mich endlich, nach beinahe zwei Jahren, wiederzusehen; aber – du weißt es ja, ich schrieb es dir! – die Geschäfte waren wieder einmal die Hauptsache. Er wollte mit Onkel John, vor allem mit Vetter Cecil Verbindungen anknüpfen, und daß ich gerade dort zum Besuch war, gab ihm den willkommensten Vorwand –“
„Alix!“
„Wem zuliebe soll ich die Wahrheit fälschen – mir zuliebe – dir oder ihm, der jetzt vielleicht auf seinem Totenbett – –“
Sie war aufgesprungen, hatte die Hände vors Gesicht geschlagen und weinte nun endlich die leidenschaftlichen Thränen, die dies eigenartige Wesen so schwer fand.
Maria ließ sie weinen. Sie hob die zu Boden gefallene Depesche auf, und ihr Blick blieb an den Worten haften: „Zustand bedenklich!“
„Was habe ich von meinem Vater gehabt, solange ich lebe?“ kam es stoßweise und gepreßt über des Mädchens Lippen. „Was hat er von mir gehabt – haben wollen? Ob ich ihn unverändert fand damals vor einem halben Jahr, hast du gefragt. Aeußerlich sah er aus wie immer – – – aber innerlich? Was weiß ich davon? Und wenn er in dieser Stunde hinübergeht – mir ist sein Geist und seine Seele fremd geblieben, und ich muß sagen: ich habe meinen Vater nicht gekannt! Du weißt, ich kann nicht lügen, und meine Art und Weise mag wohl nicht die rechte gewesen sein – versucht hab’ ich es redlich, ihm näher zu kommen, aber ich konnte und konnte nicht den Weg zu ihm finden!“
Ach, was hätte die gute und kluge Frau darum gegeben, dem Mädchen widersprechen zu können, das selbst ihr so selten die Tiefen dieser Herzensbitterkeit erschloß, von welcher der herbe Zug in seinem sonst so jugendfrischen Wesen stammte! Dem jungen Geschöpf in dem Bilde, das es mit wenigen Strichen so düster malte, einen Lichtblick weisen zu können, der verklärte, versöhnte! Sie suchte umsonst in ihrer Erinnerung. Niemals hatte der Mann, in dessen Haus sie jahrelang gelebt, dessen Kind sie erzogen, eine Empfindung geäußert, die einem liebevollen Herzen entsprang. Später hatte er sie dann und wann pflichtschuldigst aufgesucht und mit einem beinahe fürstlichen Geschenk bedacht, abgesehen von dem reichen Jahrgeld, das er für seine Tochter zahlte …. immer aber war er der wortkarge, zugeknöpfte Geldmensch geblieben.
Er hatte als Geschäftsmann Ungeheures geleistet – hatte sich vom einfachen Mühlenbesitzer in verhältnismäßig kurzer Zeit hinaufgeschwungen zu einem der ersten Großindustriellen seines Landes, er war in den Landtag gewählt worden und in den Reichstag, hatte den Adel und zahlreiche Orden bekommen, war von hohen und höchsten Personen ausgezeichnet worden in jeder Weise – – – seinem einzigen Kind und dessen bester Freundin war er ein fremder Mann geblieben, und alle Annäherungsversuche, offene und versteckte, ungestüme und zarte, sie prallten ab an der unnahbaren Glätte und Kälte dieses Mannes, dem die Ziffer alles war, dem Empfindungen nichts weiter bedeuteten als einen überflüssigen Ballast, der am rüstigen Weiterschwimmen [458] hindert. Seine Gattin, Tochter eines verarmten Grafengeschlechtes, war ihm nur Mittel zu dem Zweck gewesen, sich eine Stellung in der Welt zu machen. Die ungeheure Enttäuschung, die sie dem Gatten bereitete, als sie ihm statt des erhofften Sohnes und Erben eine Tochter schenkte, verzieh er ihr nie, verzieh er auch dem Kinde nicht, das ihm zeitlebens als eine Art Eindringling erschien. Nachdem die Frau gestorben war im zehnten Jahre ihrer glücklosen Ehe, fand der Witwer keine Muße mehr, sich nochmals zu verheiraten. Er brachte Alexandra zu ihrer einstigen Erzieherin, die inzwischen Frau Professor Laurentius geworden war, und nun konnte er seine volle Kraft dem Unternehmen widmen, das den Angelpunkt seines Lebens bildete. Für das Kind blieb nichts – nichts als eine stets offene Hand, die schenkte und immer nur schenkte, als könne sie damit die Armut zudecken, die im Herzen wohnte. Spät erst, sehr spät hatte Alix es aufgegeben, an dies Herz zu appellieren – stolz und verbittert zog sie sich dann in sich selbst zurück, und wer sie wenig kannte, mußte sie oft launenhaft und unliebenswürdig finden. Frau Maria aber, die den Wuchs dieser dornigen Rose bis zur Wurzel verfolgte, wußte es freilich besser.
Sie schliefen diese Nacht alle nicht viel im Hause des Professors Laurentius. Nur der Knabe hatte ein paar Stunden tiefen, ungestörten Schlummers und ahnte es nicht, daß seine Eltern abwechselnd neben seinem Bett saßen und mit stiller Rührung sein etwas schmal und blaß gewordenes Gesicht betrachteten. Ein gutes, offenes Kindergesicht war es, mit den einnehmenden Zügen der Mutter.
Bald nach ein Uhr wurde der kleine Patient unruhiger, er warf sich im Schlaf von einer Seite zur andern und murmelte unverständliche Worte. Immer aber, wenn er die traumumflorten Augen für ein paar Sekunden öffnete, sah er seine Mutter oder seinen Vater neben sich, und dann spielte ein schwaches, beruhigtes Lächeln um seinen Mund: er wußte sich geborgen in der Obhut seiner Eltern!
Wenn Frau Maria ihrem Gatten den Platz am Bett des Knaben einräumte, so geschah das, weil sie nach ihrer Pflegetochter sehen mußte, die ihr kaum weniger ans Herz gewachsen war als der eigene Sohn. Sie hatte energisch auf Alix einreden müssen, ehe diese sich entschloß, überhaupt zu Bett zu gehen; sie meinte, sie würde doch nicht schlafen können. Aber Maria wies sie immer von neuem auf die anstrengende Reise und die unausbleiblichen Aufregungen des folgenden Tages hin – sie mischte ihr ein beruhigendes Pulver in ein Glas Limonade, half ihr, Stück für Stück, die Kleider ablegen und hielt die Rechte des Mädchens fest in der ihrigen. Es war, wie wenn sich ihre sorgende Zärtlichkeit für Alix heute verdoppelte – armes Kind, das die Mutter so früh verloren hatte und jetzt den Vater hergeben sollte, den es nie recht eigentlich besessen hatte! Nach dem leidenschaftlichen Ausbruch von zuvor sprach das Mädchen jetzt kaum ein Wort, und die Professorin ließ sie gewähren, sie kannte das schon an ihr. Es dauerte wohl eine Stunde, bis die fieberhaft leuchtenden Augen sich leise verschleierten und die Hand aufhörte zu zucken. Ein paar Minuten danach schlief Alix; aber zwischen ihren Brauen stand ein Schmerzenszug, und dann und wann hob ein Seufzer die Brust.
Mit dem Morgengrauen stellte sich bereits Françoise ein, die alles für die Reise ihrer jungen Herrin in Bereitschaft gesetzt hatte und nun kam, um sich Instruktionen zu holen. Françoise Dupont war in früherer Zeit bei der kleinen Alexandra von Hofmann Bonne gewesen, sie war eine „echte Pariserin“, wie sie jederzeit mit großem Stolz betonte. Das Kind sollte ein gutes Französisch lernen, und Françoise verfügte in der That über eine vortreffliche Aussprache und verstand es außerdem, sich bald mit ihrem kleinen Zögling auf vertrauten Fuß zu setzen. Als später die deutsche Erzieherin hinzukam und sich mit einem Schlage die Gunst der Mutter und die leidenschaftliche Liebe des Kindes erwarb, erwachte im Herzen der exaltierten Französin die Eifersucht, und es fehlte wenig, daß sie ihren Posten verlassen und sich nach Paris zurückbegeben hätte. Nur dem ausgleichenden Takt Marias hatte man es zu danken, daß Françoise blieb und sich allgemach in eine Situation fand, die immer noch so viel des Angenehmen und Vorteilhaften bot, daß sie weit hätte suchen können, um eine gleiche zu finden. Als Alix’ Mutter starb, war ihr Erbarmen mit der verwaisten Kleinen so groß, daß sie schwur, sie nie zu verlassen, es komme, wie es wolle. Ueberaus gewandt und geschickt in allen Handfertigkeiten, war Françoise vom Posten einer Bonne zu dem einer Kammerfrau aufgerückt, hatte ihre junge Herrin auf allen ihren Reisen begleitet, war auf diese Weise dreimal in der glücklichen Lage gewesen, „ihr unvergleichliches“ Paris wiederzusehen, und fühlte ihr Geschick mit dem ihrer jungen Gebieterin auf unlösbare Weise verknüpft.
– – Ueberwacht und blaß begab sich die Professorin gerade daran, ihr Hauswesen in gewohnter Weise zu regeln, als Françoise, eine grauhaarige, gutgewachsene Fünfzigerin mit lebhaften schwarzen Augen und scharfen Zügen, im Vorzimmer ihrer habhaft wurde und nach der von ihr beliebten Manier alles auf einmal zu wissen begehrte.
„O, Frau Professorin, bon jour! Wenn man darf sagen bon jour an solchem kalten Nebeltage, wo die Sonne gewiß gar nicht wird zum Vorschein kommen und wo so viel malheur ist in unserem Haus! Was macht sie, ma mignnonne? Hat sie geschlafen diese lange böse Nacht? Ist sie schon wach? Darf ich zu ihr? Hat sie geweint, als sie das große Unglück erfuhr? – Seigneur, wie schnell ist es gekommen, dies Ganze! Und mon petit Werné, der liebe Junge, comment va-t-il? Ich habe gepackt bis gegen zwölf Uhr – die zwei großen Koffer für mademoiselle, und endlich den meinigen auch. Ist der Brief schon da? Darf ich ihn lesen – und werden wir reisen?“
Begütigend streichelte die Professorin das erregte Gesicht. „Vor allem kommen Sie erst einmal ins Speisezimmer und nehmen eine Tasse starken Kaffee mit uns zusammen – das soll uns wohlthun! Alix schläft noch, ich war eben nach ihr sehen – sie hat keine ganz schlechte Nacht gehabt, und mit Werner kann man auch zufrieden sein, er hat sogar schon Appetit! Ein zweites Telegramm ist nicht gekommen; den Brief dürfen wir erst in einer Stunde erwarten. Ich nehme es aber als ganz bestimmt an, daß ihr beide reisen werdet!“ –
Sie saßen dann zu dreien bei der brennenden Lampe – es wollte durchaus an diesem trüben Februarmorgen nicht hell werden – vor dem dampfenden Kaffee; das Ehepaar sehr schweigsam, nur Françoise war es, die sprach. Sie mußte sprechen … in Glück wie in Leid – schweigen konnte sie nicht, es sei denn, daß Alix es ihr geradezu gebot. Und dann empfand sie es als eine große Qual. So ging denn ihre Rede auch jetzt geläufig und rasch, sie erschöpfte sich in Mutmaßungen, welcher Unglücksfall wohl „monsieur“ begegnet sein könne, ob es möglich sei, ihn noch lebend anzutreffen, ob er viel Schmerzen leiden müsse, wie ihre „mignonne“ das ganze Ereignis auffasse – dazwischen horchte sie immer auf den Ton der elektrischen Glocke aus Alix’ Zimmer, wunderte sich, wie man bei solchem Ereignis überhaupt schlafen könne, und pries in demselben Atem den Himmel, daß es dem „pauvre ange“ vergönnt sei, Schlummer zu finden.
In Wirklichkeit war Alix längst erwacht und hatte beschlossen, sich allein zu frisieren und anzukleiden. Sie kannte ihre Françoise und deren Art, über alles, was irgendwie ihr Inneres bewegte, eine wahre Redeflut auszugießen, und sie, Alix, liebte gerade das Gegenteil davon: je mehr sie seelisch ergriffen war, um so schweigsamer wurde sie. Die Professorin hatte darauf bestanden, ihren Zögling ganz unabhängig von der Hilfe anderer zu machen. Alix wußte und verstand sehr vieles, was niemand bei einem so reichen Mädchen vorausgesetzt hätte. Die praktischen Dinge des Lebens lagen ihr keineswegs fern, dank Frau Marias Grundsätzen, die dieser geboten hatten, die junge Erbin zu einem vernünftigen Menschenkind zu machen, das mit wachen Augen um sich schaut und den verschiedensten Lebensbedingungen gerecht zu werden versteht. Jetzt trat sie fix und fertig in einem dunklen Reisekleid ins Zimmer.
Sie beantwortete Frau Marias liebevolle Fragen mit einem Kuß und Händedruck, Françoises Redeschwall mit ein paar kurzen Worten und legte ihre kleine goldene Uhr neben ihre Kaffeetasse: „In zehn Minuten kann der Postbote da sein!“
„Nicht wahr, Sie sind verständig, Kind, und essen und trinken?“ bat der Professor. „Schon meiner Frau zuliebe, die sich um Sie sorgt?“
[459] Alix führte gehorsam die Tasse zum Mund. „Wie geht es Werner?“
„Er hat in der Nacht wieder etwas mehr gefiebert; jetzt hat es nachgelassen, und er schläft ganz fest.“
In der nächsten Minute fuhren sie alle vier empor – draußen hatte es heftig geläutet.
Gleich darauf brachte Betty einen an Alix adressierten Brief ins Zimmer. Diese reichte ihn Frau Maria.
„Möchtest du ihn vorlesen?“ bat sie mit bedeckter Stimme. „Was in ihm enthalten ist, kann kein Geheimnis sein und bleiben.“ Und als die Professorin zögerte, fügte sie hinzu: „Es wäre mir lieber, von dir alles zu hören, als es selbst lesen zu müssen!“
Daraufhin erbrach Maria das Schreiben:
„Josephsthal, den 18. Februar 1893.
Sehr geehrtes gnädiges Fräulein!
Nach Absendung meines Telegramms an Sie und nach einer nochmaligen Rücksprache mit den drei Aerzten, in deren Behandlung sich Ihr Herr Vater befindet, schreibe ich Ihnen diese Zeilen.
Sie müssen Ihr Herz mit Mut und Ergebung wappnen, verehrtes Fräulein; nach dem, was mir die Aerzte in Uebereinstimmung sagen, ist der Zustand Ihres Vaters äußerst bedenklich. Hoffen wir, daß, wenn Sie morgen abend hier eintreffen, eine günstigere Auffassung möglich sein wird.
Wie erschüttert ich mich fühle, da ich gezwungen bin, Ihnen, dem einzigen Kinde des Schwerkranken, diese traurige Mitteilung zu machen, wie unfaßbar es mir scheint, diesen noch gestern, noch vor einigen Stunden so lebensvollen, kräftigen Mann in seinem jetzigen Zustand sehen zu müssen, vermag ich mit Worten nicht zu schildern. Ich habe den Vorzug genossen, Ihrem Herrn Vater nahe zu stehen, nicht nur, wie Sie wissen, als sein Rechtsbeistand, dem es vergönnt war, einen Einblick in das Gebiet seiner kolossalen Thätigkeit zu gewinnen, seine Vielseitigkeit anzustaunen, seinen weitreichenden Ueberblick zu schätzen, sondern auch als Freund. – – – So liegt mir denn die traurige Aufgabe ob, Ihnen, soweit dies möglich ist, von den das schmerzliche Ereignis begleitenden Umständen Mitteilung zu machen.
Ich sage mit Absicht: soweit dies möglich ist; denn fürs erste bleibt die ganze Begebenheit noch in Dunkel gehüllt. Hoffen wir, daß dasselbe sich im Lauf der Zeit lichten wird.
Daß Ihr Herr Vater bei dem ausgedehnten Betrieb seiner Werke, einem Betrieb, der ihn zum Gebieter von Hunderten machte, nicht ohne Feinde und Widersacher geblieben ist, das, mein verehrtes, gnädiges Fräulein, werden Sie sich ohne Zweifel denken können. Geradezu unmöglich ist es, in einer solchen Stellung es allen recht zu machen, und bei den heutigen unruhigen Zeiten, da der Geist des Aufruhrs allenthalben geflissentlich geschürt wird, ist an ein gütliches Auskommen und einträchtiges Zusammengehen vollends nicht zu denken. Einer der obersten Betriebsleiter Ihres Herrn Vaters, den er selbst des öfteren im Gespräch mit mir seine ‚rechte Hand‘ genannt hat, ein ungewöhnlich intelligenter und tüchtiger Mensch, will beobachtet haben, daß sein Prinzipal in letzter Zeit verschiedentlich Briefe mit derselben Handschrift erhalten hat, die wohl Anklagen oder Drohungen, jedenfalls Unangenehmes enthalten haben mögen. Ingenieur Harnack, dies ist der Name des Betriebsleiters, hat zwar keine Einsicht in die betreffenden Briefe gehabt, aber er hat wiederholt wahrgenommen, wie Baron von Hofmann, nach flüchtiger Durchsicht derselben, sie unter Stirnrunzeln mit rascher Hand in winzige Stückchen gerissen und ins Kaminfeuer geschleudert hat. Ingenieur Harnack meint, es können ungefähr fünf bis sechs solcher Briefe gekommen sein, und zwar im Zeitraum von etwa vierzehn Tagen … daher konnte ihm die Sache auffallen und im Gedächtnis bleiben; er würde auch die Handschrift wiedererkennen, nimmt aber wohl richtig an, daß dieselbe geschickt verstellt gewesen ist. Ihr Herr Vater pflegte sehr häufig, im Sommer wie im Winter, in einem leichten, kleinen Einspännerwagen, vor den ein vorzüglicher Schnelltraber gespannt war, über Land zu fahren. Er nahm bei solchen Fahrten weder Kutscher noch Diener mit, der Wagen war ein sogenannter Selbstkutschierer, und Baron von Hofmann verstand sich ausgezeichnet auf Pferde. Herr Harnack hatte sich zuweilen, so wenig sein Prinzipal Einmischungen liebte oder auch nur duldete, erlaubt, ihn vor diesen weiten, einsamen Streifzügen zu warnen; die Antwort hatte dahin gelautet, daß diese Fahrten seit langen Jahren stets stattgefunden hätten, auch weiterhin stattfinden würden und daß ein gezogener sechsläufiger Revolver der treueste und zuverlässigste Begleiter bei ihnen sei.
Auch am heutigen Tage hat morgens bald nach zehn Uhr der leichte Schlitten, der in dieser Jahreszeit den Wagen ersetzt, vor der Thür gestanden, und Herr von Hofmann, der bis zum letzten Augenblick noch mit seinen Oberbeamten geschäftliche Fragen durchzusprechen hatte, ist in bester Gesundheit und unveränderter geistiger Elastizität davongefahren. Ein Ziel seines Weges war die große, erst kürzlich neueingerichtete Schneidemühle, die, den Fluß entlang gerechnet, etwa eine Stunde weit vom Wohnhause gelegen ist. Ein weiteres Ziel der Fahrt ist dem Beamtenpersonal Ihres Vaters nicht bekannt gewesen; es hat sich indessen herausgestellt, daß er ein solches doch noch gehabt haben muß, denn in der Schneidemühle, wo man Nachfrage gehalten hat, ist ausgesagt worden, Herr von Hofmann sei um halb elf Uhr daselbst angekommen, habe vom Schlitten herunter eine kurze Besprechung mit dem obersten Betriebsleiter des Etablissements gehabt, einige Anordnungen getroffen und sei nach etwa zehn Minuten weitergefahren, aber nicht in der Richtung nach Hause, sondern der östlichen Krümmung des Stromes folgend.
Als Ihr Herr Vater um halb ein Uhr noch nicht zurückgekehrt war, hat man einigen Anlaß zur Besorgnis gefunden, da er zu mehreren Personen von etwa einer Stunde Fortbleibens gesprochen hatte und als die Pünktlichkeit selbst bekannt war. Man schickte zu mir, der ich gerade bei dem Pfarrer in Josephsthal anwesend war: ob ich zufällig Näheres über Herrn von Hofmanns Verbleib wüßte. Dies war nicht der Fall, ich schlug indessen vor, man solle zunächst Erkundigungen in der Schneidemühle einziehen. Das war bereits geschehen und hatte das soeben erwähnte Resultat gehabt. Ich beratschlagte mit den Herren vom Beamtenpersonal, was weiter zu thun sei, als – es mochte halb Zwei geworden sein – ein Bauernschlitten und dahinter zwei andere Gefährte langsam die Auffahrt heranfuhren. Zwei von den kleineren Besitzern der Umgegend, deren einer den Arzt aus der nächsten Stadt geholt hatte, waren am Waldesrand, etwa eine Viertelstunde von jener zuvor erwähnten Krümmung des Flußes, eines umgestürzten Schlittens gewahr geworden, aus welchem ein menschlicher Körper, vorn übergeneigt, den Kopf zu unterst, heraushing. Voll Entsetzen eilten die Leute zu Hilfe, der Arzt konstatierte noch Leben in dem Körper und entdecke alsbald zwei schwere Kopfwunden, die dem Bewußtlosen an der linken Schläfe und oberhalb derselben beigebracht waren. Der sechsläufige Revolver, den Herr von Hofmann auch diesmal mit sich führte, wurde unentladen in einer Seitentasche des Pelzes vorgefunden; offenbar war seinem Besitzer gar keine Zeit mehr zur Selbstverteidigung geblieben. Ein Raubmord scheint ausgeschlossen, da sowohl die überaus kostbare Uhr nebst Kette, sowie die wertvollen Ringe des Ueberfallenen sich vorfanden, ebenso eine kleine Geldtasche mit etwa vier bis fünf Goldstücken und etwas Silber. Ob Herr von Hofmann vielleicht doch eine größere Summe bei sich gehabt, ließ sich zur Zeit noch nicht feststellen. Der Arzt legte den Notverband an, so gut es eben gehen wollte, und leitete den Transport des Schwerverwundeten. Der Josephsthaler Arzt war in wenigen Minuten gleichfalls zur Stelle, auch telegraphierte ich sofort an Professor Lange in Greifswald und schicke den Wagen für ihn zur Station. Er war in guten drei Stunden bei uns. Alle drei Aerzte geben einstimmig ihr Urteil dahin ab: der Zustand ist im höchsten Grade bedenklich!
Während der Besprechung der Doktoren, die eine geraume Zeit erforderte, habe ich ein möglichst genaues Verhör mit den Beamten und der persönlichen dienenden Umgebung Herrn von Hofmanns angestellt und, in Gegenwart eines sofort telegraphisch herbeigerufenen Amtsrichters und Aktuars, zu Protokoll nehmen lassen. Die Aussagen stimmen sämtlich überein, ich habe bis jetzt noch keinen irgendwie wertvollen Fingerzeig, der mich auf eine Spur leiten könnte, gefunden, doch war freilich die Zeit hierfür außerordentlich kurz bemessen. Die Leute sind alle, ohne Ausnahme, aufs äußerste bestürzt und betroffen, niemand von ihnen scheint eine Ahnung von dem Thäter zu haben; es herrscht eine unglaubliche Aufregung und Verwirrung unter dem Personal, dem so plötzlich der Herr genommen worden ist!
[460] Ich selbst bin tief erschüttert, und ich beklage das herbe Los, das so jählings über Sie die schmerzlichsten Sorgen verhängt, von Grund meiner Seele. Nehmen Sie meine Versicherung entgegen, daß Ihr Herr Vater in den Händen der tüchtigsten Aerzte bei umsichtigster liebevollster Behandlung sich befindet, daß ferner alles, was Menschenwille und Menschenkraft vermag, geschehen soll, um das Dunkel, das jetzt noch über der unseligen That liegt, zu lichten. Ich rechne darauf, Sie morgen abend sieben Uhr in Josephsthal empfangen zu können, und bitte Sie, sich, soweit dies in Ihren Kräften steht, die Fassung und Ruhe zu bewahren, welche die schwere und traurige Situation, die Ihrer hier harrt, dringend wünschenswert erscheinen läßt.
Meine Empfehlung Herrn und Frau Professor Laurentius.
Hochachtungsvoll ergebenst
stets der Ihrige
Dr. jur. Ueberweg.“
Frau Maria hatte den Brief mit bedeckter Stimme zu Ende gelesen, sie ließ ihn jetzt sinken und trocknete sich die Augen. Der Gedanke, daß der Mann, den sie in der Vollkraft seines Lebens, mitten im rüstigsten Wirken und Schaffen, in der Erinnerung hatte, so plötzlich als Opfer eines hinterlistigen Meuchelmörders gefallen war, erschütterte sie tief, und dazu kam ihre Sorge um Alix. Was alles stand ihr bevor – welch’ aufregende Eindrücke würden auf sie einstürmen! … Und sie mußte sie allein ziehen lassen, konnte ihr nicht stützend und helfend zur Seite stehen!
„Sobald ich hier irgend, irgend entbehrt werden kann, mein Herz, bin ich bei dir!“ flüsterte sie und nahm die willenlos herabhängende, schlaffe Hand des Mädchens in die ihre.
Mit einem schweren, bangen Blick, der ihre Augen schwarzblau erscheinen ließ, sah Alix vor sich hin. Aeußerlich bewahrte sie sich die Fassung, um die Justizrat Ueberweg sie gebeten hatte.
Sie jammerte nicht und rang nicht die Hände, sie weinte nicht einmal. Françoise dagegen machte ihrem Entsetzen zunächst in zusammenhangslosen Ausrufen, sodann in lauten Klagen und Fragen Luft. Sie jammerte immer von neuem, wie es möglich sei, daß „le bon Dieu“ dies habe zulassen können – wer es je hätte denken sollen, daß „monsieur“ ein so schreckliches Ende nehmen würde – aber Gott würde den Mörder schon finden – und ihr armes, geliebtes Kind möge doch nicht so starr und stumm vor sich hinsehen – es solle doch weinen und seinen großen Kummer in die Herzen derer ausschütten, die es so innig liebten. Und Françoise ergriff die linke Hand ihrer jungen Herrin und drückte sie an ihre Lippen, an ihre weinenden Augen.
Mit einem Ruck machte sich Alix los und sprang auf. Ihr soeben noch ganz blasses Gesicht war mit einer fliegenden Röte überzogen. „Wir müssen zum Zug! Wir kommen zu spät! Wieviel Uhr ist es?“
Der Professor zog seinen Chronometer hervor. „Zwanzig Minuten nach Acht, Sie haben recht, liebe Alix, es ist höchste Zeit!“
Ein hastiger Aufbruch. Ein Durcheinanderfragen und -rufen, ein Nachzählen der Gepäckstücke, ein rasches Versorgen mit Reisegeld. Mitten unter den aufgeregten Menschen Alix, die sich mechanisch von Françoise zurechtmachen läßt und erst, als der Wagen schon gemeldet wird, aus ihrer Versunkenheit emporfährt: „Noch einmal auf eine Minute zu Werner!“
„Aber Kind, wollen Sie sich durchaus die Diphtheritis holen?“
Das junge Mädchen schiebt Françoise, die sich ihr mit ausgebreiteten Armen in den Weg gestellt hat, beiseite.
„Ich fürchte mich nicht, und mir schadet’s auch nicht! Bleib’ du zurück, wenn du dich ängstigst! Gleich bin ich wieder da!“
Sie ist zur Thür hinaus, im Flug durch die nächsten zwei Zimmer und neigt sich über das schlafende Kind. Der intelligente und liebenswürdige Junge ist von jeher ihr besonderer Liebling gewesen; sie hat sich immer viel mit ihm abgegeben, beim Lernen wie beim Spielen, und Werner hängt an ihr mit ganzer Seele.
„Mein Herzensjunge!“ Sie nimmt behutsam die schmale Kinderhand von der Decke und drückt ihre Lippen darauf.
„Alix, wo bist du?“
„Ich komme, Maria!“
Wie im Traum findet sie sich an Marias Seite im Wagen sitzen, wie im Traum hört sie all die guten und zärtlichen Worte, die jene ihr zuflüstert, die Ermahnungen, die Bitten, bald zu schreiben, die Versicherungen treuer Liebe und tiefsten Verständnisses. Aber sie erwacht jäh aus ihren Träumen, da das Scheiden nun wirklich kommt, sie klammert sich fest an Maria, sie will sie nicht lassen, die beste, treueste Seele, die sie bisher im Leben gefunden, sie, die alles mit ihr geteilt hat, die in ihr Dasein hineingehört wie die Luft, die sie atmet!
„Meine Damen, ich muß dringend bitten – –“
Diensteifrige Hände reißen die Coupéthür auf, helfen ihr die Stufen ersteigen – gellend tönt die Pfeife – langsam gleitet der Zug aus der Halle. – – –
[485]
Den Kopf gegen die Polster gelehnt, die Augen halb geschlossen, saß Alix während der Fahrt, ohne den endlosen Redeschwall der Französin zu beachten oder auf ihre vielen Fragen nach den nichtigsten Dingen zu antworten. Ihre Gedanken tauchten tief in den Strom ihrer Erinnerungen, sie rief sich Wach, was alles sie erlebt hatte, solange sie denken konnte.
Sich selber sah sie im Geist, ein kleines, zierliches Püppchen mit fliegenden rötlichen Locken, immer in weiße, gestickte Kleidchen gehüllt, und immer mit Mama. Deutlich stand im Vordergrund all der Erinnerungen, die gleich einem Wandelpanorama an ihrem inneren Gesicht vorüberzogen, das Bild der leidenschaftlich geliebten Mutter. Mit neun Jahren hatte sie dieselbe verloren, ein zartes Kind. Jetzt, mit einundzwanzig Jahren, sollte dem erwachsenen jungen Mädchen der Vater sterben! Im Leben des Vaters – dies ging ihr mit einschneidender Gewißheit durch die Seele – hatte sie keine Rolle gespielt; er hatte sich wenig um sie bekümmert. Als kleines Mädchen hatte sie ihn fast nur bei Tisch gesehen, auch da nicht häufig, denn er war viel auf Reisen gewesen oder er hatte Geschäftsfreunde eingeladen, die mit ihm später dinierten; Alix mußte dann von Françoise zu früherer Stunde abgespeist werden. Der erste Buchhalter und der Oberingenieur, zwei unverheiratete Herren, die damals noch im Hause Herrn Hofmanns wohnten und oft bei Tisch erschienen, waren der kleinen Alix vertrauter als der eigene Vater. Die Herren gaben sich gern gelegentlich mit dem aufgeweckten Kinde ab; namentlich der Buchhalter, der sehr hübsch zu schnitzen und zu kleben verstand, verfertigte der Kleinen in seinen Mußestunden allerlei niedliches Gerät für ihre Puppenstube, und der Oberingenieur nahm sie oft zu sich aufs Pferd und ritt ein Stückchen mit ihr spazieren. Vor Papa empfand sie immer eine gewisse Scheu; sie konnte sich keiner Zeit ihres Lebens entsinnen, in der sie sich ihm hätte zärtlich nähern dürfen. Sie mußte auch bezweifeln, daß ihre Mutter an seiner Seite glücklich gewesen sei. Sie hatte nie gesehen, daß ihre Eltern sich umarmten; hin und wieder hatte ihr Vater seiner Gattin formell die Hand geküßt, das war alles gewesen, und Mama schien das ganz in Ordnung zu finden. [486] Diese aber war immer für sie da, ging mit ihr spazieren, fuhr mit ihr aus, war beim Lernen dabei und saß auch neben ihr, wenn sie spielte. Aber selbst zu spielen, dazu war die arme liebe Mama wohl zu traurig! Françoise that nur das, was ihr Liebling wollte, aber selbst etwas angeben, etwas ausdenken, das konnte sie nicht, und die drei Erzieherinnen, die Alix von ihrem sechsten bis zu ihrem achten Jahr hatte, wußten gleichfalls nicht, das lebhafte Kind anregend zu beschäftigen. – – – Das wurde mit einem Schlage anders, als Maria Normann ins Haus kam. Alix’ Mutter sah es – mußte es sehen, wie ihr Kind sich unter der klugen und liebevollen Leitung dieses Mädchens wunderbar entwickelte, wie Triebe und Keime zum Vorschein kamen, welche die schönsten Knospen und Blüten versprachen, wie sie spielend lernte und beim Spiel angeregt und belehrt wurde, ohne es zu ahnen. Eine schöne, glückliche Zeit war es gewesen, da das Kind mit Mama und ihrem geliebten Fräulein, sowie mit ihrer guten Françoise leben konnte. Sie hatte damals ihres Vaters Liebe und Sorgfalt nicht im geringsten entbehrt, reich, wie sie sich fühlte in der behütenden Zärtlichkeit dieser drei!
Mama war schön. Deutlich sah Alix im Geist die vornehme, hochgewachsene Gestalt, die anmutigen Bewegungen, das weiße, feine Gesicht. „Katharina, du hast doch verteufelt viel Rasse!“ hatte einmal Graf Alexander Holsten-Delmsbruck, ein rechter Vetter von Alix’ Mutter, bemerkt, und das Kind, das zugegen war, hatte neugierig gefragt, was „Rasse“ sei. Da hatte Onkel Alexander, ein sehr flotter Gardeoffizier und der Pate der Kleinen, nach dem sie auch den Namen hatte, gelacht, hatte sie in seine beiden Arme gefaßt, vor sich hingestellt und gesagt: „Schau dir ’mal uns beide an, deine Mama und mich, kleiner Käfer! Findest du nicht, daß wir beide Aehnlichkeit miteinander haben?“ Alix verglich ernsthaft die beiden Gesichter – ja, sie mußte es zugeben, sie glichen sich. „Nun also! Wenn Leute so groß und schlank sind wie wir zwei, und dabei doch so schmale Hände und kleine Füße, eine so biegsame Taille und solch’ feine Kopfform besitzen wie wir zwei – dann nennt man das ‚Rasse haben‘, was soviel heißen will, als: aus einem guten alten Adelsgeschlecht herstammen – verstanden? Lach’ nicht, Katharina, ich finde, ich hab’ eine sehr lichtvolle Auseinandersetzung geleistet für ein neunjähriges Verständnis!“
Mama verhielt sich ziemlich kühl gegenüber ihrer ganzen Umgebung. Selbst Maria Normann, so sehr sie von ihr eingenommen war, bekam immer nur die Gebieterin, die geborene Gräfin Holsten-Delmsbruck zu Gesicht – was an Gefühl und Innigkeit in der schönen Frau war, gehörte nur dem Kinde. Für die Interessen und Beschäftigungen ihres Gatten zeigte die Dame nicht das geringste Verständnis; ob er seinen Betrieb ausdehnte oder einschränkte, ob er baute oder niederriß, Ländereien ankaufte oder veräußerte, ob er hundert Arbeiter anwarb oder entließ, das war ihr so völlig gleichgültig, daß sie es nicht für wert hielt, auch nur eine Frage deshalb zu thun. Die Oberbeamten wurden ihr pflichtgemäß vorgestellt und von ihr pflichtgemäß dann und wann herangezogen – von den zahlreichen Unterbeamten, den vielen Angestellten, die in ihres Mannes Dienst arbeiteten, wußte sie nichts. Sie vergaß ihre Namen und ihre Gesichter, sowie sie zur Thür hinaus waren, wenn der Zufall sie jemals mit ihnen in Berührung brachte. Sich um die Arbeiter, ihre Lohn- und Wohnungsverhältnisse, ihre Lebensbedingungen zu kümmern, fiel ihr vollends nicht ein. Maria Normann aber machte mit dem Kinde Gänge und Fahrten in die stetig wachsende Kolonie, nannte ihm die Namen der verschiedenen Betriebe und ihrer Leiter, suchte einiges Interesse für die vielen Menschen, deren gemeinsame Thätigkeit der Familie Hofmann zu Reichtum und Ansehen verhalfen, in der Kleinen zu erwecken und war glücklich, als dies Bemühen nicht ohne Erfolg blieb. Alix’ Mutter legte dem nichts in den Weg, aber sie selbst that auch nichts dazu – es wurde dies von ihr als eine kleine „Eigentümlichkeit“ der sonst so vortrefflichen Erzieherin geduldet.
An der Hand der Erzieherin ging Alix nun mehrmals wöchentlich durch die schnurgeraden Straßen der „Kolonie Josephsthal“, die rechts und links mit gleichförmig aufgebauten Häuschen besetzt waren. Hier spielten kleine Kinder vor den Thüren, dort saßen Hausfrauen auf der Schwelle und putzten Gemüse oder besserten Kleidungsstücke aus; Alix wurde angehalten, ihnen im Vorübergehen zuzunicken, den Kindern gelegentlich die Hand zu reichen, sie dies und jenes zu fragen. Sie that es mit guter Manier und einem kleinen innerlichen Herrscherbewußtsein: die alle haben mir zu dienen, und ich kann ihnen befehlen! – Lieber aber als in die Kolonie ging sie doch mit Fräulein Normann in die Maschinenräume der Oel-, Dampf- und Walzmühle. Ihre großen Kinderaugen staunten die gewaltigen keuchenden, rasselnden und fauchenden Ungetüme, die sich mit ihrem vielgestaltigen Räder- und Schraubenwerk unaufhörlich bewegten, mit einer Art von schauderndem Respekt an. Sie stießen sie ab und zogen sie in geheimnisvoller Weise wieder an, diese Maschinen, sie kamen ihr wie lebende Wesen vor, die ihren Tribut forderten, und immer mußte sie in Angst sein um die Menschen, die so sicher und scheinbar unbekümmert zwischen all den Walzen und Hämmern, den Kurbeln und Rädern herumhantierten, über schmale Brettchen hinweggingen, durch Luken krochen und kleine Treppen erklimmten. Zuweilen kam der Oberingenieur und erklärte Fräulein Normann einzelne Dinge, nach denen sie fragte.
Da war mitten hinein in dies Leben, in welchem das Kind unbewußt sich so wohl fühlte, ein jäher, schrecklicher Schlag gefallen: die Mutter war erkrankt an einem anscheinend ganz harmlosen Fieber, das rasch, binnen kaum zwölf Stunden, einen bösartigen Charakter annahm und die zweiunddreißigjährige Frau hinwegraffte, ehe ihre Umgebung noch recht zur Besinnung gekommen war.
Die ersten Tage mit ihrem dumpfen Schreckgefühl, die Tage, da fast die ganze hochadelige Verwandtschaft der Verstorbenen erschienen war, um der schönen Katharina von Holsten-Delmsbruck die letzte Ehre zu erweisen – das feudale Leichenbegängnis mit seinem düstern Pomp, die Feier in der erleuchteten Kapelle, die schwarzen Gewänder, die Thränen und Seufzer …. all das war für das einzige Kind der Toten noch nicht das schwerste gewesen. Das kam erst, als die Verwandten abgereist waren, als die Zimmer der Verstorbenen aufgeräumt, ihre Kleider verschlossen wurden, als alles, alles wieder ins Geleise des täglichen Lebens einlenkte – und nur die Mutter nicht mehr da war.
Alix konnte das nicht fassen. Zügellos brach ihr ungestümer Kinderschmerz hervor, rührend und erschreckend zugleich für ihre Umgebung. Sie verweigerte Essen und Trinken, wollte sich unten im Grabgewölbe der Kapelle über Mamas Sarg werfen und da liegen bleiben, bis sie tot sei, sie wollte nichts sehen und nichts wissen von allem, was ihr bis dahin lieb und wichtig gewesen war: Mama sollte da sein – Mama sollte kommen und sie holen – ein Leben ohne Mama gab es nicht für sie! Françoise war in dieser Zeit ganz machtlos dem leidenschaftlichen Kinde gegenüber. Nur Maria Normann hatte ihren Einfluß nicht ganz eingebüßt. Sie wurde nicht müde, über Mama zu sprechen, sie saß stundenlang mit dem Kinde in der Kapelle und flocht Kränze, sie stand mitten in der Nacht auf, wenn sie Alix in ihrem Bett weinen hörte, zündete Licht an, nahm das Kind auf ihren Schoß, betete und weinte mit ihm, bis das müde Köpfchen zurücksank und Alix inmitten ihrer Thränen einschlief. Als aber eben der erste fassungslose Jammer des kleinen Mädchens zu verstummen begann, da mußte Maria Normann auf mehrere Wochen fort – ihr Vater war in Dresden auf den Tod erkrankt und rief die einzige Tochter zu sich. Es hatte einen über die Maßen aufregenden Abschied gegeben, ein endloses Fragen: „Du kommst doch wieder?“, ein unaufhörliches Versprechen: „Ich bin bald, bald wieder bei dir!“, bis Françoise das Kind mit Gewalt aus den Armen ihrer Erzieherin reißen mußte. –
Und in den schrecklichen Wochen, die nun folgten, da das Kind, trotz täglicher Nachrichten von Maria, sich namenlos einsam fühlte und sich sehnte und sehnte, bis es fast verging – – da war es gewesen, daß Alix der Gedanke kam, Trost bei ihrem Vater zu suchen.
Eines Abends, als Françoise fortgegangen war und Papa in seinem Zimmer saß und arbeitete – o, wie zum Greifen deutlich sie das jetzt noch alles vor sich sah! – da war sie, ein kleines, furchtsames Geschöpf, mit hochschlagendem Herzen durch den langen erleuchteten Korridor gehuscht, hatte leise die Thür geöffnet und hatte in dem hohen, ernst ausgestatteten Gemach, wo der Hausherr im Sessel vor seinem Schreibtisch saß, seine Rechte, die eben die Feder zum Schreiben ansetzte, mit ihren beiden zitternden Kinderhändchen niedergezogen und mit flehender Stimme gebeten: „Papa – lieber Papa, sprich mit mir von Mama!“
[487] Sie sah ihn noch immer, den erstaunten, verständnislosen Blick, mit dem er auf ihre kleine Gestalt in dem schwarzen Trauerkleid herabschaute! Sie fühlte jetzt noch seine kühle Hand ohne Gegendruck und ohne Regung in ihren zuckenden Fingerchen! Sie hörte heute noch die kaltklingende Stimme fragen: „Wie bist du hier hereingekommen, Alexandra? Wo ist Françoise?“
„Ich – ich weiß nicht!“ hatte sie hervorgestottert. Und dann mit hervorbrechenden Thränen: „Es ist so schrecklich!“
„Was ist schrecklich?“
„Ohne Mama zu sein! Ich – du – du – sollst mir von ihr erzählen, wie – Maria es – immer that!“
„Hilft dir das etwas? Bekommst du dadurch deine Mutter zurück? Du weißt es doch, man hat es dir doch erklärt: sie ist tot und kann nicht wiederkommen!“
In ungläubigem Schreck hatten ihre großen Augen – so ganz die Augen der Verstorbenen! – zu ihm in die Höhe gesehen. War das alles – der ganze Trost, den der Vater für sein Kind hatte? Fiel es ihm gar nicht ein, seinen Arm um die schmächtige kleine Gestalt zu legen, sie an sein Herz zu nehmen und ihr zu sagen, daß er sie liebe, doppelt liebe, nun sie ohne Mutter war, und daß er immer, immer für sie da sein wolle?
Nein – es fiel ihm nicht ein! Er sah ratlos und ein wenig verlegen auf das Kind, dessen Augen schon wieder mit Thränen gefüllt waren, nieder, und dann warf er einen Seitenblick auf seine Arbeiten auf dem Schreibtisch, an deren Weiterführung Alix’ Eintritt ihn verhindert hatte. Er wartete ein Weilchen, ob sie seine Frage über die Toten beantworten würde; da es nicht geschah, erhob er sich von seinem Sessel.
„Komm’ jetzt mit mir, wir wollen Françoise suchen. Wie durfte sie dich allein lassen?“
Im Korridor kam ihnen schon Françoise, die ihre kleine Pflegebefohlene suchte, entgegen.
„Sie dürfen Alexandra nicht verlassen. Sie ist zu mir auf mein Zimmer gekommen, das darf sich nicht wiederholen. Sie muß in angemessener Weise beschäftigt werden, bis Fräulein Normann zurückkehrt, Sie haben dafür zu sorgen!“
Die Französin hatte sich stumm verbeugt und das Kind bei der Hand genommen.
Ach, sie hatte später auch versucht, ihn mit schüchternen kleinen Aufmerksamkeiten zu erfreuen; sie hatte ihm Blumensträußchen auf den Schreibtisch gestellt, ihm die schönsten Trauben und Pfirsiche selbst gepflückt und neben sein Couvert gelegt – sie hatte Mamas Bild bekränzt und ihm ein hübsches französisches Gedicht aufgeschrieben: er nahm kaum Nottz davon oder er schob die Dinge einfach beiseite, als wären sie ihm nur im Wege. Wenn ihr Geburtstag kam, erhielt Fräulein Normann eine Summe Geldes, um einzukaufen, was sie für gut fand.
Da hieß es denn: „Dies Kleid und dieser Hut und diese schöne Pariser Puppe ist von Papa. Geh’ hin zu ihm, Alix, und bedank’ dich!“ Dieser Dank fiel, da das Kind den Zusammenhang der Dinge durchschaute, sehr kurz und formell aus, aber das schien Herrn von Hofmann gerade recht zu sein.
– – – Maria Normann hatte sich während ihres Dresdner Aufenthaltes mit dem Oberlehrer Laurentius verlobt. Der Brautstand mußte einige Jahre dauern, da der Bräutigam noch ohne Anstellung war. Während dieser Jahre blieb die Erzieherin bei Alix in Josephsthal. Das Kind entwickelte sich geistig wie körperlich ungewöhnlich früh, es dachte sehr selbständig und beobachtete scharf. Körperlich war es sehr zart, es wuchs rasch, war blutarm, und der Arzt verordnete die äußerste Schonung. In jedem Sommer mußte Maria Normann mit Alix in ein anderes Bad gehen; jetzt war es Höhenluft, die sie atmen sollte, jetzt mußte sie Solbäder nehmen, dann wieder wochenlang im Nadelwald leben.
Als die Erzieherin heiratete, stand ihr Zögling im zwölften Jahr, und Herr von Hofmann entschloß sich kurz, seine Tochter aus dem Hause zu geben. Wollte Maria Normann sie in ihr Heim aufnehmen, das in Frankfurt am Main lag, und für geeignete Lehrer sorgen, die des Mädchens Bildung weiter förderten, so war der Vater bereit, eine sehr namhafte Summe jährlich zu diesem Zweck herzugeben; wollte die Erzieherin dies nicht, so galt es, in irgend einer Großstadt eine anderweitige gute Pension ausfindig zu machen.
Es war weder Maria noch ihrem Verlobten ein besonders angenehmer Gedanke, ihren jungen Ehestand gleich mit einer in gewisser Weise verwöhnten und anspruchsvollen Pensionärin zu beginnen, so gut auch das reiche Jahrgeld dem unbemittelten Paar zu statten gekommen wäre. Die Erzieherin war zu gewissenhaft, einen so hohen Preis entgegenzunehmen, wenn sie nicht als Entgelt dafür ihre ganze Persönlichkeit, nach wie vor, einsetzen konnte. So wurde, nach langem, sorgfältigem Erwägen, ein vortreffliches Pensionat in Dresden ausgewählt und Alix dorthin gebracht. Es ging aber nicht nach Wunsch. Briefe voll leidenschaftlicher Sehnsucht, voll trübseliger Klagen kamen an Maria – inständige Bitten des Mädchens, es doch um Gottes Willen in ihr Heim aufzunehmen, machten dieser das Herz schwer, und auch als Herr von Hofmann seine Tochter nach Brüssel in ein großartiges Fräulein-Institut gebracht hatte, beharrte Alix dabei: glücklich werde sie sich erst wieder fühlen, wenn sie bei ihrer Maria leben werde. Da entschloß sich diese denn endlich, nachzugeben. Sie sprach eingehend mit ihrem Gatten, sie schrieb ausführlich an Herrn von Hofmann, und das Resultat davon war, daß das Ehepaar Laurentius samt dem kleinen Werner eine neue, sehr geräumige und elegante Wohnung bezog und die drei schönsten Zimmer derselben mit allem Luxus und Komfort für Alix von Hofmann und Françoise eingerichtet wurden. Der Professor selbst übernahm einige Unterrichtsstunden bei dem sechzehnjährigen Mädchen, für die übrigen Fächer wurden die besten Lehrkräfte herangezogen, und die junge Erbin war endlich, wie sie immer wieder mit tiefer Befriedigung erklärte, „nach Hause gekommen“. Das Ehepaar Laurentius ließ es sich dann auch angelegen sein, dem aufgeweckten Mädchen zu Vergnügen und anregenden Zerstreuungen zu verhelfen. Alix besuchte die besten Konzerte und Theateraufführungen, sie bekam Reitunterricht, sie nahm teil an Bällen und Maskenfesten, sie ging zu den Verwandten nach England, aber immer kehrte sie voll Dank und Freude in „ihr Heim“ zurück, und wie man die Professorin vielfach um den „Goldfisch“, der eine so glänzende Pension zahlte, beneidete, so schwärmten wiederum Alix’ Freundinnen für die Familie, bei der sie eine so sichere Zuflucht gefunden, die so reizende Tanzfeste und Lesekränzchen zu arrangieren wußte, die immer etwas Neues und Hübsches erfand, was die jungen Gemüter anregte.
Daß Alix bei ihrem Aeußern und ihrem Vermögen viele Freier fand, verstand sich von selbst. Im ganzen hatte sie Herren gegenüber ein ziemlich herbes, absprechendes Wesen, und die Professorin, die sie gern recht liebenswürdig und verbindlich gesehen hätte, tadelte sie oft darum. Das hatte aber wenig Erfolg. Mit ihrem kurzen, spöttischen Lachen pflegte Alix zu erwidern: „Vorläufig gefällt mir von allen Männern, die ich kenne, am besten immer dein Mann – und du mußt doch zugeben, daß ich mich gegen ihn weder hochmütig noch ablehnend betrage. Nun also! Was willst du eigentlich von mir?“
Ihren Vater sah Alix verhältnismäßig häufig. Er hatte sie in Dresden und in Brüssel besucht, er passierte auch Frankfurt oft; seine ausgedehnten geschäftlichen Beziehungen machten ihm viele Reisen zur Bedingung. Auf seine Art war er jetzt mit seiner Tochter ganz zufrieden. Sie sah schön und vornehm aus, sie hatte gute Manieren, verwandte ihr vieles Geld vernünftig, kleidete sich elegant und hatte es allgemach aufgegeben, ihm mit ihren Gefühlsanwandlungen zu kommen. Ob ihr dies schwer fiel, ob sie innerlich darunter litt, darüber machte sich Herr von Hofmann weiter keine Gedanken. Er war fest davon überzeugt, ein sehr guter Vater zu sein. Jeder Wunsch von Alix, der ihm während ihrer Minderjährigkeit von Maria Laurentius gewissenhaft unterbreitet wurde, fand bei ihm Gewährung: das junge Mädchen durfte sich ein schönes englisches Reitpferd kaufen und einen Groom zur Begleitung halten – es hatte eine Loge in der Oper, konnte auf Reisen gehen, wann und wohin es ihm beliebte, zahlte die höchsten Honorare für seine Stunden und war in der guten Gesellschaft einer der ersten „stars“. Noch weniger hatte der Vater etwas dagegen, daß das Mädchen so viel Körbe austeilte. Ihm eilte es keineswegs damit, die Tochter, nun er sie so gut untergebracht wußte, besonders frühzeitig zu verheiraten. Er hatte so seinen stillen Plan, der ihm noch nicht reif genug dünkte … war er das, so würde er dessen Verwirklichung schon durchzusetzen wissen, und bis dahin konnte es ihm nur lieb sein, wenn Alix die Turandot spielte!
[488] Es kam zuweilen sogar vor, daß Herr von Hofmann, angesichts eines besonders schönen Juwelierladens oder Modewarenmagazins, seine Tochter fragte: „Möchtest du etwas haben, Alexandra?“ (Er nannte sie niemals Alix!) „Wünschest du dir etwas?“ – Dann zuckte es wohl heiß und wehevoll in ihrem Herzen, und sie hätte ausrufen mögen: „Deine Liebe will ich haben!“ Aber sie sagte nichts davon – was hätte es denn genützt? Ist eine Liebe, um die man bitten muß, überhaupt Liebe zu nennen?
Einen einzigen Wunsch hatte sie freilich mehrfach geäußert und immer vergebens: den Wunsch, einmal wieder in ihre Heimat zu kommen! Wie lange war sie nicht mehr dort gewesen!
Daß an Stelle des alten Wohnhauses ein neuer schloßartiger Bau entstanden war, wußte Alix; eine große Photographie davon hing über ihrem Schreibtisch. So stolz und stattlich das Schloß anzusehen war, das junge Mädchen konnte es nie ohne Wehmut betrachten. Nun existierten die Räume nicht mehr, in denen sie mit ihrer Mutter geweilt hatte! – Mamas blaues Boudoir, in dem immer weiße und lichtgelbe gefüllte Nelken dufteten … Alix’ gemütliches Kinderzimmer mit seinen Etageren und Puppenschränken, Marias Gemächer, die oben lagen und einen so schönen weiten Blick über den Park gewährten – ach, und die Sessel, die Sofas und Bilder, an die sich so liebe Erinnerungen an Mama knüpften! Alix wußte, daß das ganze Mobiliar durchweg erneuert worden war – wo mochten all die vertrauten, alten Sachen hingekommen sein? Sie wagte es nicht, ihren Vater danach zu fragen, wagte es auch nicht, gegen seinen ausgesprochenen Wunsch und Willen nach Josephsthal zu kommen. Er hatte sich bei den verschiedensten Gelegenheiten außerordentlich mißbilligend über alle Überraschungen geäußert: sie fielen gewöhnlich ins Wasser, brächten den Beteiligten fast immer Enttäuschungen, oft sogar direkten Schaden, und er für seine Person sei ein abgesagter Feind von derlei Dingen, und müsse sie sich allen Ernstes verbitten.
So war denn Alix ihrer Heimat gänzlich entfremdet und trotzdem kehrten ihre Gedanken immer wieder zu derselben zurück. Im Hause des Professor Laurentius wehte eine freie und reine Geistesluft, und Alix hatte von dieser gesunden Luft innerhalb der letzten fünf Jahre genug eingesogen, um den Gedanken, als Herr über viele gesetzt zu sein, denen man nützen und helfen könne, groß und schön zu finden und mit fast leidenschaftlichem Verlangen zu wünschen, ihr Vater möge in ihrem Sinn und Geist, in ihrer Auffassung seiner hohen Aufgabe gerecht werden. So wie sie ihn zu kennen meinte, zweifelte sie indessen stark an seinem Willen dazu. Daß er ihr nie Auskunft darüber geben würde, schien ihr ziemlich gewiß; dennoch wagte sie ein- oder zweimal eine Frage, die darauf Bezug hatte, erlebte aber eine sehr schroffe Abweisung: das seien Dinge, die Frauen, und wenn es die klügsten ihres Geschlechtes wären, überhaupt nicht verstünden und hoffentlich auch in Zukunft nie verstehen würden! Aus Büchern, Zeitungsberichten, Reichstagsverhandlungen und so weiter könne man sich absolut kein Material für die rechte Beurteilung dieser Verhältnisse bilden, das liefere dem Mann, der mitten darin stände, einzig nur das praktische Leben und die Erfahrung – – alles andere sei eitel Theorie und leeres Gerede; mit dem Schwärmen für Menschenbeglückung möchten die Phantasten, die oft noch einen weit schlimmeren Namen verdienten, den Besitzenden das Geld aus der Tasche holen – das sei alles! Für Alix’ Einwürfe, die ihm den und jenen Fabrikherrn namhaft machte, der neben seinem eigenen Wohl auch das der ihm Unterstellten besonders berücksichtigte, hatte Herr von Hofmann nur ein geringschätziges Achselzucken: das komme nicht nur auf den Herrn selbst, sondern auch auf den Menschenschlag an, mit dem er es zu thun habe, – im übrigen müsse jeder zusehen, wie er mit seinem lebenden Arbeitsmaterial fertig werde!
Mit solchen Bemerkungen mußte das junge Mädchen sich abspeisen lassen – aber die Worte „lebendes Arbeitsmaterial“ klangen ihr oft, wie oft! noch in Ohr und Herzen wieder!
Sollte wirklich aus den Reihen dieses „lebenden Arbeitsmaterials“ die tödliche Kugel auf den Herrn und Gebieter der Kolonie Josephsthal abgesandt worden sein?
Rasselnd, sausend, keuchend fliegt der Bahnzug durch die dunkle Landschaft. Funken stieben gen Himmel, ganze Garben, wie von zorniger Faust emporgeschleudert. Weithingedehnt, unübersehbar ruht das Land unter der weißen Schneedecke. Die Sterne stehlen sich einzeln unter schwerziehenden Wolken hervor und blinzeln matt auf die ruhende Welt herunter. Ruhend? Ach, wie viel Hasten und Sorgen und Mühen, wie viel Quälen und Aengstigen hier unten, und wie wenig, wie wenig wirkliche, wohlthuende Ruhe!! –
Françoise hat lange Zeit im Coupé geschlafen, jetzt ist sie eine Weile wach und hat mit inniger Genugthuung bemerkt, daß die ruhelosen, großen Augen, die so weit geöffnet ins Licht gestarrt hatten, endlich, endlich geschlossen sind. Mit vorsichtiger Hand schiebt die Französin eines der weichen seidenen Kissen unter den Kopf des jungen Mädchens, zieht die Reisedecke höher und verdunkelt die Lampe, so daß nur ein matter Lichtschimmer durch den blauen Vorhang dringt. Geschäftig kramt sie Wein und kleine Appetitbrötchen hervor und stellt alles auf dem kleinen verstellbaren Tisch zurecht: wenn der Liebling erwacht, so muß sie durchaus etwas essen – aber fürs erste möge sie nur schlafen, recht lange und süß schlafen!
Was ist es denn an der Zeit? Françoise zieht die Uhr – gleich Fünf! Noch zwei Stunden also, und sie sind dort – dort in Josephsthal, wo sie in fast zehn Jahren nicht mehr gewesen sind, wo Aufregung und Verwirrung herrschen werden, wo vielleicht der Tod schon seinen Einzug gehalten hat!
Fröstelnd überläuft es sie. Wahrhaftig, sie muß auch ein Glas Wein nehmen, sie fühlt sich ganz schwach. So! Das hat gestärkt! Wie gut, daß Madame Laurentius ihnen eine Flasche von dem alten, feurigen Madeira mitgegeben hat. Ja, Madame ist sehr, sehr achtsam, sie vergißt nichts von dem, was gut und nötig ist. Nun es der Französin so warm und belebend durch die Adern rinnt, kann sie schon eher die Dinge an sich herankommen lassen, und ganz schreckliche Dinge werden es sein, ohne allen Zweifel: Gerichtsverhandlungen, Zeugenverhöre, Untersuchungen! Ob man auch sie, Françoise Dupont, gerichtlich vernehmen wird? Aber sie ist ja in Frankfurt gewesen, als das Verbrechen geschah, sie kann nichts aussagen.
Ce pauvre monsieur Hofmann! Eigentlich, wenn Françoise sich die Sache recht überlegt, hat sie nie besondere Sympathie für Monsieur gehabt. Natürlich, es thut ihr unendlich leid, daß man ein Attentat auf ihn verübt hat, noch dazu eins, das einen tödlichen Ausgang befürchten läßt …. aber sonst!! – Hat wohl Monsieur jemals ein warmes, anerkennendes Wort für sie, für ihre dem Hofmannschen Hause seit mehr als siebzehn Jahren gewidmeten treuen Dienste gehabt? Es ist wahr, Monsieur hat nie gespart, er hat sie reich besoldet, sie hat einen hübschen Sparpfennig und hat auch Geld nach Hause schicken können an ihre Schwester in Asnières – aber ein freundliches Dankeswort hätte sie wohl verdient! Freilich, Monsieur hat ein kühles Herz, er ist sogar kühl geblieben gegenüber seinem einzigen Kinde – man sollte es nicht glauben, wenn man es nicht zahllose Male hätte mit ansehen müssen! Die Französin neigt sich vor und studiert das Gesicht des schlummernden Mädchens so eingehend, als sähe sie es heute zum erstenmal. Wie rein in den Linien ist es, wie wunderschön geschnitten Mund und Augen! Ein Zug von Hochmut liegt zwischen den dunklen, geradgezogenen Brauen – den hatte die Mutter auch – aber die Mutter verstand nicht so lieblich zu lächeln, wie Alix das kann. Françoise hat es wohl hundertmal gesehen, das zornige Wetterleuchten in den Augen, die finstere Stirn – und bald darauf dies allmählich sich hervorwagende Lächeln, ein wenig verlegen fast – weich und schüchtern – und dann wird das junge, herrische Gesicht ganz in Sonnenlicht getaucht. Nein, nein, sie ist goldig, und die Französin möchte sie schon nicht anders haben. Auch ist es hübsch, mit ihr auszugehen und zu beobachten, wie die Leute rasch den Kopf nach ihr drehen oder sie bewundernd anstarren …. Und nun erst die jungen Herren, die sie gern heiraten möchten! In England waren es drei, und ein Baronet war darunter – aber nein, mignonne hatte ihn trotz dessen nicht haben wollen. Sie würde doch wohl irgend einen deutschen Standesherrn nehmen!
Unaufhaltsam raste der Zug durch das Land, die Funken [490] fuhren an den niedergelassenen Fenstern hin, untermischt mit Schneeflocken, die es eilig hatten, den Weg zur Erde zu finden.
Sechs Uhr – und Alix schlief! – Halb Sieben – und sie schlief noch! Geräuschlos begann Françoise das Handgepäck aus den Netzen zu nehmen und zu ordnen. Jetzt nur noch zehn Minuten!
Sollte sie das schlafende Mädchen wecken? Jammerschade – sie erlebte all das Traurige, das vor ihr lag, früh genug, indessen ….
Da that die Lokomotive einen schrillen Pfiff, und die Schläferin zuckte empor und erwachte.
„Françoise …. ich glaube, ich war fest eingeschlafen! Wie lange – wie lange haben wir noch bis Josephsthal?“
„Keine fünf Minuten mehr, mignonne – es ist gleich sieben Uhr, ich habe schon alles zusammengesucht bis auf die Decke und das Kissen. Hier noch einen Schluck Wein – ich bitte!“
Alix wehrte ungeduldig Françoises Hand mit dem Glase ab. „Ich kann nicht! Wie soll ich jetzt – –“
„Doch, o doch, Sie müssen! Denken Sie, was alles vor Ihnen liegt! Madame Laurentius hat mir’s auf die Seele gebunden: Sie müssen haben einen Bissen zu essen und ein Glas Wein vor Ihrer Ankunft!“
Um allen weiteren pathetischen Beschwörungen ein Ziel zu setzen, stürzt Alix den Wein hinunter und ißt hastig ein paar Bissen. „Noch drei Minuten – jetzt nur noch zwei - -“
Langgezogenes gellendes Pfeifen, der Zug rollt langsam in die Halle – er steht. Das junge Mädchen rüttelt ungeduldig an dem verquollenen Fenster, endlich giebt es nach und saust herunter.
„Station Josephsthal!“ Die Thüren werden aufgerissen, eine nach der anderen. Nur wenige Leute steigen aus. Ein paar Laternen werden hin und her getragen, der feuchte Abendnebel schlägt um Menschen und Dinge einen nassen Schleier.
„Hier, Herr Justizrat!“ sagt der Stationsvorsteher und zeigt einem behäbigen älteren Herrn mit Brille und Regenschirm die Coupés erster Klasse.
„Wo denn? Ich sehe absolut nichts! Das Glas ist mir ganz beschlagen – ich kann –“
„Herr Justizrat Ueberweg –“ sagt Alix mit bedeckter Stimme und tritt dicht vor den Suchenden hin. Sie kennt ihn wenig, sie hat ihn vor zehn Jahren dann und wann einmal flüchtig in Josephsthal gesehen, aber sie weiß es ja durch ihren Vater, daß er dessen langjähriger Rechtsbeistand ist und daß die beiden Herren in eifrigem Verkehr stehen.
„Mein verehrtes gnädiges Fräulein, mein – mein liebes –“
„Lebt Papa noch?“
„Noch lebt er!“ Das „noch“ wird schwer betont.
„Und ist sein Zustand –“
„Ganz unverändert, mein liebes, verehrtes junges Fräulein.“
„Leidet er?“
„Nein. Er ist ohne Bewußtsein. Aber für seine Umgebung –“
Der Justizrat und Alix haben beide leise gesprochen, beinahe flüsternd. Der Stationsvorsteher ist diskret von ihnen weggetreten; andere Leute sind nicht so zartfühlend. Die Mordaffaire in Josephsthal beschäftigt sämtliche Gemüter, widersprechende Gerüchte haben sich verbreitet: die Wunde sei absolut tödlich – nein, nicht tödlich – der Patient sei bei Besinnung, habe den Angreifer erkannt und angegeben – bewahre, er liege bewußtlos. Ueberweg war der einzige, den man allenfalls einen Freund des Herrn von Hofmann nennen konnte; er mußte gut unterrichtet sein, und es war interessant, zu hören, was er sagte.
Indessen, er sagte nichts weiter. Mit einem Blick auf die neugierig herumzögernden Menschen bot er Alix den Arm, während ein hinter ihm stehender Diener Françoise wegen des Gepäcks befragte. Das junge Mädchen nahm rasch den Schleier über ihr Gesicht und ließ sich von ihrem Begleiter fortziehen. Sie umschritten das Bahnhofsgebäude, und der Justizrat rief in das Dunkel hinein: „Markwart!“
„Herr Justizrat!“ kam eine Stimme zurück, und gleich darauf fuhr ein Schlitten, der an der kurzen Seite des Bahnhofes unter Deckung gestanden hatte, in raschem Trabe vor. Zwei helle Laternen brannten zu den Seiten des Kutschersitzes, den ein bärtiger Mann mit einer hohen Pelzmütze innehatte.
„Ihr gnädiges Fräulein, Markwart!“ sagte Justizrat Ueberweg, und der Mann zog höflich die Pelzkappe, während seine linke Faust die Züge! und die aufrechtgestellte Peitsche hielt.
„Wo ist James?“ fragte der Justizrat, während er der jungen Dame half, einzusteigen.
„Beim zweiten Schlitten, der das Gepäck bringen wird. Soll er vorfahren?“
„Gewiß!“
Markwart ließ einen kurzen Pfiff ertönen, und unmittelbar danach bog ein anderer Schlitten um die Ecke und hielt unweit des ersten.
„Können wir fahren?“ fragte der Justizrat.
„Wenn Françoise da ist – dort kommt sie schon.“
„Wünschen Sie noch eine Decke, Baroneß?“
„Nennen Sie mich nicht so! Sagen Sie Alix zu mir, ich bitte. Sie sind Papas einziger Freund – wollen Sie auch der meinige sein?“
Alix’ schmale Hand wurde ergriffen und mit einem beinahe schmerzhaften Druck festgehalten.
„Ich will treu zu Ihnen halten und für Sie thun, was in meinen Kräften steht!“ Ueberwegs Stimme klang unsicher, er schien sehr bewegt zu sein.
„Fahren wir jetzt!“ sagte das junge Mädchen und legte sich in ihre Ecke zurück.
Es hatte zu schneien aufgehört. Dennoch waren keine Sterne am Himmel sichtbar, und alles ringsumher war in ein fahles Dämmerlicht getaucht. In diesem ungewissen Licht unterschied Alix’ scharfes Auge gut genug die Dinge, die sie umgaben. Alles, Was sie sah, war ihr fremd.
Für einen unternehmungslustigen und reichen Mann sind zehn Jahre eine lange Zeit, sie bieten seiner Thätigkeit ein fruchtbares Feld. Als Alix Josephsthal verlassen hatte, war noch kein Bahnhof daselbst gewesen. Herr von Hofmann hatte es beim Ministerium durchgesetzt, daß die Bahn gebaut und der Bahnhof gerade hierher verlegt wurde, an eben diese Stelle, die der Knotenpunkt der ganzen Kolonie Josephsthal genannt werden konnte. Es bedeutete dies für die ganze Gegend, namentlich aber für ihn, eine wertvolle Errungenschaft.
Das junge Mädchen entsann sich noch genau der weithingedehnten, meist flachen Landschaft, durch die man damals bis zur nächstgelegenen kleinen Stadt fahren mußte – erst jenseit des Flusses wurde das Terrain hügelig und erhob sich allmählich sogar bis zu Bergen von malerischer Form, wenn auch nur mäßiger Höhe. Damals standen bloß einzelne verstreute Häuschen hier, die eigentliche Kolonie lag weiter westlich. Jetzt aber - - -
Alix richtete sich von neuem in ihrer Ecke empor und schlug den Schleier zurück. Es war ihr, als könnte sie ihren Augen nicht trauen: rechts eine ganze Kette von Häusern, samt und sonders in dem nämlichen nüchternen Stil erbaut und matt erleuchtet. Links ein paar größere, stattlichere Häuser, hinter ihnen, etwas erhöht gelegen, ein riesiger Bau mit regelmäßigen, langen Fensterreihen, die strahlend erhellt waren und rund um das ganze Gebäude goldige Riesenwürfel in den Schnee zeichneten. Im raschen Vorübergleiten gewahrte Alix viele abgesteckte Vierecke, halbfertige Fundamente und einige unbewohnte Häuser, wahrscheinlich noch nicht ganz vollendet.
„Herr Justizrat, was ist dies alles? Doch nicht - -“
„Das gehört alles zur Kolonie Josephsthal, mein gnädi - - liebe Alix! Das große Gebäude, das Sie links sahen, ist die Walzmühle, die Häuser in der Nähe werden vom Direktor, den Ingenieuren und Unterbeamten bewohnt. Es fehlt noch sehr an Arbeiterwohnungen, die Leute müssen sich fürs erste behelfen – Ihrem Herrn Vater ist der letzte, ganz außergewöhnlich früh einsetzende Herbst störend dazwischengetreten, es sollten noch viele Wohnungen fertiggestellt werden – nun hat einstweilen alles liegen bleiben müssen. Ich weiß aber wirklich nicht mehr genau, seit wie langer Zeit Sie nicht in Josephsthal waren.“
„Seit zehn Jahren.“
„O, – o! Welch große Augen werden Sie da machen, wenn Sie an den Strom kommen! Das ist wie ein ganzes kleines Königreich für sich. Man darf die Schneidemühle wohl die großartigste Schöpfung Ihres Herrn Vaters nennen! Wie ist mir denn: hatte Josephsthal vor zehn Jahren schon seine eigene Kirche?“
„Sie wurde eben begonnen, als ich fortkam.“
„Aber die Schule, das Gemeindehaus, die Apotheke, das [491] Hospital, die Direktorialwohnungen …. alles das gab es damals noch nicht?“
„Nein!“
„Sie werden lange Zeit brauchen, liebe Alix, um dies reichhaltige Material nur einigermaßen zu bewältigen ….. vorausgesetzt natürlich, daß Sie sich dafür interessieren!“
„Das ist der Fall – in hohem Maße sogar!“
„Josephsthal repräsentiert in hiesiger Gegend geradezu eine Sehenswürdigkeit. Von weither kommen die Fremden zugereist, um es kennen zu lernen. Ich bin technisch leider nicht vorgebildet genug, um einen lehrreichen Führer durch die zahlreichen Etablissements abzugeben; aber wenn Sie eingehendere Erklärungen wünschen, so könnte ich Ihnen dazu den Oberingenieur Harnack empfehlen, er ist seit Jahren Ihres Herrn Vaters rechte Hand gewesen – – eine ganz ungewöhnliche Kapazität in seinem Fach!“
„Sie schrieben mir von ihm.“
Alix wunderte sich im stillen, wie förmlich der Justizrat von ihrem Papa sprach. Er vergaß es nie, „Ihr Herr Vater“ zu sagen, und das klang ihr befremdlich, da er doch sein Freund war. Er mußte großen Wert auf Wahrung der Form legen. Sie wünschte sehr, mit ihm in näheren Verkehr zu treten – er war wohl der einzige Mensch, der ihrem Vater wirklich nahe gestanden hatte, und sie konnte durch ihn mancherlei erfahren, was ihr wissenswert erschien! - - Alle diese Gedanken zogen ihr aber nur im Flug durch den Sinn, eine unbeschreibliche Angst vor dem, was sie finden sollte, schnürte ihr das Herz zusammen und ließ sie bang und mühsam atmen. Die Fahrt ging rasch, die Pferde rissen den leichten offenen Schlitten wie im Fluge mit sich, und doch war es dem jungen Mädchen, wie wenn sie kaum von der Stelle kämen.
An den Fluß kamen sie heute nicht. Sie streiften nur sein rechtes Ufer flüchtig, es blinkten zahllose Lichter auf, aus einem sehr großen, weitläufigen Gebäude klang heftiges Schnauben, Stampfen und Keuchen zu ihnen herüber, dann bog der Schlitten links herum, und das Bild war vorüber.
Nun fuhren sie durch die große Allee – die kannte Alix genau, durch die war sie als Kind unzähligemal gelaufen, ihrer Mama entgegen, wenn diese in ihrem hübschen offenen Wagen auf Besuch in die Nachbarschaft gefahren war und ihr Töchterchen nicht mitgenommen hatte.
Die kahlen, schneeüberschütteten Aeste der Bäume hingen jetzt tief hernieder und streuten weißstäubende Flocken auf die Vorüberfahrenden. Statt der lustigen Finken und Rotkehlchen, die in jenen schönen Sommerzeiten die lustigen, grünen Laubgewölbe belebt hatten, flogen jetzt ein paar Krähen mit mißtönendem Krächzen empor. Wie hatte sich alles geändert! Die zärtliche Mutter, die damals ihr Kind voll überströmender Liebe ans Herz gedrückt, schlief lange – wie lange schon! – den letzten Schlaf, und der Vater jenes Kindes stand dicht am Rande des Grabes!
Die Allee war zu Ende. Sie mündete auf einen großen kreisförmigen Platz, der in guter Jahreszeit wohl mit Rasen und Blumenstücken geziert sein mochte; in der Mitte eines weiten Bassins stand eine mit Matten umwickelte Figur. Zur Linken dieses Platzes führte eine breite Auffahrt zur stolzgeschwungenen Schloßrampe. Das Schloß selbst war im gefälligsten Renaissancestil erbaut und zeigte über einer prachtvollen Freitreppe ein kunstvolles mächtiges Portal. Die ganze erste Etage war in bläulich mildes elektrisches Licht getaucht, die oberen Stockwerke, sowie die Türme und Erker lagen im Dunklen. - - - Alix warf nur einen flüchtigen Blick auf den imposanten Bau; sie war aus dem Schlitten, bevor die beiden mit Windlichtern herbeistürzenden Diener imstande waren, ihr zu helfen.
„Baroneß Hofmann!“ sagte der Justizrat zu den beiden sich tief verneigenden Lakaien. Einen Augenblick stand Alix wie betäubt inmitten der großartigen Halle, die verschwenderisch mit Deckengemälden, Gobelins, Waffentrophäen und Statuen geschmückt war. Eine bronzene Kolossalstatue, „die Industrie“, die in der hocherhobenen Linken eine große Fackel schwang, der elektrisches Licht entströmte, beherrschte gleichsam die ganze Halle. Sie stand auf mächtigem Sockel im Hintergrunde, wo die breite Doppeltreppe, die in die oberen Stockwerke hinaufführte, ihren Ausgang nahm. In der Nähe der Thür hob sich ein in reinstem Marmor leuchtender lebensgroßer Hermes mit Stab und Flügelhut von einem kostbaren, dunkelgetönten Gobelin ab.
Françoise war zur Stelle und half ihrer jungen Herrin aus den warmen Hüllen heraus, schweigend fürs erste, denn die neuen Eindrücke sowie die Erwartung alles dessen, was zunächst bevorstand, banden einstweilen ihre geläufige Zunge. Sie ging wie immer rasch und geschickt zu Werk; aber dem jungen Mädchen geschah heute alles zu langsam, es legte selbst mit Hand an, doch so erregt und zitternd, daß dadurch die Sache eher verzögert wurde.
„Würden Sie nicht zunächst nach der kalten Fahrt eine kleine Erfrischung nehmen, liebe Alix?“ begann der Justizrat.
Mit einer ungeduldigen Geste schnitt sie ihm das Wort ab.
„Ich möchte zu meinem Vater – jetzt gleich!“
„Wie Sie wünschen. Verzeihen Sie, daß ich vorangehe – es ist, um Ihnen den Weg zu zeigen!“
Einer der Diener schlüpfte voraus, öffnete hier eine Thür, schlug dort eine Portiere zurück, alles rasch und geräuschlos. Ueberweg richtete eine leise Frage an den Mann.
„Herr Doktor Petri ist soeben gekommen!“ erwiderte dieser.
„Das ist der Josephsthaler Arzt, liebe Alix, ein sehr tüchtiger Mann. Wollen Sie hier rechts eintreten; Ihr Herr Vater liegt in seinem Arbeitszimmer.“
Das junge Mädchen schob den Thürvorhang beiseite und ging auf dem dicken Smyrnateppich, der den ganzen Fußboden überdeckte, lautlos vorwärts. Die fünfarmige Lampe, die vom Plafond niederhing, gab ein helles Licht. An der längsten Wand des sehr großen und hohen Zimmers stand das breite, niedrige Bett. Am Kopf- wie am Fußende desselben saß je eine schwarzgekleidete barmherzige Schwester mit weißer Stirnbinde und steifer schwarzer Flügelhaube. An einem Tisch seitwärts stand ein hagerer, mittelgroßer Herr, der Alix den Rücken wandte. Er streifte eben seine Handschuhe ab und fragte eine der Wärterinnen in halbgedämpftem Ton: „Es ist keine Veränderung eingetreten?“
„Nein – keine!“ lautete die Antwort.
Hier machte ihm die zu Füßen des Bettes sitzende Schwester ein Zeichen, und, sich umwendend, gewahrte er eine junge Dame, die an ihm vorüberschritt.
„Fräulein von Hofmann, nicht wahr?“ sagte er ruhig. „Doktor Petri!“
Sie neigte ihr Haupt und blieb wie festgewurzelt stehen.
„Sie können näher herangehen, ganz nahe,“ sagte der Arzt. „Er hat keine Ahnung von Ihrer Gegenwart!“
- - - - - Nein, die konnte er nicht haben. Das bleifarbige Gesicht dort in den Kissen, mit dem breiten weißen Leinenstreifen um Stirn und Schläfen, mit den eingesunkenen bläulichen Augenlidern, trug so ganz das Gepräge des Todes, daß Alix mit einem halbunterdrückten Schreckensruf sich vorbeugte – sie meinte, sie käme zu spät und alles sei vorüber. Aber wie sie ihr junges, lebensvolles Gesicht dem schrecklich entstellten Antlitz näherte, da sah sie, daß die Brust unter dem schneeigen Leinen sich stetig hob und senkte, und zwischen den dünnen, fest aufeinandergepreßten Lippen hervor kam ein scharfer, regelmäßig wiederkehrender Laut, wie von knirschenden Zähnen. Zwei wie aus gelblichem Wachs gebildete Hände lagen regungslos auf der mit roter Seide überzogenen Decke.
Und das sollte ihr Vater sein, derselbe kaum zweiundfünfzigjährige Mann, den sie vor sechs Monaten in London gesehen hatte, stattlich und elegant, elastisch und kerngesund, ihr Vater, den sie nie eine Stunde krank gewußt, der keine Erschöpfung und keine Uebermüdung kannte – und jetzt – und jetzt!
„Ich – ich möchte mit Ihnen sprechen, Herr Doktor!“ stammelte Alix.
Ueberweg winkte den beiden Pflegerinnen und verließ mit ihnen das Zimmer.
„Sie können ungescheut und laut zu mir reden, Fräulein von Hofmann!“ sagte Doktor Petri. „Der Kranke hört uns nicht. Aber bitte, setzen Sie sich zuvor!“
Er rollte ihr, die am ganzen Körper zu zittern anfing und doch die Augen keine Sekunde von ihrem Vater zu wenden vermochte, einen Sessel heran, umfaßte sie sanft und drückte sie leicht in die weichen Polster. Sie neigte das Haupt und biß die Zähne fest in die zuckende Unterlippe, sie hätte laut aufschreien mögen.
[492] „Bitte, wenden Sie sich ab – sehen Sie nicht fortwährend hin, es regt Sie zu sehr auf!“ sagte Doktor Petri sanft.
Sie hätte ihm gern gehorcht, aber es war, als habe sie alle Gewalt über sich verloren. Da nahm er ihr Gesicht behutsam in seine beiden Hände und wandte es zur Seite; darauf blieb er neben ihr stehen und wartete geduldig, bis sie die Kraft finden würde, zu ihm zu sprechen.
„Ist dieser Zustand – hat dieser Zustand – sich – nicht geändert, seitdem das – Unglück geschah?“ fragte sie endlich.
„Kaum wesentlich. Der Kranke ist, seitdem er hierher gebettet wurde, ohne Bewußtsein.“
„Können Sie das mit voller Bestimmtheit sagen?“
„Mit voller Bestimmtheit. Meine beiden Kollegen und ich sind ganz einig über den Fall, er liegt leider überaus einfach. Es ist bei der Behandlung nur ein Weg einzuschlagen, über den ich mich, wie Herr Justizrat Ueberweg Ihnen bezeugen kann, ebenfalls vollkommen mit meinen Herren Kollegen verständigt habe.“
„Es kann nichts – nichts zur Verbesserung dieses Zustandes geschehen?“
„Wir können die über den Schläfen eingedrungene Kugel nicht entfernen, ohne den Kranken auf der Stelle zu töten.“
Alix wollte weiter fragen, als ein tiefer Seufzer, der sich den Lippen des Vaters entrang, sie entsetzt auffahren ließ. Der Seufzer wiederholte sich, währenddessen die hingestreckte Gestalt ebenso ohne Bewegung verharrte wie zuvor.
Doktor Petri zog das junge Mädchen mit sanfter Gewalt nach der Thür hin. „Auch dieses krampfhafte Aufatmen geschieht ohne Bewußtsein,“ beantwortete er dabei ihren fragenden Blick. „Aber Sie dürfen nicht hier bleiben; es regt Sie zu sehr auf. Gehen Sie jetzt, ich bitte, gehen Sie!“
Er führte sie bis zur Thür und schob den Vorhang beiseite. Françoise stand mit entsetztem Gesicht dahinter und nahm Alix, die weiß bis in die Lippen hinein war, in Empfang.
[517]
Wie dehnt sich die Nacht, die nach gesundem Schlafe so kurz erscheint, endlos, endlos hin an einem Krankenbett!
Alix hatte noch nie in ihrem Leben eine ganze Nacht durchwacht. Dennoch war sie in der Krankenpflege nicht ganz unerfahren. Frau Maria war der Ansicht gewesen, daß das ihrer Erziehung anvertraute reiche Mädchen, so viel es irgend angänglich war, vom Leben und den Anforderungen, die es an den Menschen stellt, kennenlernen sollte; sie wünschte nicht, daß es in Situationen geraten könnte, denen gegenüber es vollkommen hilflos wäre. Der Bekanntenkreis des Laurentius’schen Hauses hatte sich vielfach darüber gewundert, daß die Professorin es so energisch durchzusetzen wußte, ihren Zögling vielerlei lernen zu lassen, was dies vornehme junge Mädchen doch gewiß nie würde brauchen können. Alix mußte einen Samariterkursus in einer berühmten Krankenanstalt durchmachen, sie mußte einen ganzen Winter hindurch mehrmals wöchentlich in einer Volksküche thätig sein, sie mußte nicht nur feine und schöne Handarbeiten lernen, sondern auch die einfachsten und notwendigsten, einen Strumpf zu stricken und eine Naht zu nähen. Sie hörte populäre Vorträge über Nationalökonomie und begleitete Frau Maria regelmäßig auf deren Armengängen, bei welchen auch ihr, der verwöhnten jungen Dame, feste Pflichten zufielen. Sie mußte sehen, wie die von ihr beschenkten Leute wohnten und lebten, wie sie speisten und sich kleideten, sie lernte abschätzen, wie viel eine Familie von so und so viel Köpfen ungefähr zu ihrem Lebensunterhalte braucht, sie bekam einen Einblick in die Vergnügungen und Erholungsstunden der ärmeren Klassen.
Ohne Kampf hatte die Professorin dies System nicht durchgesetzt; Alix hatte sich sehr dagegen gesträubt und gefragt, wozu sie das solle … wie die Bekannten fanden, mit allem Recht. Das war ja nur unnütze Zeitverschwendung – ein Mädchen wie Alexandra von Hofmann würde doch in ihrem ganzen Leben weder Diakonissin, noch Armenpflegerin werden oder Handarbeiten für Geld liefern, sie konnte sich in all der Zeit viel besser beschäftigen, und wenn sie wohlthätig sein wollte …. du lieber Gott, wie leicht konnte sie das thun mit ihrem Gelde! Bezahlte Hände fanden sich immer in Hülle und Fülle, die das alles viel besser machten als sie!
[518] Frau Maria dachte ebensowenig daran, Alix zur Kranken- oder Armenpflegerin zu machen, wie ihr ganzer Umgangskreis und das junge Mädchen selbst dies that. Aber sie wollte aus Alix keine weichliche Egoistin machen, sie wollte ihr die Wohlthat angedeihen lassen, ihren Gesichtskreis zu erweitern, damit sie lerne, mit offenen Augen um sich zu schauen. Sie sollte nicht nur mit ihresgleichen verkehren und gelegentlich an Vereine ein Almosen hinwerfen, ohne sich darum zu bekümmern, wem es zu gute kam. Sie sollte wissen, daß es Armut und Not auf der Welt giebt, und sie sollte die Mittel kennenlernen, sie einigermaßen zu lindern. Ihr Geld sollte ihr und andern zum Segen werden. Frau Maria lehrte ihren Zögling, zu geben, und damit erwies sie ihm die beste, bedeutungsvollste Wohlthat, die es in ihren Augen geben konnte.
Die jungen Damen, die nur für sich selbst auf der Welt sind und es nicht lernen, was es heißt, auch einmal für andere da zu sein und ein Opfer an Zeit oder Bequemlichkeit zu bringen, die mit ihrer naiven Ahnungslosigkeit womöglich in Gesellschaft kokettieren und lachend fragen, wie es einer Familie überhaupt möglich sei, mit fünfhundert Thalern auszukommen, die waren der Professorin ein Greuel. Sie hatte es sich selbst und ihrem Manne gelobt, Alix dürfe niemals wie eine von diesen werden, und sie hatte redlich ihr Wort gehalten. Stolz und launenhaft, herb und absprechend, wie die junge Erbin oft im Verkehr mit ihresgleichen war, hatte sie ein warmes Herz für alle Armen und Kranken, und sie verstand es, ihnen wohlzuthun auf ihre Weise.
Sie hatte im Laurentius’schen Hause oftmals in Krankheitsfällen hilfreiche Hand geleistet, sich mit Maria in die Pflege der Kinder abwechselnd geteilt und oft zu später Stunde neben den kleinen Betten gesessen, aber eine ganze Nacht hatte sie noch nie durchwachen dürfen!
Auch heute wollte man sie nicht wachen lassen. Alle waren dagegen, Justizrat Ueberweg, der Josephsthaler Arzt, Françoise, die beiden barmherzigen Schwestern. Warum sich nach der anstrengenden Reise die Ruhe nicht gönnen, da der Kranke ohne Bewußtsein lag, von ihrer Nähe nichts spürte und zur Pflege, soweit von einer solchen in diesem traurigen Fall überhaupt die Rede sein konnte, die „Schwestern“ zur Hand waren?
Alix ließ all diese Bitten und Vorstellungen über sich ergehen und beantwortete sie nur immer wieder mit demselben Satz: „Ob mein Vater weiß, daß ich da bin, oder nicht: die heutige Nacht kann seine letzte werden, und da will ich bei ihm sein!“
Sie hatten ihr endlich den Willen thun und gehen müssen – alle, die Pflegerinnen mit dem Vorbehalt, jede zweite Stunde nachsehen zu dürfen – und nun war sie mit ihrem Vater allein.
Er stöhnte und röchelte schon lange nicht mehr, er lag wie zuvor, als sie ankam, einer Leiche ähnlich, aber die Brust unter dem schneeweißen Linnen hob und senkte sich.
Die elektrische Lampe goß ihr klares, stetiges Licht über das große schöne Zimmer, in dem der sterbende Mann so viel gearbeitet und gedacht, in dem er all seine Pläne geschmiedet, seine neuen Schöpfungen ersonnen hatte. Auf dem großen Schreibtisch, der die halbe Wand einnahm, lagen noch die Pläne und Zeichnungen, die Entwürfe der Neubauten, mit denen er sich beschäftigt hatte; offene Briefe, Zettel mit Notizen von seiner Hand daneben – ein Bleistift in einer silbernen Hülse, so sorgsam quer über eine Tabelle mit Zahlen und Berechnungen gelegt, als müsse die Rechte, die diesen Stift geführt, jeden Augenblick wieder bereit sein, um ihn zu ergreifen. Ein großes Bild der neuen Schneidemühle, der Lieblingsschöpfung seiner rastlosen Unternehmungslust, hing über dem Schreibtisch, so daß der Blick des daran Sitzenden beim Aufsehen gerade darauf fiel. Große Mappen, reihenweise geordnet, lagen zur Linken. Auf der einen stand in großen Golddrucklettern zu lesen: „Walzmühle“, auf einer zweiten: „Preßhefefabrik“, auf der dritten: „Oelmühle“ – und so fort. Rechts neben dem Schreibtisch war ein Geldschrank in eine Mauervertiefung eingelassen, er schien einfach, aber sehr solid gearbeitet zu sein und wies nirgends ein Schloß oder eine Oeffnung auf. Ueber dem Geldschrank war auf schwerem gußeisernen Gestell eine schöne bronzene Uhr befestigt, eine Minerva stand neben dem Zifferblatt und sah mit ihren strengen ehernen Zügen wie die verkörperte Verstandesthätigkeit aus.
Alix’ Augen gingen in scheuer Hast rundum. War denn nirgends in diesem großen, geräumigen Zimmer Platz für ein Porträt ihrer Mutter oder für ihr eigenes gewesen?
Nein! Wie sie auch suchte und suchte, es fand sich nichts, es war überhaupt kein Porträt im Zimmer – nichts, was auf irgend eine persönliche Zuneigung des Besitzers schließen ließ.
Dem jungen Mädchen schnürte sich das Herz zusammen.
Sie neigte sich über die wachsbleiche Hand und küßte sie mit zuckenden Lippen. Die Hand lag nach wie vor regungslos und war so kalt, daß Alix einen eisigen Hauch bis ins Herz hinein zu fühlen meinte.
Durch die Stille der Nacht gab eine tieftönige Glocke aus einiger Entfernung die zwölfte Stunde an, es mochte die Josephsthaler Kirchenglocke sein. Die Uhr mit der bronzenen Minerva that ebenfalls zwölf volle, laute Schläge; erschrocken wandte sich Alix nach dem Kranken um. Er lag wie zuvor; es ging alles, alles spurlos an ihm vorüber.
Die Thürvorhänge teilten sich, und über den dicken Teppich kam lautlos eine der Pflegerinnen gewandelt, um nachzusehen, wie es stünde, und um die junge Dame zu überreden, sich niederzulegen.
Alix schüttelte wieder den Kopf:
„Ich würde doch nicht schlafen können! Ich möchte bleiben!“
Und sie blieb in dem großen stillen Zimmer allein mit ihrem Vater, der nicht sterben konnte.
Die Nacht ging hin. Töne erwachenden Lebens machten sich bemerkbar, langsam brach der Februarmorgen herein, mühselig kämpfte das bleiche Tageslicht gegen die strahlende Helle der elektrischen Flammen. Murmelnde Stimmen ließen sich im Nebenzimmer vernehmen. Françoise erschien mit verweinten Augen und brachte ihrem armen Liebling auf silbernem Tablett dampfenden starken Kaffee.
Ueberweg kam und winkte Alix mit einer bittenden Geste zu sich ins Nebenzimmer.
„Verzeihen Sie, daß ich nicht zu Ihnen komme! Aber wenn er uns auch nicht hört, es widerstrebt mir doch, neben seinem Schmerzenslager Dinge zu besprechen, die –“
Alix nickte ihm verständnisvoll zu.
„Es geht mir ebenso!“
„Nun, dann bitte!“
Er schob ihr in dem wohldurchwärmten Zimmer, in dessen Kamin ein helles Feuer brannte, einen Sessel hin. „Ich hätte allerlei mit Ihnen zu reden, meine liebe Alix! Ich habe mir nämlich erlaubt, einen selbständigen Schritt zu thun, mit dem Sie hoffentlich einverstanden sein werden –“
„Und der war?“
„Ihren Vetter Mr. Cecil Whitemore in London telegraphisch zu benachrichtigen. Er stand Ihrem Herrn Vater geschäftlich sehr nahe, die beiden Herren unterhielten seit Herrn von Hofmanns letzter Anwesenheit in England einen lebhaften Briefwechsel, und ich glaube bestimmt, Mr. Whitemores Hiersein dürfte notwendig sein und Ihnen, liebe Alix, in jeder Hinsicht nützen, da die vielfachen, oft sehr verwickelten Geschäfte doch nur von einem durchaus sachkundigen Mann - -“
„Wäre der nicht im Oberingenieur Harnack zu finden gewesen?“
Doktor Ueberweg blickte betroffen auf.
„Soll ich diese Frage so verstehen, als ob Sie mit meinem Telegramm an Mr. Cecil Whitemore nicht einverstanden wären?“
Alix hielt ihm rasch die Hand hin.
„Nein – nein, nein, es ist alles gut, wie Sie es anordnen, und ich bin Ihnen dankbar dafür. Ich dachte eben nur, weil Sie diesen – diesen Herrn Harnack so sehr rühmten –“
„Das that ich, und das thue ich noch! Als Oberingenieur bei den Schneidemühlwerken halte ich ihn für geradezu unentbehrlich. Aber wohlverstanden: nur da! Ob er sonst fähig ist, die Disposition über den ganzen, so riesig [519] ausgedehnten Betrieb zu übernehmen, er, der noch keine zwei Jahre hier ist - -“
„So kurze Zeit erst?“
„Ja! Und ob er mit den Fabrikdirektoren, den Buchhaltern, Kassierern, Unterbeamten zurechtkommen würde …. er ist nicht sonderlich beliebt, wie mir scheint –“
„So?“
„Wie mir scheint!“ betonte der Justizrat mit Nachdruck. „Ich bin ja kein unfehlbarer Beobachter, und dem Josephsthaler Geschäftsbetrieb stand ich von jeher persönlich fern. Ich war Rechtsbeistand Ihres Herrn Vaters, weiter nichts. Daß aber sehr viel dazu gehört, um das Ganze hier zu leiten, das weiß ich genau.“
„Und Sie meinen, dazu wäre mein Vetter Cecil die geeignete Person?“
„Ich habe nicht die Ehre, den Herrn zu kennen, aber – aber Ihr Herr Vater hielt ihn dafür. Er hat sich sehr anerkennend über Mr. Whitemore zu mir geäußert, hat gesagt, derselbe habe einen hervorragend praktischen Verstand, großen Scharfblick und vortreffliche Schulung, er sei zum Leiter eines großartigen Unternehmens wie geschaffen und könne in London ganz gut entbehrt werden, da sein Vater noch rüstig genug sei, um selber seinen Fabriken vorzustehen. Er fügte hinzu, daß er hoffe, seinen Neffen mit der Zeit für Josephsthal zu gewinnen, und daß er überzeugt sei, derselbe würde sich rasch einarbeiten. So dachte ich denn, in Ihrem Sinn zu handeln - -“
„Gewiß! Gewiß! Und was haben Sie ihm depeschiert?“
„Daß Ihr Herr Vater infolge eines schweren Unfalls lebensgefährlich verwundet und Mr. Cecil Whitemores baldigstes Herüberkommen unbedingt wünschenswert sei!“
„Und wann sandten Sie das Telegramm ab?“
„Etwa drei Stunden nach dem Unfall, als die Aerzte ihr Gutachten abgegeben hatten.“
„Er hat noch nicht geantwortet?“
„Bis jetzt noch nicht! Es war dies, wie gesagt, meine einzige eigenmächtige Handlung; ich glaubte aber, Ihre Einwilligung nicht mehr abwarten zu können, auch erschien mir dieselbe als selbstverständlich. Würden Sie mir nun vielleicht weitere Aufträge erteilen? Ich möchte Ihnen jede Mühe abnehmen, alles in Ihrem Namen erledigen, aber Sie müssen eben Ihre Bestimmungen treffen.“
Alix besann sich einen Augenblick.
„An meinen Onkel Alexander von Holsten-Delmsbruck, der Oberst in Metz ist, bitte ich Sie in meinem Namen zu telegraphieren, daß es mir angenehm wäre, wenn er herkommen könnte, da Papa schwer erkrankt sei. Papas sonstige Verwandtschaft steht mir fern. Was aber soll ich mit fremden Leuten hier im Hause zu einer solchen Zeit wie die jetzige?“
„Hm! Was ich sagen wollte…. da wir von Verwandten soeben gesprochen haben: ist Ihnen ein Zweig Ihrer Verwandtschaft – mütterlicherseits – bekannt, der den Namen Hagedorn führt?“
„Nein – oder irre ich mich? Lassen Sie mich einmal nachsinnen! Hagedorn? Mir ist doch, als hätte meine Mutter zuweilen von einer Cousine, die sie sehr liebte und die viel im Hause ihrer Eltern war, gesprochen; sie war älter als meine Mutter und heiratete als blutjunges Mädchen, gegen den Willen der Familie, einen – Gelehrten oder einen Lehrer –“
„Ganz recht! Hat, Ihr Herr Vater Ihnen nie von den Kindern dieses Herrn Hagedorn gesprochen?“
„Nie! Ich wußte nicht einmal, daß Kinder vorhanden sind!“
„Jedenfalls eines! Und dieser Sohn …. Was giebt es?“
Ein Diener näherte sich den beiden. Unwillkürlich standen sie von ihren Sitzen auf.
„Ist Herr von Hofmann kränker?“
„Ist der Arzt gekommen?“
„Bitte um Verzeihung – nein! Es ist jemand am Telephon, der wissen möchte, ob das gnädige Fräulein angekommen sind!“
„Von Greifswald?“
„Jawohl, Herr Justizrat!“
Alix und Ueberweg tauschten einen Blick.
„Wollen Sie mit mir kommen, liebe Alix!“
Er bot ihr den Arm.
„Kann man so schnell von London herüber?“ fragte sie während des Gehens.
„Warum nicht? Wer viel reist und einen kräftigen Körper hat, für den sind zwei Nächte und ein Tag schon eine lange Zeit. Bitte hier!“
Alix setzte sich in dem kleinen Zimmer, das neben ihres Vaters Comptoir lag, nieder und lauschte aufmerksam.
„Hier Cecil Whitemore aus London. Sind Sie selbst zur Stelle, Cousine Alexandra?“
„Ja. Ich bin seit gestern abend hier.“
„Bin vor einer Stunde angekommen. Justizrat Ueberweg hat mich gerufen. Kann ich einen Wagen bekommen, oder soll ich mir hier einen mieten?“
„Nicht nötig. Ich werde sofort das Anspannen bestellen.“
„Wie lange fährt man?“
„Ich denke, etwa anderthalb Stunden. Machen Sie nicht den Umweg zur Station Josephsthal. Ruhen Sie lieber und warten Sie auf den Wagen!“
„Wie Sie wünschen. Also in drei bis vier Stunden auf Wiedersehen!“
„Auf Wiedersehen. – Schluß!“ –
Alix trat vom Telephon zurück. Das war eine zweckentsprechende, sachliche Besprechung gewesen – kein Wort zuviel. Dafür war Vetter Cecil ein praktischer Engländer und sie ein vernünftiges Mädchen, das alle Sentimentalität haßte! Cecil hatte kein Wort über den Unglücksfall mit ihrem Vater verloren – – natürlich! Hätte er ihr etwa durchs Telephon sein Beileid ausdrücken sollen!?
- - - Als sie das Comptoir ihres Vater durchschritt, gewahrte sie einen sehr brünetten, schlanken Herrn am geöffneten Pult sitzend, dem er einen ganzen Stoß von Papieren entnommen hatte. Beim Eintritt der jungen Dame sprang er auf und verbeugte sich tief: „Baroneß wollen gestatten – Oberingenieur Harnack!“
Alix sah sich den Mann aufmerksam an. Er hatte ein intelligentes Gesicht, sichere Manieren und war sehr sorgfältig gekleidet; seine Hände waren klein und gut gepflegt, er trug einen schönen Brillantring am vierten Finger der Linken. Sein sich emporbäumendes straffes Haar war schwarz, auch seine Augen schienen von glänzendem Schwarz.
„Ich habe bereits viel von Ihnen gehört, Herr Ingenieur. Justizrat Ueberweg hat mir Ihre bedeutende Fachkenntnis gerühmt, er nannte Sie die rechte Hand meines Vaters.“
Harnack verbeugte sich abermals.
„Ich bin dem Herrn Justizrat für seine gute Meinung zu Dank verpflichtet, und ich schätze mich glücklich, Ihrem Herrn Vater, gnädigste Baroneß, von Nutzen sein zu können.“ee
Alix wollte mit einer leichten Neigung des Kopfes weitergehen.
„Gnädiges Fräulein wollen verzeihen –“
„Sie wünschen?“
„Baroneß werden sich sagen können, daß ein so ausgebreiteter Betrieb einer leitenden Hand bedarf. Die Werke dürfen nicht feiern, die Arbeiter müssen beschäftigt, neue Dispositionen getroffen, Aufträge zu Lieferungen erteilt werden. Es sind Abschlüsse zu machen, Zahlungen zu leisten. Der älteste technische Direktor, der Form nach wohl der oberste Angestellte, ist – die Situation wird meine Offenheit entschuldigen! – für einen so verantwortlichen Posten absolut ungeeignet. Ich habe vorgestern und gestern, auf des Herrn Justizrats Zureden, selbständig meine Maßregeln getroffen, und der Herr Justizrat machte sich anheischig, dies vor Ihnen, gnädiges Fräulein, einstweilen zu vertreten. Da die Tochter unseres verehrten Chefs jetzt selbst zur Stelle ist, so würde ich sie bitten, mir gütigst eine Vollmacht auszustellen, die mich ermächtigt, nach eigenem Ermessen, selbstredend ganz im Sinn meines erkrankten Chefs, zu disponieren, um später von jeder meiner Maßnahmen genaue Rechenschaft abzulegen.“
Es war gegen das, was der Ingenieur vorbrachte, direkt nichts zu sagen. Dennoch klang etwas mit hinein, was Alix nicht gefallen wollte und sie innerlich reizte. Sie besann sich einen Augenblick und entgegnete dann in einem Ton, der [522] unwillkürlich etwas hochfahrender ausfiel, als sie es beabsichtigt hatte:
„Das dürfte unnötig sein, da mein Vetter, Mr. Cecil Whitemore aus London, in wenigen Stunden hier eintrifft, um einstweilen die Verwaltung des gesamten Betriebes zu übernehmen.“
„Baroneß gestatten mir die Frage: Ist die Sachlage derart aufzufassen, daß ich, im Fall Herr von Hofmann nicht wieder gesund wird, in Mr. Whitemore aus London meinen künftigen Chef und den späteren Herrn der Werke zu sehen habe?“
„Nein,“ sagte Alix, und sie fühlte zu ihrem Aerger, daß sie rot wurde, „das soll damit durchaus nicht gesagt sein. Mein Vetter besaß seit langem das Vertrauen meines Vaters in hohem Grade, deshalb will ich ihm jetzt die Bestimmung überlassen, was zunächst zu thun ist.“
Diesmal machte Ingenieur Harnack keinen weiteren Versuch mehr, das junge Mädchen zurückzuhalten. Er verneigte sich nur stumm und ernst und schritt zur Thür, die er weit offen hielt, Während Alix hindurchging.
Sie war nicht mit sich zufrieden, wie sie durch die Zimmerflucht zu ihrem Kranken zurückkehrte. Es mußte ihr daran liegen, den Mann, dessen Fähigkeiten man ihr so gerühmt hatte, dem Werk zu erhalten, und sie hatte sein Anerbieten, die Oberleitung zu übernehmen, zurückgewiesen und ihren englischen Vetter vorgeschoben. Aber das mußte sie, das war sie Cecil schuldig! Sie konnte ihn, einen so nahen Verwandten ihres Hauses – ihre und seine Mutter waren Schwestern gewesen – nicht unter die Botmäßigkeit eines Ingenieur Harnack stellen!
Gleichviel! Sie hätte dabei rücksichtsvoller zu Werk gehen können, und sie tadelte sich darum. Rief sie sich aber den Mann in die Erinnerung zurück und den Ausdruck in seinen Augen während er mit ihr gesprochen hatte, so fühlte sie sich in ihrem Innern wieder ebenso gereizt, als da sie ihm gegenüberstand. Seine Rede hatte höflich und sachgemäß geklungen, aber unterdessen führten seine heißblickenden, schwarzen Augen eine gänzlich andere Sprache, es lag etwas Zudringliches darin, etwas, das Alix zurückstieß.
Im Krankenzimmer fand sie Doktor Petri. In seiner ruhigen Bestimmtheit verordnete er ihr ein Glas starken Weines und ein paar Stunden Schlaf, ging auch nicht früher fort, als bis Françoise ihre junge Herrin zur Ruhe gebracht hatte. Ein kurzer schwerer Schlummer ließ Alix wenigstens für eine Zeit lang die schreckliche Gegenwart vergessen. Als sie erwachte, sah eine bleiche Wintersonne zum Fenster herein, und es war zwei Uhr mittags. Der englische Vetter, für den Alix unmittelbar nach ihrer Unterredung mit dem Ingenieur einen Wagen nach Greifswald beordert hatte, konnte jeden Augenblick in Josephsthal eintreffen.
Françoise, die das reiche Haar ihrer Herrin mit geschickten Händen knotete und dann mit einem Pfeil durchstach, hatte viel zu berichten.
„Denken Sie nur, mignonne, vor einer Stunde, als Sie noch schliefen, sind Herren gekommen vom Gericht, um die blutige That zu untersuchen, näher zu untersuchen – o, und ich glaube, auch welche von der geheimen Polizei. Ich zittere, daß sie mich verhören werden!“
„Dich, Françoise? Sprich doch nicht solchen Unsinn! Wozu sollte das dienen?“
„Nun, man kann nie wissen! Alles, was zum Haus gehört, soll vernommen werden, und ich gehöre doch dazu! Doch ehe ich’s vergesse, der Herr Justizrat wünscht Sie zu sprechen – es habe sich herausgestellt eine Sache von großer Wichtigkeit!“
„Und das erfahre ich jetzt erst?“ Alix sprang aufgeregt vom Stuhl empor. „Warum hast du mich nicht sofort geweckt?“
Alix hörte die Rechtfertigung der schwatzhaften Französin nicht mehr mit an, sie hatte bereits das Zimmer verlassen. Den Diener, der ihr entgegenkam, hielt sie an:
„Wo sind die Herren vom Gericht?“
„In Herrn von Hofmanns Comptoir, Baroneß! Darf ich dem gnädigen Fräulein nicht zuvor im kleinen Speisezimmer das Diner servieren?“
„Nein! Führen Sie mich sogleich zu den Herren!“
„Wie gnädiges Fräulein befehlen. Es führt ein Weg zum Comptoir durch verschiedene Zimmer, wie gnädiges Fräulein diesen Morgen gegangen sind, der andere geht über die Korridore, und das ist der kürzere!“
„So gehen wir diesen!“
Im Comptoir traf Alix außer Ueberweg noch vier Herren, drei davon in mittleren Jahren, der vierte sehr jung aussehend, mit einem bartlosen Gesicht und einem beinahe kindlichen Ausdruck in den hellen Augen.
„Herr Staatsanwalt Bindemann, Herr Landgerichtsrat Keller, Herr Assessor Grün, Herr Korty – Baroneß Alexandra von Hofmann!“
Die Herren verneigten sich.
„Wollen sie der Dame nicht auch meinen Titel nennen, Herr Doktor?“ fragte der zuletzt Genannte mit einem ganz leichten Lächeln. „Es dürfte sich doch empfehlen, sie ins Vertrauen zu ziehen!“
„Gewiß, wie Sie wünschen. Ich mußte mich aber zuvor Ihrer Zustimmung versichern. Also: Herr Korty, Geheimpolizist aus Berlin.“
Alix sah aus großen, erstaunten Augen auf das glatte Knabengesicht mit der harmlosen, nichtssagenden Miene.
„Herr Korty wird von heute an als Mechaniker hier eintreten und einige seiner Gehilfen als Arbeiter bei den Walzwerken!“ sagte der Justizrat. „Ich brauche wohl nicht besonders zu betonen, liebe Alix, daß sein Name sowie der Zweck seines Hierseins strengstes Geheimnis ist, das nur wir Juristen mit Ihnen und Ihrem Vetter Mr. Cecil Whitemore teilen. Für alle übrigen, hohe und niedere Angestellte, für alle, wohlverstanden, ist dies Herr Neubert aus Stralsund, der durch Vermittlung Ihres Herrn Vetters, der ihn in London bei einem deutschen Geschäftsfreund kennengelernt hat, hierher gekommen ist, um bei den hiesigen Werken zu arbeiten, zum Teil schriftlich, zum Teil auch praktisch. Wir werden Mr. Whitemore, sowie er eintrifft, hiervon verständigen. Herrn Neuberts Stellung wird es mit sich bringen, daß er möglichst mit allen Schichten der Josephsthaler Bevölkerung in Berührung kommt – Sie sehen die Notwendigkeit dieser Maßregeln ein, nicht wahr?“
„Vollkommen!“ bestätigte Alix. Dann wandte sie sich zu den andern:
„Darf ich die Herren ersuchen, wieder Platz zu nehmen und mir, soweit Ihnen dies zulässig erscheint, Mitteilung von dem Geschehenen zu machen? Meine Bonne erwähnte andeutungsweise etwas von einer wichtigen Entdeckung – –“
„In der That!“ Landgerichtsrat Keller, der älteste der anwesenden Herren, ergriff das Wort: „Wir wünschten, Sie, gnädiges Fräulein, als die einzige und majorenne Tochter Herrn von Hofmanns, in den Sachverhalt einzuweihen, und gaben daher die in ganz allgemeinen Ausdrücken gehaltene Parole von der wichtigen Entdeckung aus, die freilich auch zu Recht besteht. Es handelt sich nämlich um eine kurze Notiz in Ihres Herrn Vaters Brieftasche, die Kollege Ueberweg im Schreibtisch Herrn von Hofmanns gefunden hat, des Inhalts, daß Ihr Herr Vater eine größere Summe in Banknoten, etwa zweimalhunderttausend Mark, dem Direktor der Oelmühle hat übermitteln wollen, um mit dem größten Teil des Geldes neu eingelaufene bedeutende Lieferungen zu decken, mit dem übrigen die Gehälter an die Angestellten des Etablissements zu zahlen. Herr von Hofmann war die Ordnungsliebe und Pünktlichkeit in Person. Irrtümer und Vergeßlichkeiten sowie Verwechslungen sind daher so gut wie ausgeschlossen, zumal es sich um eine so bedeutende Geldsumme handelte. Der Termin der Ablieferung war genau im Notizbuch angegeben: der achtzehnte Februar – – ebenso die einzelnen Nummern der Wertpapiere, hinterher die Bemerkung: sofort nach eigenhändiger Ablieferung persönlich einzutragen! – Der Direktor der Oelmühle, seit fünfzehn Jahren Ihres Herrn Vaters Beamter, ein durchaus zuverlässiger Mann, ist am Morgen des achtzehnten Februar um neun Uhr zehn Minuten per Telephon durch Herrn von Hofmann benachrichtigt worden, sich kurz vor zwölf Uhr mittags zu [523] einer Besprechung bereit zu halten, was der Direktor auch pflichtgemäß gethan hat. Erwiesenermaßen ist aber Herr von Hofmann an jenem Tage gar nicht auf der Oelmühle gewesen; man hat vergebens von Stunde zu Stunde auf sein Erscheinen dort gewartet, wie das gesamte Personal, in Uebereinstimmung mit dem Direktor, ausgesagt hat. Zwischen elf und zwölf Uhr ist der Mordanschlag verübt worden, kurz vor ein Uhr haben die beiden bäuerlichen Besitzer den umgestürzten Schlitten gefunden. Das Riemenzeug des Pferdes ist durchschnitten gewesen, doch hat man das Tier in der Nähe der Unglücksstelle getroffen und eingefangen. Von den Banknoten fand sich bei Herrn von Hofmann nichts vor. In welcher Verpackung er sie bei sich trug, ist nicht festzustellen. Ihr Herr Vater hat, wie das seine Gewohnheit war, mit niemand von dem hiesigen Personal über diese Summe und ihre Verwertung gesprochen, er hat es nicht einmal jemand mitgeteilt, daß er überhaupt nach der Oelmühle hinüberfahren wollte, viel weniger noch, zu welchem Zweck.“
„Auch Herrn Oberingenieur Harnack nicht?“ warf Alix, die mit gespannter Aufmerksamkeit zugehört hatte, ein.
„Nein, auch ihm nicht! Warum meinen Sie, daß es geschehen sein könnte, gnädiges Fräulein?“
„Aus keinem andern Grunde, als weil Herr Justizrat Ueberweg diesen Herrn die rechte Hand meines Vaters nannte. Ich dachte, er könnte mit ihm eine Ausnahme gemacht haben.“
„Herr Ingenieur Harnack war mit eine der ersten Personen, die in der Angelegenheit verhört wurden. Er hat die Aussage zu Protokoll gegeben, daß während seiner zweijährigen Anwesenheit in Josephsthal Herr von Hofmann niemals mit ihm über Zahlungen an seine anderweitigen Etablissements, über einlaufende oder zu verausgabende Gelder gesprochen hat. Es war sein besonders streng durchgeführtes System, jedes der ihm zugehörenden Werke mit seinen Einkünften und Ausgaben zu specialisieren.“
Der Gerichtsrat schwieg, und nachdenkliches Schweigen lagerte auch über den andern.
Endlich sagte Alix in gedrücktem Flüsterton: „Also doch – doch ein Raubmord!“
„Zweifellos! Und geschickt genug in Scene gesetzt! Dadurch, daß die sehr kostbare Uhr und Kette, die Ringe und das gemünzte Geld bei Herrn von Hofmann vorgefunden wurden, konnte ein solcher Verdacht zunächst nicht aufkommen.“
„Mußte aber der Mörder nicht fürchten, daß der Direktor der Oelmühle von der Absicht meines Vaters unterrichtet sei?“
„Wohl wahr! Allein der Raubmörder konnte ebensogut wissen, daß eine solche Benachrichtigung nicht zu den Gepflogenheiten Ihres Vaters gehörte. Jedenfalls hat er um seine Absicht gewußt. Es waren auch deutliche Spuren dafür da, daß die Taschen des Opfers in aller Eile umgekehrt worden sind, was darauf hinweist, daß man das Notizbuch, das er meistens bei sich zu tragen pflegte, bei ihm gesucht hat.“
„Also in aller Eile?“ fragte Korty.
„Offenbar. Das Taschenfutter war nach außen gekehrt, ein seidenes Tuch achtlos auf den Weg geschleudert. Daß es dem Räuber nur um die große Geldsumme und um nichts anderes zu thun gewesen ist, beweist schon der Umstand, daß nicht alle Taschen durchsucht worden sind, der gezogene Revolver steckte unangerührt in einer Seitentasche des Pelzes. Auch daß das hilflose Opfer nicht vollständig getötet wurde, giebt zu denken! Der Schwerverwundete konnte doch noch für eine kurze Zeit zum Bewußtsein kommen und den Thäter nennen – es war nicht sehr wahrscheinlich, aber keineswegs unmöglich. Mir liegt die Annahme sehr nahe, daß den Mörder entweder unmittelbar nach seiner That und der Beraubung des Opfers eine sinnlose Angst gepackt hat, die ihn zur Flucht trieb, oder daß irgend ein Geräusch in der Nähe ihn einen Zeugen seiner Blutthat vermuten und eiligst aufbrechen ließ …. denn in großer Eile muß er gewesen sein, alle Anzeichen sprechen dafür!“
Korty nickte bestätigend.
„Kommt mir gleichfalls sehr wahrscheinlich vor. Und die Kugel, die man aus dem Stirnbein hat entfernen können –“
„Sie werden sie ja sehen!“ sagte der Justizrat. „Kleines Kaliber, gewöhnliche Revolverkugel englischen Systems – bietet gar keinen Anhalt weiter!“
„Die Fußspuren waren verschneit, sagen Sie?“
„Leider ganz und gar. Ich bin sofort mit dem Aktuar nach dem Schauplatz der That hinübergefahren, aber wir konnten gar nichts mehr konstatieren. Ich bitte Sie, wenn es während zwei, drei Stunden ununterbrochen wie aus dem Sack schneit! Kaum die Stelle, wo der umgestürzte Schlitten gelegen hatte, war durch eine leichte Einsenkung markiert, an Fußspuren nicht zu denken. Wir versuchten, ganz vorsichtig etwas davon aufzudecken, aber es erwies sich als vollkommen fruchtlos. Selbst die Bauern, die eine gute Stunde vor mir dorthin gekommen waren, versichern, übereinstimmend mit dem Arzt, keine Fußstapfen gefunden zu haben, und das ist leicht zu begreifen! Vielleicht um halb Zwölf wurde das Attentat ausgeführt, kurz vor ein Uhr erst waren die Leute zur Stelle – dazwischen unausgesetzter Schneefall!“
Wieder folgte tiefes Schweigen. Jeder der Anwesenden versuchte die einzelnen Glieder dieser Kette von Vorgängen aneinanderzupassen, kombinierte so und so …. noch war und blieb alles in Dunkel gehüllt.
Da pochte es diskret an die Thür, der grauhaarige Diener trat ein.
„Die Herrschaften wollen verzeihen. Gnädiges Fräulein, Herr Whitemore ist soeben vorgefahren!“
„Ich komme!“ sagte Alix.
Gesenkten Hauptes, immer noch fruchtlos grübelnd, um den Schlüssel zu diesem traurigen Rätsel zu finden, durchschritt das junge Mädchen die angrenzenden Gemächer. In dem letzten derselben kam ihr raschen Ganges ein junger Mann entgegen.
In seinem praktischen und doch eleganten Reiseanzug, mit seinem frischen Gesicht, das Blondhaar kurz geschoren, an jeder Wange seitlich einen schmalen Bartstreifen, sah Mr. Cecil Whitemore so korrekt, so chic, so „englisch“ aus, wie Alix ihn bei ihrem Londoner Aufenthalt täglich hatte aus der City heimkehren sehen.
Von Müdigkeit, von Aufregung keine Spur. Im Blick der blaugrauen Augen lag viel Energie, in der Kopfhaltung ausgeprägtes Selbstbewußtsein.
„Liebe Cousine Alexandra, wie dankbar würde ich sein, wenn ich Ihnen in Ihrer gegenwärtigen traurigen Lage nützlich sein könnte!“
Das wurde ohne eine Beimischung von Sentimentalität in fließendem, wenn auch ausländisch klingendem Deutsch gesagt. Sie hatten des öfteren in London deutsch miteinander gesprochen, mehr aber noch englisch, daher das „Sie“ bei der Anrede, das keinem von ihnen einer Verwandlung in das vertrauliche „Du“ zu bedürfen schien. Auch erhielt Alix keinen Handkuß von Vetter Cecil zum Willkommen, ein kräftiges Handschütteln war alles.
„Haben Sie Dank, Cecil, daß Sie gekommen sind! Ich glaube, ich werde Ihrer sehr bedürfen!“ entgegnete Alix.
„Darf ich Onkel Hofmann sehen?“
„Gewiß. Er ist ganz ohne Bewußtsein geblieben, seit – seit das Unglück geschah. Möchten Sie jetzt gleich mit mir zu ihm gehen?“
„Ich möchte – falls es Sie nicht zu sehr aufregt!“
Um ihre Lippen zuckte es.
„Kommen Sie!“
Er ging stumm neben ihr her und betrachtete sie dabei. Welch schöne, vornehme Erscheinung sie doch war, diese deutsche Cousine Alexandra!
Für ihren Vater hatte der junge Mann immer viel Verständnis und Sympathie gehabt. Seine deutsche Mutter war ganz ohne Einfluß auf ihn geblieben, und ihr Tod, der in Cecils fünfzehntes Jahr fiel, bedeutete für ihn keinen schweren Verlust! So war er in englischen Grundsätzen erzogen worden und Herrn von Hofmanns kühles, gehaltenes Wesen, sein auf große, weitaussehende Ziele gerichteter praktischer Blick hatten ihm die größte Achtung vor dem klugen Geschäftsmann eingeflößt. Auch seinem Vater war es so gegangen.
Und hier lag nun der Mann, der Whitemore und Sohn so gründlich imponiert hatte, vor Cecil, hingestreckt von Mörderhand, [524] ein Lebendig-Toter! Er, dem noch so viel vorbehalten gewesen im Leben, der Entwürfe und Schöpfungen vor sich gesehen hatte noch auf viele Jahre hinaus, mitten im rüstigsten Mannesalter gebrochen!
Der junge Whitemore war kein Weichling, aber der jammervolle Anblick da vor ihm erschütterte ihn sehr. Und während Alix mit leiser, gepreßter Stimme – als ob der unglückliche Mann sie hätte hören können – ihrem Vetter sagte, wie alles gekommen sei, welche Maßregeln man getroffen habe und welche weiteren man noch zu treffen gedenke, hob und senkte sich immer noch gleichmäßig die Brust des hilflos Daliegenden unter dem schneeweißen Linnen.
Noch ein Abend dunkelte herein, eine Nacht sank nieder, ein Morgen stieg herauf, die bleiche Wintersonne stand auf ihrer Höhe …. da endlich kam für den bejammernswerten Mann und für seine gemarterte Umgebung der erlösende Tod, der große Befreier! So rasch, so jäh beendete er nach langem Zögern dies ihm längst verfallene Dasein, daß die Umgebung kaum etwas davon gewahr wurde. Kein Aufstöhnen oder Röcheln mehr – es war mit einem Mal zu Ende! Alix hatte sich gegen die Mittagsstunde über ihren Vater gebeugt, und da hatte sie das Heben und Senken der Brust unter dem Leinen nicht mehr bemerkt. Sie hatte erst an eine Sinnestäuschung geglaubt, dann aber, von einem unheimlichen Angstgefühl erfaßt, Cecil herbeigerufen. Von diesem war rasch nach dem Arzt geschickt worden, welcher nur noch den unmerklich eingetretenen Tod feststellen konnte!
Als jeder Zweifel beseitigt war, entfaltete sich im Josephsthaler Schloß jenes düstere, geschäftige Treiben, das der Tod in seinem Gefolge hat. Doktor Petri hatte auf baldigster Beerdigung bestanden – so wurde beschlossen, die feierliche Beisetzung und Ueberführung der Leiche nach der Kapelle schon am zweitnächsten Tage zu bewerkstelligen. Es gab unendlich viel bis dahin zu ordnen und zu thun. Telegraph und Telephon spielten beinahe unablässig, ein reitender Bote über den andern wurde fortgeschickt. Cecil Whitemore kam kaum vom Schreibtisch des Verstorbenen fort, erbat aber seiner Cousine Bestimmung und Rat bei jedem Schritt, den er unternahm. Schon kamen Josephsthaler Arbeiter, um unter Leitung eines Sachverständigen den großen Saal im Schloß zur Trauerfeierlichkeit herzurichten. Die Direktoren, Ingenieure und Buchhalter erschienen, um der Tochter ihres Chefs ihr Beileid auszusprechen und sich von dem Neffen des Verstorbenen Instruktionen wegen der zu treffenden Anstalten zu holen.
Alix benahm sich, nach Aussage aller, die sie zu sehen bekamen und mit ihr zu thun hatten, bewunderungswürdig. Wie eine Marmorstatue anzusehen, trockenen Auges, ging sie zwischen den Wehklagenden, Fragenden, Geschäftigen einher, gab jedem Auskunft, bestimmte alles bis ins Detail, gab Depeschen auf, konferierte mit Cecil, ohne Ungeduld oder Uebermüdung zu zeigen.
Françoise jammerte, daß „mignonne“ nicht weinen könne, und in der That, so schwer es Alix ums Herz war, die befreienden, schmerzlindernden Thränen wollten sich nicht einstellen. Gegen Abend, als die notwendigsten Anordnungen getroffen waren und alle Besucher, auch die Gerichtskommission, unter deren Aufsicht die Sektion stattgefunden, sich entfernt hatten, ergriff Alix ein unabweisbarer Drang, draußen in der frischen Winterluft zu sein, allein mit ihren schmerzlichen Gedanken und Gefühlen. Rasch entschlossen, befahl sie anzuspannen, und bald saß sie zurückgelehnt in den elastischen Polstern des offenen Schlittens und ließ die eigentümlich weiche und doch frische Winterluft um Wangen und Schläfen hauchen.
Hier draußen war es noch nicht dunkel. Es war viel Sonnenschein am Tage gewesen, jetzt schwammen am westlichen Himmel phantastische Wolkengebilde in rötlicher Glut. Doch bald verwandelten sie sich in bleiernes Grau; gleich einem fahlen Leichentuch breitete sich’s aus über all den farbigen Zauber, dunkle Schatten huschten empor und deckten sich über den letzten schwachen Rosenschimmer – ein einziger langgezogener orangegelber Streifen dehnte sich noch unter dem grauen Flor, aber er hatte nichts Freudiges mehr; ein unheimliches, gespenstisches Leuchten ging von ihm aus.
Alix richtete sich ein wenig in ihrer Ecke empor:
„Ich möchte die Schneidemühle sehen! Fahren Sie mich an den Fluß!“
Gehorsam lenkte der Kutscher seine Pferde links um und bog in den abschüssigen Weg ein, der hinab ans Stromufer führte.
Der Fluß lag offen, scheinbar ohne Bewegung, zwischen seinen Ufern. Wie ein schwarzes, glasig schillerndes Riesenband wand er sich durch seine leuchtend weiße Umgebung. Die Ufer waren hier ziemlich hoch – – im Frühling und Sommer war es wunderhübsch an dieser Stelle, Alix hatte als Kind ihre schönsten Blumen da gefunden.
In jener Zeit hatte den Fluß idyllische Einsamkeit umgeben, jetzt standen Häuser und Häuschen zu beiden Seiten, und aus denen, die am entgegengesetzten Ufer standen, blinkten Lichter wie freundliche, tröstende Augen. Es war inzwischen ganz dunkel geworden, und der Riesenwürfel der Schneidemühle leuchtete mit beinahe stechendem Glanz durch die Finsternis. Dasselbe Stampfen, Dröhnen und Fauchen schallte zu Alix herüber, das sie am Abend ihrer Ankunft gehört hatte, es war, als ob der Boden unter ihr erbebe, wie ihr Schlitten näher kam. Hier gingen keine Menschen an den Seitenwegen entlang wie drüben. Die größeren Häuser, in denen nach Ueberwegs Aussage die Beamten wohnten, waren alle hell erleuchtet. Der Schlitten fuhr an dem ungeheuren Fabrikgebäude vorüber und ließ es weit hinter sich.
Alix empfand eine peinigende Unruhe; sie ertrug das Stillsitzen nicht länger.
„Halten Sie hier still, ich will eine kleine Weile auf und nieder gehen. Sie dürfen sich keine Sorge machen, ich bleibe ganz in der Nähe!“
„Wie gnädiges Fräulein befehlen!“
Sie hatte Mühe, aus den Pelz- und Fußdecken, die Vetter Cecil sorglich um sie gebreitet und gewickelt hatte, heraus und auf die Erde zu kommen. Die vielen Hüllen waren ihr zu heiß gewesen bei dem weichen Wetter, ihre geöffneten Lippen tranken durstig die feuchte Luft, während sie rasch zuschritt. Ihr war es seltsam zu Mut: als habe sie ihres Vaters schweres Krankenlager und seinen Tod nur geträumt, als müsse sie in Frankfurt in ihrem schönen, behaglichen Mädchenhelm erwachen und ihre Maria um sich haben, und alles, alles sei, wie es zuvor gewesen.
Da kam etwas durch die dunkle, stille Luft – wieder …. wieder! Ein Ton – ein Klang – woher denn?
Alix schritt hastig voran, dem Klange entgegen, und der Weg, den sie eingeschlagen, um den leise herüberklingenden Tönen näherzukommen, war der rechte gewesen – hier aus dem zierlich gebauten Häuschen, das vereinzelt dastand, wenn auch die ganze Umgebung darauf hindeutete, daß es in kurzer Zeit Nachbarschaft bekommen würde, drangen die Klänge, und das junge Mädchen, dessen Atem von dem eiligen Gang auszusetzen drohte, stand still und horchte. Es wurde Klavier gespielt, und das Pianoforte stand offenbar nahe den rechtsgelegenen Parterrefenstern des im Schweizerstil aufgeführten Gebäudes; nur diese zwei Fenster waren hell. Durchsichtige Gardinen hingen vor den Scheiben, der Schatten eines Mannes zeichnete sich an einer derselben ab. Und nun konnte sie auch die Melodie hören, die drinnen gespielt wurde:
„Am stillen Herd – in Winterszeit!“ Das Werbelied Walther von Stolzings aus den „Meistersingern“!
Die schöne, reizvolle Melodie, aus der es wie Blumenatem quillt und wie treue, liebe Menschenaugen uns ansieht, wurde innig und einfach gespielt, und soweit ein guter und warm empfindender Spieler es fertig bringen kann, einem Pianoforte Töne zu entlocken, daß es ähnlich der menschlichen Stimme klingt, geschah es hier; ihr war, als hörte sie die Worte:
„Am stillen Herd, in Winterszeit,
Wenn Burg und Hof mir eingeschneit,
Wie einst der Lenz so lieblich lacht’,
Und wie er bald wohl neu erwacht – –“
Das Lied ergriff Alix im Innersten, die holden Klänge lösten mit mildem Trost die Spannung in ihrem Herzen, und da – da konnte sie endlich weinen!
[526] Der da drinnen aber im Zimmer, als könnte er sich nicht genug thun in der Wiedergabe der Melodie, begann sie von neuem, und nach einer kleinen Pause wieder von vorn.
Und seine Zuhörerin da draußen weinte, als sollte ihre Seele sich auflösen in heißen Thränen.
Zuletzt wurde es still im Zimmer.
Der Spieler klappte den Deckel am Piano zu und saß noch eine kleine Weile, wie in Gedanken eingesponnen; dann erhob er sich, und in demselben Augenblick wandte sich die dunkle Frauengestalt vom Hause fort und ging hastig ihren Weg zurück.
Markwart, der eifrig nach seiner Herrin Umschau gehalten hatte, war sehr froh, als er sie endlich langsam auf sich zuschreiten sah. Eine Zeit lang hatte er sie aus den Augen verloren gehabt, und da war ihm bange geworden. Was das auch für eine Idee gewesen war, hier neben den halbfertigen Bauplätzen in völliger Dunkelheit auszusteigen und eine einsame Promenade zu machen – eine vornehme junge Dame, der man vor kaum vier Tagen ohne weiteres am hellen lichten Tag den Vater niedergeschossen hatte! Furcht mußte die nicht kennen, und das imponierte Markwart, ebenso ihr freundlicher, aber fester Gebieterton, der das Befehlen gewöhnt war. Sie nahm jetzt den Schleier herunter, stieg ein und sagte mit gedämpfter Stimme: „Sie können nach Hause fahren!“
Wer nach einem Todesfall nahestehender Menschen das Bedürfnis nach Ruhe und innerer Einkehr fühlt, der darf dieselbe in den ersten Tagen, die dem Verlust folgen, nicht erwarten.
Die Welt ist nun einmal so! Es ist Sitte, den Leidtragenden Teilnahme zu erzeigen, gleichviel, ob man sie empfindet oder nicht; sie tritt auf, sie drängt sich herzu in jeder denkbaren Form, und Leute, die oft innerlich todeswund sind, die ihren Jammer kaum zu ertragen vermögen, werden gezwungen, zahllose Besuche entgegenzunehmen, Beileidsworte anzuhören, Briefe zu lesen, Blumenspenden zu empfangen, kurz, den ganzen üblichen, weitschichtigen Apparat der „Trauerfeierlichkeiten“ um sich herum arbeiten zu sehen.
Alix hätte kaum gewußt, wie dies alles überstehen, ohne Vetter Cecils umsichtigen Beistand, zumal ihr Onkel aus Metz durch Krankheit am Kommen verhindert war. Cecil konnte ihr nicht alles ersparen, sie nicht immer schonen; aber wo es irgend anging, da that er es gewiß. Zahlreiche Leute, welche nichts als die gewöhnlichste Neugier, die so lange unsichtbar gewesene Tochter des Ermordeten, die Erbin des reichen Herrn von Hofmann zu sehen, nach Josephsthal getrieben hatte, mußten sich mit dem Anblick des englischen jungen Verwandten begnügen, der sie mit tadelloser Höflichkeit empfing und im Namen seiner Cousine alle Beileidsäußerungen und herrlichen Blumengaben in Empfang nahm: „Alexandra wird so sehr bedauern! Sie läßt durch mich bestens danken und sich vielmals entschuldigen, ist aber wirklich viel zu angegriffen, als daß ich ihr persönliches Erscheinen gestatten dürfte!“
Im übrigen zeigte er sich nicht besonders mitteilsam, dieser junge englische Herr. Ueber die Mordthat behauptete er, gar nichts Näheres zu wissen, Vermutungen sprach er nicht aus, über seine Cousine, ihre Persönlichkeit, ihre ferneren Absichten beobachtete er die äußerste Zurückhaltung, und die etwaigen Pläne und Bestimmungen seines verstorbenen Oheims versicherte er, nicht zu kennen. Die im großen Festsaal aufgebahrte Leiche bekam niemand zu sehen; wer eine Andeutung dieser Absicht wagte, erhielt die Antwort, es sei ein zu erschütternder Anblick, und die Tochter des Verstorbenen wünsche nicht, daß jemand zur Besichtigung zugelassen werde.
Am dreiundzwanzigsten Februar ein Uhr mittags läuteten die Josephsthaler Kirchenglocken und die der umliegenden Ortschaften zur Totenfeier für den Mann, der in seinem Distrikt und weit über denselben hinaus das Ansehen eines Herrschers genossen hatte.
Seit der Nacht war leichter Frost eingefallen, die Sonne lachte am lichtblauen Himmel, die Bäume standen im Rauhreif. Zahllose Schlitten lenkten ihren Lauf zum Josephsthaler Schloß, von dessen Zinne die Trauerflagge, auf Halbmast gehißt, im leichten Winde wehte. Schwarz verhüllt die lichten Marmorstufen im Innern des Schlosses, schwarz bezogen die Treppengeländer, mit Krepp umwickelt sämtliche Griffe und Thürdrücker. Von den Waffentrophäen in der Halle wallten lange schwarze Florschleier nieder. Bewegungslos, die langen Goldstäbe mit mächtigen schwarzen Schleifen und Bändern umwickelt, standen zwei Bediente des Hofmannschen Hauses in ihren Trauerlivreen neben dem Portal, während andere geräuschlos vor den Ankommenden herhuschten und sie in den Trauersaal geleiteten, in dessen Mitte unter einer Flut von Blumen und Palmen der hohe Katafalk aufgestellt war. An der linken Langseite desselben hatten die zahlreichen Oberbeamten der Josephsthaler Werke Aufstellung genommen, während den Gästen die rechte Hälfte des Saales sowie dessen Hintergrund angewiesen wurde.
Als alle, die gekommen waren, dem Toten die letzte Ehre zu erweisen, sich versammelt hatten, thaten die hohen Flügelthüren sich auf, und unter Vorantritt des Josephsthaler Geistlichen kam Alexandra von Hofmann am Arm ihres Vetters Cecil Whitemore langsam näher.
Die vielen Augen, die auf sie geheftet waren und erwartet hatten, eine Schönheit zu sehen, wurden nicht enttäuscht. Schön war Alix in diesen langschleppenden tiefschwarzen Gewändern mit ihrem blütenweißen jungen Gesicht, dem feinen, stolzen Profil und dem rotbraunen Haar. Gesenkten Hauptes schritt sie an ihren Platz. Die Trauerfeierlichkeit begann.
Der Josephsthaler Prediger sprach von dem Toten als von dem genialen Gründer der Josephsthaler Kolonie, dessen Wirksamkeit für die Gegend eine neue Aera bedeute, er sprach von ihm als von einem unermüdlich hilfreichen und gütigen Wohlthäter, der voll Humanität gewesen sei im edelsten Sinn des Wortes. Von der Verwaisung redete er, die über all die Hunderte, die diesem einziggearteten Mann unterstellt gewesen seien, fortan gekommen sein müsse, von der Verwaisung, die vor allen seine einzige Tochter betroffen.
Alix stand mit gesenktem Blick, gesenktem Haupte da und ließ den unaufhaltsamen Strom der feurigen Beredsamkeit ohne Bewegung über sich ergehen. Die Thränen blieben ihr auch jetzt wieder versagt. – Und nun setzte sich der Trauerzug nach der Schloßkapelle in Bewegung. Der Weg dahin führte ein gutes Stück durch den Park, an dessen westlicher Seite die Kapelle lag. Vor dem Schloß waren sämtliche Arbeiter, die zur Kolonie Josephsthal gehörten, aufgestellt, eine schwarze, mehrhundertköpfige Menge, welche die Häupter entblößte, als der blumenbedeckte Sarg inmitten des Portals sichtbar wurde.
Acht Leute der Schneidemühle hoben den Sarg auf ihre Schultern – die Glocken läuteten ununterbrochen und die aus Greifswald verschriebene Militärmusik stimmte einen Trauermarsch an. Langsam setzte das ungeheure Leichengefolge sich in Bewegung.
Noch einmal vor der geöffneten Thür der mit Blumen reichgeschmückten Kapelle wurde der Sarg niedergesetzt, noch einmal sprach der Geistliche, diesmal im Freien, mit lautschallender Stimme zu der versammelten Arbeiterbevölkerung.
Dann war der Sarg in die Gruft hinabgelassen worden, und Freiherr von Hofmann war der Erde wiedergegeben, von der er genommen war.
Für Alix folgte noch eine peinvolle halbe Stunde, da viele Leute aus der Nachbarschaft ihr vorgestellt zu werden wünschten, die behaupteten, gute Freunde ihres Vaters gewesen zu sein, sich ihrer, der kleinen Alix vor zehn Jahren, noch deutlich zu entsinnen, und beanspruchten, daß auch sie sich ihrer deutlich entsänne.
Aber endlich waren sie alle miteinander fort, und Alix zog sich in ihre Zimmer zurück, sprach ein paar beruhigende Worte zu der sie beständig umsorgenden Françoise und begann für sich allein den Brief ihrer Maria zu lesen, der heute früh in Begleitung eines schönen Arrangements von Palmzweigen und weißen Rosen bei ihr eingetroffen war. Der Brief lautete:
„Ich will haben, daß Du diese Worte am dreiundzwanzigsten Februar lesen sollst, mein geliebtes Herz, und, wie ich meine Alix kenne, wirst Du sie dann erst lesen, wenn der schwere und traurige Akt, der Dir heute bevorsteht, überwunden ist. Du sollst es empfinden, daß ich mit meiner ganzen Seele bei [527] Dir bin, daß ich mich, in Freude wie in Leid, getreulich zu Dir rechne, daß nichts auf der weiten Welt geschehen kann, was meine Liebe und Freundschaft zu Dir zu erschüttern imstande wäre …. ebenso, wie ich mich dessen jederzeit von Dir versichert halte! – Ach, mein armer Liebling, schwere Zeiten sind über Dich hereingebrochen, noch schwerere vielleicht stehen Dir bevor! Hab’ ich Dich stark genug gemacht, alles zu ertragen, was Dir auferlegt ist, hab’ ich das? Unaufhörlich klingt mir diese bange Frage im Herzen wieder! Es war keine Kleinigkeit für mich, ein ‚Kind des Glücks‘, wie die Menschen Dich so gern nannten, zu erziehen, Dich das heitere, schöne, sorglose Dasein, welches das Schicksal Dir bereitet, genießen zu lassen und Dir doch wieder und wieder, beständig fast, zu wiederholen: ‚Es ist keiner im Leben immer ein Kind des Glücks! Schau’ um Dich und schau’ in Dich! Glänzende äußere Gaben befähigen zu vielem, erleichtern manches, sie können aber die Schicksalsschläge nicht abwenden, die niemand erspart bleiben!‘
Und nun ist das Schicksal gekommen und hat Dich so früh, so unerwartet früh vor eine große, schwere, verantwortliche Aufgabe gestellt! –
Was soll ich es Dir verhehlen, meine Alix, ich habe oft mit Angst und Zittern an diese Deine Zukunftsaufgabe gedacht. Denn Herr sein über so viele – das ist schon für einen intelligenten Mann, der von Jugend auf dazu geschult ist, ein schweres Amt! Nun aber ein junges, verwöhntes Mädchen gar, das nicht den Schatten einer Vorbereitung zu solchem Amt gekannt hat! – – –
Wenn mich diese Furcht nun überkam, so war es mir ein Trost, Deines Vaters kräftige, lebensvolle Gestalt, seine eisenfeste Gesundheit, sein in sich geschlossenes Wesen, seine regelmäßige Lebensweise und stete Arbeitsfreudigkeit mir in Erinnerung zu bringen. ‚Er wird noch lange, lange leben! Er wird sehr alt werden – meiner Alix wird es viele Jahre hindurch erspart sein, diese ungeheure Verantwortung auf sich zu nehmen; sie wird Zeit haben, innerlich auszureifen, und wenn das Schwere an sie herantritt, so wird es sie einigermaßen gerüstet finden!‘
Und jetzt ist mein armes, süßes Kind eben einundzwanzig Jahre alt geworden!!
Mich haben einige Bekannte, die ich auf der Straße traf und die den Mut besaßen, sich an mich heranzuwagen – den Sinn dieser Worte erkläre ich Dir später – schon gefragt, ob Du nicht sehr bald hierher zurückkehren und demnächst auf längere Zeit verreisen würdest? Nicht wahr, Kind, ich that recht daran, ihnen zu sagen, daß Du daheim bleiben und versuchen wolltest, Dich in Deine neuen Pflichten einzuleben? Du gehörst jetzt nach Josephsthal und nirgend anderswo hin! Deine Pflichten halten Dich dort fest. Und noch einen zweiten stichhaltigen Grund, außer diesen neuen Pflichten, giebt es, weshalb meine Alix um keinen Preis fahnenflüchtig werden darf! Sie haben Dir Deinen Vater heimtückisch gemordet, Du armes Herz; seinem Wirken und Schaffen ist ein vorzeitiges Ziel gesteckt worden. Deine Pflicht als Tochter gebietet es Dir, am Ort der That zu bleiben, jeden Schritt, den man zur Entdeckung des Thäters unternimmt, zu verfolgen, bis, hoffentlich bald, Licht in dieses traurige Dunkel gebracht wird. Schwer und lastend genug liegt auch diese zweite Aufgabe auf Dir – aber ich habe immer gefunden, daß mein Liebling ein starkes Herz hat und eine elastische, gesunde Natur .…. beides im Bunde miteinander wird Dir auch jetzt helfen, da der bittere Ernst des Lebens so gebieterisch an Dich herantritt. – Für Deine kurzen, aber so sachgemäßen und häufigen Nachrichten sage ich Dir tausend Dank. Es war sehr liebevoll und zart von Dir, mir in dieser für Dich so schweren Zeit täglich zu schreiben, aber Du weißt es ja, mußt es ja fühlen, wie mein Herz jede Stunde um Dich bangt und sorgt!
Ach, daß ich nicht bei Dir sein kann, nicht zu Dir eilen darf!
Du fragst nach den Kindern – mitten in Deinem eigenen Kummer und Deiner Aufregung hast Du an unsere Kleinen gedacht und uns dadurch unbeschreiblich wohlgethan. Ich muß nun wohl von uns erzählen; Liebste, leider kann ich nichts Gutes berichten! – – Am Tage Deiner Abreise steigerte sich bei unserem Werner das Fieber aufs neue bis zu bedenklicher Höhe, der Arzt konstatierte einen Rückfall, und während ich in Angst und Schrecken um das Kind bemüht bin, bekomme ich die Nachricht, daß meine kleine Else im Pensionat unter beängstigenden Symptomen erkrankt ist, und daß man auch bei ihr Diphtheritis fürchte.
Ich habe mich sofort in einen Wagen gesetzt und mir das Kind, in Kissen gepackt, hergeholt – wie sollte ich den Damen dort so viel Sorge und Unbequemlichkeit aufbürden – und dann – wer könnte ein Kind besser pflegen als seine eigene Mutter? – –
Das kleine Leben war zwei Tage hindurch sehr in Gefahr, meine Alix, so sehr, daß wir versuchten, uns aufs schlimmste gefaßt zu machen. Ach, versuchten! Wäre es gekommen – ich weiß nicht, wie wir’s hätten tragen sollen!
Fürs erste ist die unmittelbare Lebensgefahr vorüber, aber beide Kinder sind unsagbar schwach und mitgenommen, namentlich Else, die sich in den wenigen Tagen fast bis zur Unkenntlichkeit verändert hat.
Ich schreibe diesen langen Brief mitten in der Nacht; mein Tisch steht zwischen den beiden Kinderbetten. Hebe ich die Augen, so kann ich die kleinen Schläfer sehen. Werner ist recht mager und blaß, sein liebes Gesicht aber doch zu erkennen. Mein Elschen – immer noch kommen mir die Thränen, wenn ich das Kind ansehe! Werde ich es wirklich behalten dürfen?
Die Fenster stehen offen, es soll beständig frische Luft im Zimmer sein; ich sitze im dicken Mantel, ein warmes Tuch um Hals und Kopf genommen, aber die Hände sind mir doch steif und kalt! – – Dies die traurigen Gründe, die mich jetzt von Dir fernhalten!
Ich habe mich nun gemüht, soweit mir dies ohne persönliches Eingreifen möglich war – denn die Menschen scheuen doch mit Recht die Ansteckung so sehr! – eine Art von Ersatz für meine Person ausfindig zu machen, denn allein kannst Du nicht bleiben, Du brauchst notwendig eine Gesellschafterin, Françoise genügt dafür in keinem Fall. Da hat mir nun meine Kollegin, die Professorin Behr, die sich richtig zu mir wagte – wie Du weißt, hat sie keine Kinder, und Furcht vor Ansteckung kennt sie nicht – eine einstige Jugendfreundin, die in Berlin lebt und immer noch mit ihr im Briefwechsel steht, warm empfohlen.
Es ist die Wittwe eines Majors von Sperber, kinderlos, überhaupt ohne jeden Anhang, eine rüstige ältere Dame, liebenswürdig, gescheit, mit guten, feinen Manieren. Sie hat zu leben, wie man so sagt, hat aber des öfteren geäußert, wie wenig dies thatenlose Dasein sie befriedige, wie sie sich nach irgend welcher Thätigkeit sehne und am liebsten bei einer verwaisten jungen Dame Mutterstelle vertreten und die Repräsentationspflichten übernehmen möchte. Frau Professor Behr sandte mir ein paar Briefe ihrer Freundin, und sie gefielen mir gut. Meine Kollegin selbst kennst Du ja als eine kluge und sympathische Frau, deren Urteil man wohl trauen darf. – – Was also meinst Du? Soll ich der Majorin v. Sperber in Deinem Namen schreiben? Oder willst Du dies selbst thun? Ihre Adresse füge ich bei. Es ist ein Griff in die Glückslotterie, diese Wahl einer Gesellschaftsdame für Dich, aber selbst bei Menschen, die man zu kennen glaubt, stellen sich im steten Zusammenleben oft genug unliebsame Überraschungen ein! – – Daß Du in dieser wichtigen Angelegenheit einen raschen Entschluß fassen mußt, liegt auf der Hand. –
Mein Mann läßt grüßen und denkt, gleich mir, in Liebe und Sorge an seine Pflegetochter. Werner hat schon nach Dir gefragt und schickt gleichfalls seinen Gruß. Meine kleine Else liegt noch ganz abgespannt und teilnahmlos da.
Gott mit Dir, mein Kind, mein Liebling, meine beste treueste Freundin! Schreib’ mir, sobald Du irgend kannst, und übersteh’ tapfer den heutigen schweren Tag und die ebenso schweren Zeiten, die ihm folgen werden!
Immer die Deine und immer bei Dir!
[550]
Lustiges Schneetreiben! „Frau Holle schüttelt ihre Federbetten!“ heißt es im Volksmunde.
Alix hatte als Kind das reizende Grimmsche Märchen von der Frau Holle besonders gern gehört und gelesen; beim Anbruch des Winters hatte sie oft lange Zeit am Fenster gestanden und dem hastigen Treiben der Schneeflocken zugesehen! – – – Heute saß sie über zwei dicke Bücher voller Zahlenreihen und Namen gebeugt, verglich emsig die langen Spalten miteinander, machte sich Notizen in ihre Brieftafel und hatte keinen Blick dafür, wie eifrig draußen Frau Holle ihre Federbetten schüttelte. – Ihr Vetter Cecil hatte ihr heute, wie jeden Tag, eine Aufgabe gestellt, die mußte sie erfüllen. Sie hatte ihn gebeten, sich ihrer anzunehmen, damit sie wenigstens einen ungefähren Einblick in die Verhältnisse bekomme, die fortan so sehr wichtig für ihr Leben werden sollten. Fachstudien konnte Cecil mit ihr naturgemäß nicht unternehmen, zum Oberingenieur konnte er sie nicht machen, aber über Gewinn und Verlust, über ihre Konkurrenten und Lieferanten, über den Stand des Arbeitsmarktes, vor allem über die Verhältnisse der Josephsthaler Leute vermochte er ihr Aufschluß zu geben. Alix hatte ihm gesagt: „Setzen Sie keinerlei Vorkenntnisse bei mir voraus, und wundern Sie sich nicht, wenn ich oft aus meiner Unwissenheit heraus Fragen an Sie stellen werde, die Ihnen einfältig erscheinen müssen!“
In seiner korrekten Weise und mit dem praktischen Sinn, den ihm einmal die Natur, anderseits die jahrelange Uebung verliehen, hatte der junge Whitemore diese Aufgabe erfaßt. Es fiel ihm nicht ein, seine Cousine mit galanten Redensarten zurückzuweisen. Sie wünschte es sich, sie traute es sich zu – für dumm hatte er sie nie gehalten – also that er ihr den Willen! Er hatte sich ganz darauf eingerichtet, für längere Zeit, mindestens ein Jahr, in Josephsthal zu bleiben, hatte auch in diesem Sinne an seinen Vater geschrieben und um Urlaub gebeten, vielleicht konnte er sogar beständig hier bleiben und für seine Cousine die Werke verwalten …. nun, das blieb abzuwarten! Man mußte einstweilen zusehen!
Ebenso selbstverständlich wie sein Bleiben fand er die Thatsache, daß auch Alix gar nicht daran dachte, fortzugehen, sondern sofort bestrebt war, sich eine Art Ueberblick über ihr neues Besitztum zu verschaffen. Wäre sie auf und davon gegangen, ohne sich um ihr Erbteil zu kümmern, so hätte zwar Cecil kein Wort dazu gesagt – in seinem Innern würde er sie aber eine sehr oberflächliche und leichtsinnige Person genannt haben.
Sie hatten es beide schwer – denn ihm waren die deutschen Leute und Verhältnisse fremd, und sie hatte keine Ahnung von all den Dingen, die ihm schon mit fünfzehn Jahren geläufig gewesen waren. Es galt also, mit ihr wie mit einem Kinde beim geschäftlichen Alphabet anzufangen, sie doppelte Buchführung, eine leichtfaßliche Rechenmethode, die gebräuchlichsten Ausdrücke der Geschäftswelt zu lehren – aber als der junge Engländer bemerkte, daß die Schülerin ernstlich wollte, daß sie sich redliche Mühe gab, zu begreifen, und, dank ihrer Intelligenz, auch in der That begriff, da fing die Sache an, ihm Freude zu machen. Und nun ging er rasch mit ihr voran.
Alix sah jetzt schon, daß Cecils Methode richtig und daß sie in den wenigen Wochen sehr gefördert worden war, und dies erfüllte sie mit einiger Genugthuung. Daß die Sache an und für sich ihr Freude machte, konnte sie nicht behaupten. „Hätte ich einen Beruf zu wählen – Kaufmann oder Buchhalter wäre ich nie geworden!“ hatte sie schon oft gedacht.
Mit den Arbeitern war sie bisher noch in gar keine Berührung gekommen. Sie wurde, wenn sie durch die Kolonie fuhr, von ihnen gegrüßt und dankte jedesmal freundlich, das war vorläufig alles! Sie fühlte, hier mußte sie erst viel sicherer werden, einen ganz andern Einblick haben, ehe sie Reformen versuchte. Die Rolle der segenspendenden Fee, so sehr sie’s oft danach gelüstete, mußte sie einstweilen ganz beiseite lassen! Dagegen war sie mit den verschiedenen Direktoren, Ingenieuren, kurz, mit den Oberbcamten der Werke in Verbindung gekommen. Sie alle hatten der Tochter ihres ehemaligen Chefs pflichtschuldigst ihren Besuch gemacht, die verheirateten unter ihnen hatten ihre Frauen mitgebracht, und Alix dachte daran, allmählich diese Visiten zu erwidern. Von manchen hatte sie einen günstigen Eindruck empfangen, von wenigen einen unvorteilhaften, von einzelnen überhaupt keinen. Sie kamen ihr aber ohne Ausnahme mit großer Reserve, wenn auch mit ausgesuchter Höflichkeit, entgegen, und Alix glaubte hieraus einen Rückschluß auf das Verhältnis ziehen zu können, welches ihr Vater seinen Beamten gegenüber für angezeigt erachtet hatte.
Seit etwa acht Tagen war sie nun auch im Besitz einer Gesellschaftsdame. Die Majorin von Sperber, mit der sie selbst in Briefwechsel getreten war, hatte sich gern bereit finden lassen, den Posten einer Ehrendame bei dem verwaisten jungen Mädchen anzunehmen; sie hatte ihre Ankunft thunlichst beschleunigt, um Fräulein von Hofmann nicht so lange allein zu lassen, und war aus dem geräuschvollen Berlin nach dem zur Zeit sehr stillen Josephsthal gekommen. Sie versicherte aber, den Tausch durchaus nicht zu bereuen, ihre Nerven bedürften der Ruhe, und sie wisse sich jederzeit gut zu beschäftigen; Langeweile sei ihr ein ganz unbekannter Begriff. Eine stattliche hohe Fünfzigerin mit vollen, grauen Puffenscheiteln, stets in dunkle, gutsitzende Kleider gehüllt – vorwiegend Seide – würdevoll, aber nicht prätentiös auftretend, freundlich und teilnehmend gegen Alix, ohne ihr zu viel Fürsorge und mütterlichen Schutz aufdrängen zu wollen, voller Anteil, ohne neugierig zu sein …. es schien, wie das junge Mädchen ihrer Freundin Maria zu deren großer Beruhigung schrieb, als ob der Griff in die Glückslotterie günstig ausgefallen sei. Recht gut traf es sich auch, daß die Majorin musikalisch war und einen gediegenen Geschmack in dieser Kunst entwickelte. Alix, die stets die besten Lehrer gehabt hatte, besaß eine hübsche Fertigkeit im Klavierspiel und ein lebhaftes Gefühl für wirklich wertvolle Musik. Die beiden Damen hatten sich rasch über ihr Repertoire und ihre Richtung miteinander verständigt – die Majorin schwärmte nicht so für Richard Wagner wie Alix dies that, sie war dafür eine gründliche Beethoven-Kennerin, und nun freuten beide sich schon der Genüsse, die sie haben würden, wenn Alix’ kostbarer Konzertflügel erst von Frankfurt herübergekommen sein würde.
Unter denjenigen, die der Erbin der Josephsthaler Werke pflichtschuldigst einen Besuch abgestattet hatten, war auch Oberingenieur Harnack gewesen. Bei einem der obersten Beamten des verstorbenen Herrn von Hofmann verstand sich dieser Besuch wohl von selbst, aber Alix beobachtete zu gut, um nicht alsbald herauszufinden, daß der junge Mann sich dieser ihm obliegenden Pflicht mit einem offenbar freudigen Eifer unterzog, der zu der höflichen Steifheit und abwartenden Haltung des übrigen Personals einen starken Gegensatz bildete. Die Unterhaltung mit ihm war denn auch animierter gewesen und hatte länger gedauert als mit allen andern. Der Oberingenieur hatte weite, schöne Reisen unternommen und schien ein recht unterrichteter, belesener Mann zu sein; er sprach gut, verstand aber ebensogut, verständnisvoll zuzuhören. Auch gefiel es Alix, daß er kein Hehl aus seiner niederen Herkunft machte; er erzählte unbefangen, sein Vater sei ein armer Grubenarbeiter im oberschlesischen Gebirge gewesen und habe es unter den größten Mühen und Entbehrungen durchgesetzt, ihn aufs Gymnasium zu bringen, wo er schon als Tertianer Nachhilfestunden gegen freie Kost oder ein ganz geringfügiges Honorar geben mußte. Seine offenbare Bewunderung Alexandras hatte nichts Zudringliches mehr; er schien ganz bereit, sie aus ehrerbietiger Entfernung anzubeten, und das gefiel dem verwöhnten Mädchen, namentlich in seiner jetzigen Gemütsstimmung, wohl. Vetter Cecil konnte den Ingenieur nicht genug rühmen: seine umfassenden Kenntnisse, seine Umsicht, Arbeitskraft und Vielseitigkeit seien staunenswert; es wäre geradezu kolossal, was der Mensch leisten könne, und kein Wunder, daß Onkel Hofmann ihn seine „rechte Hand“ genannt habe! Er, Cecil, würde nicht wissen, was ohne ihn anfangen, Harnack führe ihn überall ein, sei stets orientiert und genieße Respekt bei den [551] Arbeitern, wenn er auch nicht gerade beliebt bei ihnen sei. Liebe sei übrigens auch in solchem Verhältnis ein ganz unnützer Artikel – Gebieter, die sehr beliebt wären, würden allemal von ihren Untergebenen übersehen und ausgenutzt – der Respekt sei die Hauptsache.
Cecil hatte hinzugefügt, die Herren hätten ihm mitgeteilt, daß ihr verstorbener Chef sie von Zeit zu Zeit in sein Haus gezogen, sie eingeladen habe, hin und wieder einen Abend bei ihm zuzubringen; man habe gespeist, politisiert, geplaudert, geraucht, es seien oft recht anregende Debatten gewesen. Cecil riet seiner Cousine, diese geselligen Abende nach einiger Zeit wieder aufzunehmen; sie und die Majorin könnten den Vorsitz führen, und es könne beiden Damen nichts schaden, wenn sie wirklich alle vier bis sechs Wochen einmal kaufmännisch gefärbte Gespräche mit anhörten. Er, der Vetter, wolle versuchen, die Herren möglichst gut zu unterhalten – er sei dafür, daß eine gewisse Verbindung zwischen der Besitzerin der Werke und dem Beamtenpersonal bestehe. Alix versprach gerne, nach Verlauf einer entsprechenden Frist die geselligen Abende von neuem einzuführen.
Ziemlich häufig war ihr, bald da, bald dort, der als Herr Neubert in den Werken angestellte Geheimpolizist Korty begegnet, und zwar immer in Begleitung von vier, fünf andern Arbeitern, von denen er einen oder zwei zutraulich unter den Arm gefaßt hatte, während er lebhaft mit den andern sprach. Er schien sich rasch beliebt gemacht zu haben, sein harmloses, glattes, knabenhaftes Gesicht war überall gern gesehen. Er hatte sich noch nie bei Alix melden lassen, konnte ihr also bisher nichts von Belang mitzuteilen gehabt haben; traf er sie inmitten der Kolonie, so grüßte er höflich mit den andern zugleich und ging weiter.
An schönen Tagen konnte man Alix in der Mittagsstunde häufig genug neben der Majorin durch die Kolonie wandern sehen, und solche Gelegenheiten wußte Oberingenieur Harnack zuweilen sehr gewandt zu benutzen, indem er, anscheinend ganz zufällig und wie mitten in voller Geschäftigkeit, aus dem Maschinenhaus, aus einem der Lagerräume, aus einer Abteilung der Dampfschneidemühle heraustrat, freudig überrascht stehen blieb, die Damen überaus höflich grüßte, zögerte – und schließlich im bescheidensten Ton die Frage stellte, ob er sich den Damen wohl in irgend welcher Weise nützlich machen könne, vielleicht wünschten sie einiges zu erfahren, worüber er Bescheid geben dürfe. Das traf sich denn wirklich auch oft genug so; zumal die Majorin, der in Josephsthal alles neu und interessant war, zeigte sich äußerst wißbegierig und war sehr eingenommen von Herrn Harnacks klarer, leicht faßlicher Darlegung der Dinge – sie meinte, hierin übertreffe er offenbar Mr. Whitemore, der fast nie Zeit und Geduld genug hatte, den Erklärer zu spielen, und, wenn er es einmal that, soviel technische Ausdrücke hineinmischte, daß man doch kaum die Hälfte von dem verstand, was er sagte.
Zuweilen, wenn Alix gegen Abend eine Stunde allein hinausfuhr, stieg sie in der Nähe der Schneidemühle aus, ging ein Stück am Fluß entlang und bog dann bei den Neubauten ein, um zu dem Häuschen im Schweizerstil zu kommen, neben dem sie an ihres Vaters Todestag gestanden und die ersten lindernden Thränen gefunden hatte beim Anhören jener schönen Musik. Sie bekam aber nichts mehr zu hören. Entweder lag das Häuschen still und dunkel da, oder es waren ein paar Fenster erleuchtet, aber kein Klang war zu vernehmen, auch kein Schatten an der dünnen Gardine zu sehen. Alix wußte noch heute nicht, wer der Klavierspieler gewesen war, und sie scheute sich auch, direkt danach zu fragen. – – –
Jetzt sind ihre Gedanken weitab von musikalischer Offenbarung und weichem Empfinden. Alix rechnet. Ihre rechte Hand, die so leuchtend weiß aus den Falten des schwarzen Kreppärmels hervorsteht, hält die Feder und fährt prüfend die ganze Zahlenreihe auf und nieder und nochmals auf und nieder, sie will sich auf keinem Irrtum betreffen lassen! Draußen wirbelt der Schnee herab. Die Bronzeuhr mit der Minerva – das junge Mädchen sitzt in ihres Vaters Arbeitszimmer – giebt zwölf Schläge an. Das ist Cecils gewohnte Zeit – gleich muß er hier sein! Alix schiebt ihre Papiere ein wenig zurück, sie ist mit ihrer Aufgabe fertig.
Leises Klopfen – der grauhaarige Diener steckt den Kopf herein.
„Mr. Whitemore läßt das gnädige Fräulein fragen, ob er die Ehre haben darf.“
„Ich lasse bitten!“
Das wiederholt sich jeden Tag um dieselbe Stunde genau so. Cecil läßt sich immer förmlich anmelden, Alix läßt jedesmal höflich bitten. Sie arbeiten zusammen, die beiden, sie besprechen alles Geschäftliche, aber sie sind einander in dieser ganzen Zeit innerlich um nichts näher gekommen. Wozu auch? Sie empfinden alle beide nicht das mindeste Bedürfnis danach.
Cecil erscheint, ein paar Papiere in der Hand – korrekt, gemessen, verständig.
„Guten Tag, Cousine. Wie befinden Sie sich?“
„Danke, ich bin gesund. Setzen Sie sich, bitte!“
„Thank you!“ Cecil nimmt einen Stuhl und sieht die Blätter durch, die sie ihm hinreicht. Ein kleines Kreuzverhör schließt sich dieser Durchsicht an – Worte wie: Conto – Disconto – Valuta – Wechselaccept und so fort klingen hinüber und herüber. Der junge Engländer nickt: „Well! That will do!“ Mehr Lob erntet Alix nie. „Zu morgen also“ – er zieht ein paar Zettel aus der Tasche und giebt sie ihr. „Und hier – wollen Sie diese zwei Geschäftsbriefe einsehen? Der eine ist ziemlich belanglos, ich habe nur unsere Preise durchgesetzt, aber das war vorauszusehen! Der andere ist von Flottwell Brothers in New York und sehr wichtig, die neue Geschäftsverbindung ist angebahnt!“
„Freut mich für Sie! Sie wünschten sich das ja so. Ich gratuliere!“
„Danke! Ist mir in der That angenehm. Dann – dann – – sind hier noch – –“
„Nun?“ Alix sieht erstaunt auf. Ihr will’s scheinen, als ob Cecil etwas verlegen wäre, und das hat sie noch nie an ihm gesehen. Er pflegte auch sonst immer seine Sätze zu Ende zu sprechen!
„Sie äußerten neulich, Cousine, Ihr Vater habe wohl nie an einen raschen, frühen Tod gedacht, und ich pflichtete dem bei. Im Anfang der fünfziger Jahre – ganz gesund – vernunftgemäß lebend – wie hätte Onkel Hofmann an seinen Tod denken sollen? Dennoch hat er es gethan –“
„Ja, gewiß,“ fiel das junge Mädchen ein, „er hat ein Testament aufgesetzt, wie das vorsichtige Geschäftsleute oft in guten Jahren noch zu thun pflegen.“
„Ich meine nicht das. Es hat mich keinen Augenblick gewundert, ein Testament vorzufinden. Onkel Hofmann war viel zu vernünftig beanlagt, nach jeder Richtung hin, um einen so wichtigen, notwendigen Schritt zu versäumen. Aber in seinen Privatpapieren – ich nahm sie an mich, da Sie, Cousine, mich darum ersuchten – habe ich gestern abend, als ich sie zum erstenmal durchsah – ich hatte früher beim besten Willen keine Zeit dazu ..... da also habe ich – –“
Neues Stocken. Wahrhaftig, der besonnene, vernünftige Vetter ist verlegen!
„Habe ich also diesen Brief, an Sie gerichtet, vorgefunden. Bitte, wollen Sie die Aufschrift lesen und sich überzeugen, daß das Siegel unverletzt geblieben ist!“
„Bedarf es denn zwischen Ihnen und mir wirklich solcher nutzlosen Formalitäten, Cecil?“
„Bitte, das ist keine unnütze Formel – das ist gcschäftlich korrekt. Wollen Sie lesen –“
„An meine Tochter, Fräulein Alexandra von Hofmann. Nach meinem Tode zu öffnen und zu lesen.“
„Sie erkennen an, daß dies Ihres Vaters Handschrift ist?“
„Aber natürlich!“
„Und das Siegel?“
„Mein Gott, Cecil! Nun also, wenn Sie es ausdrücklich zu hören wünschen: das Siegel ist unverletzt geblieben!“
„Danke!“ Der Engländer stand so hastig auf, als habe er diese letzte Bestätigung kaum erwarten können.
„Sie werden nun lesen, und ich werde nun gehen!“
„Schon?“
„Ich habe – ja, ich habe viel zu thun, und Ihre Arbeit zu morgen finden Sie da auf dem Zettel verzeichnet. Guten Morgen, Alexandra!“
„Jagten Sie nicht gestern oder deuteten es wenigstens in [552] Gegenwart der Majorin und von Françoise an, Sie hätten mir noch eine geschäftliche Mitteilung zu machen – – oder vielmehr einen Vorschlag zu unterbreiten? Jawohl – das war es! So drückten Sie sich aus!“
„In der That!“ Es schien Cecil unangenehm zu sein, daß sie ihn erinnerte und dadurch zum Bleiben zwang; er setzte sich mit sichtlichem Zögern nieder, griff ein elfenbeinernes Papiermesser vom Schreibtisch auf und schob es langsam auf seiner linken Handfläche hin und her, welch interessante Beschäftigung ihn dermaßen fesselte, daß er kein Auge davon abwendete und daher Alix beharrlich nicht ansah.
„Sie haben recht, es war so! – Wissen Sie, daß hier in der Kolonie Josephsthal ein ziemlich naher Verwandter von Ihnen lebt?“
„Ein ziemlich naher Verwandter? Und das erfahre ich jetzt erst? Ah – ich erinnere mich! Doktor Ueberweg erwähnte eines solchen kurz nach meiner Ankunft, doch wurden wir damals unterbrochen. Und dann starb Papa. Heißt dieser Verwandte nicht Hagedorn und war seine Mutter nicht eine geborene Gräfin Holsten-Delmsbruck, ebenso wie Ihre Mutter, Cecil, und meine?“
„Ganz richtig! Eine rechte Cousine unserer beiden Mütter.“
„Und ihr Sohn lebt hier? Merkwürdig, daß er so gänzlich verabsäumt hat, sich mir in Erinnerung zu bringen! Ich entsinne mich jetzt, er schrieb mir, nach meines Vaters Tode, aber er hätte doch wohl seine Teilnahme anders bethätigen dürfen als durch einen förmlichen Brief, der mich in dem Glauben ließ, er komme von irgendwoher, und nicht aus nächster Nähe.“
„Onkel Hofmann hat ihn vor einigen Jahren hierher genommen, da der Vater gänzlich verarmt und der Sohn sich auf raschen Broterwerb angewiesen sah. Er ist Buchhalter drüben bei der Schneidemühle, und Harnack, als Oberingenieur, hat viel mit ihm zu thun!“
„Was sagt er denn über ihn?“
„Er sagt ihm nichts besonders Gutes nach. Er sei nachlässig in der Erfüllung seiner Pflichten, nehme oft Urlaub, dehne denselben weit über Gebühr aus, komme häufig zu spät und gehe zu früh, verbringe seine Zeit mit allerlei nutzlosen Tändeleien, wisse nichts von Ernst und Wert der Arbeit. Besonderen Anstoß nimmt Harnack an der leichtfertigen Art, in welcher der junge Mann mit Aeußerungen um sich wirft, welche deutlich genug beweisen, wie ihm sein ganzer Beruf nichts als eine unbequeme Last sei, die er, je eher je lieber, von sich abschütteln würde, wenn er eben eine andere Art wüßte, seinen Lebensunterhalt zu gewinnen. Harnack sagt, erstens leide die Arbeit unter einer so sorglosen Handhabung ohne jedes System, zweitens hält er es für bedenklich, einen Menschen, der derartige Aeußerungen thut, unbekümmert darum, wer ihm gerade zuhört, inmitten eines so weitverzweigten Getriebes wirken zu lassen. Harnack meint, das könne leicht böses Blut setzen und gefährlich werden!“
„Er wünscht also, Hagedorn zu entlassen?“
„Er bat mich darum mit dem Zusatz, es sei dies schon lange sein Wunsch gewesen, er habe aber zu Ihres Vaters Lebzeiten nicht gewagt, einen Wink zu geben, da der junge Mann ein Verwandter seines Chefs gewesen sei.“
„Ich glaube nicht, daß, sobald es sich um wichtige geschäftliche Dinge handelte, irgendwelche persönlichen Rücksichten bei Papa ins Spiel kamen, und Ingenieur Harnack sollte ihn gut genug gekannt haben, um dies ebenso gut zu wissen. Meinen Sie das nicht auch?“
„Ich meine es allerdings und sagte ihm das auch, allein er meinte doch, dies sei sein Motiv gewesen!“
„Sein einziges Motiv?“
„Er hat mir kein anderes genannt!“
Alix schwieg ein Weilchen. „Sie haben doch wohl den in Rede stehenden Herrn persönlich kennen gelernt?“ fragte sie dann.
„Was man im oberflächlichsten Sinne so nennt. Ich habe ihn mehrmals gesehen und ein paar landläufige Redensarten mit ihm ausgetauscht. Beobachten konnte ich ihn nicht, auch nicht seine Leistungen kontrollieren – es fehlt mir an Zeit dazu. Das müssen wir schon Harnack überlassen.“
„Sie werden doch irgend einen persönlichen Eindruck empfangen haben! Welcher Art war der?“
„Persönliche Eindrücke pflegen mich, wie Sie Aehnliches soeben von Ihrem Vater sagten, Cousine, nie zu bestimmen. Wenn ich aber von einem solchen, natürlich rein äußerlichen, Eindruck sprechen soll, so muß ich allerdings sagen, daß er ungemein vorteilhaft gewesen ist.“
„So? – – Und nun noch zwei weitere Fragen! Erstlich: wir sind kurz vor Ostern – kann man einem angestellten Beamten so ohne weiteres kündigen?“
„Ihr Vater hat monatliche Kündigung seinerseits festgesetzt!“
„Und wie findet ein so plötzlich entlassener Mann ebenso schnell wieder eine neue Stellung?“
Cecil hob die Achseln. „Seine eigene Angelegenheit!“
„Sehr bequem gesagt für uns – weniger bequem für ihn!“ sagte Alix ernst. „Und nun meine letzte Frage: Bin ich, Alexandra von Hofmann, in letzter Instanz befugt, ich meine gesetzlich berechtigt, die Anstellung oder Entlassung eines Beamten der Josephsthaler Werke zu entscheiden?“
„Ganz gewiß sind Sie das als Ihres Vaters Universalerbin und mündig gesprochene Tochter. Eben darum ersuchte mich Oberingenieur Harnack um meine Vermittlung behufs Erlangung Ihrer Einwilligung!“
„So verweigere ich sie!“
Alix warf das rasch und lebhaft hin und sah ihrem Vetter kampfgerüstet in das immer noch gesenkte Gesicht.
„Sie werden gewiß denken,“ fuhr sie etwas bedächtiger fort, „daß dies eine Frauenlaune von mir sei und daß jetzt, da die Werke meines Vaters in meiner Hand sind, ein Regiment persönlicher Willkür in Josephsthal beginnen werde. Das soll nicht der Fall sein, ich verspreche es Ihnen. Ich habe meine Gründe, zu handeln wie ich handle. Oberingenieur Harnacks Tüchtigkeit und umfassende Kenntnisse in allen Ehren – ich glaube fest daran, weil das Urteil meines Vaters und das Ihrige mir auf diesem Gebiet maßgebend sind. Es macht mich aber stutzig, daß Herr Harnack aus Rücksicht auf einen Verwandten meines Vaters jahrelang geschwiegen haben will, während er ohne Rücksicht auf mich, die Tochter, der dieser Verwandte viel näher steht – denn er war ein Neffe meiner Mutter! – nach kaum fünf Wochen redet. Es widerstrebt mir, einen Neffen meiner Mutter, einen Mann, der jahrelang meines Vaters Brot gegessen hat, von heute auf morgen zu entlassen, vielleicht nur darum, weil er Herrn Ingenieur Harnack nicht gefällt. Verhält sich die Sache wirklich so, wie er sie darstellt, so will ich meinen Irrtum einsehen und den Buchhalter verabschieden – – bis das aber geschehen ist, bleibt Herr Hagedorn in seinem Amt!“
Cecil Whitemore hatte immer langsamer und langsamer das Papiermesser über seine linke Handfläche hingleiten lassen. Er sah seine Cousine noch immer nicht an, und, nach wie vor, schien es ihm zu eilen, von ihr fortzukommen, denn er rückte zuweilen unruhig hin und her. Zu ihren letzten Worten aber nickte er eine ganz nachdrückliche Bestätigung, stand dann auf, legte das Papiermesser auf den Tisch, schüttelte seiner Cousine die Hand, daß es sie schmerzte, und sagte nichts als die Worte: „Sie haben vollständig recht, liebe Cousine! Good bye!“ Damit war er zur Thür hinaus.
Alix war aufgestanden, als ihr Vetter ging. Sie setzte sich auch nicht wieder hin, sie war innerlich zu unruhig.
Sie hatte sich in Eifer gesprochen, dennoch war es nicht die Hagedornsche Angelegenheit gewesen, die sie so erregte. Das hatte der Brief ihres Vaters verschuldet, den sie die ganze Zeit über in der Hand gehalten, der sie dort, gleich einer Flamme, gebrannt hatte.
In seinen nachgelassenen Papieren vorgefunden – „An meine Tochter … Nach meinem Tode zu öffnen und zu lesen“ – was konnte dies Schreiben enthalten?
Sie löste mit bebender Hand das Siegel und las:
„Liebe Tochter! Für den Fall meines frühen oder unerwarteten Todes möchte ich Dir eine bestimmte Weisung erteilen. Ich habe keinen Sohn, dem ich die Kolonie Josephsthal hinterlassen könnte, ich habe nur Dich, die Du meine Universalerbin bist. Naturgemäß wirst Du wünschen, Dich zu verheiraten – ich wünsche es gleich Dir! Der Gedanke aber, irgend ein Offizier oder Feudalherr käme in den Besitz der Werke und betrachtete dieselben lediglich als unbequemen Ballast, den man gern möglichst bald loszuschlagen wünscht, dieser Gedanke bedrückt mich. Aus den von mir gegründeten Werken ist noch sehr viel zu machen,
[554] sie haben eine bedeutende industrielle Zukunft vor sich. Dein Vetter Cecil Whitemore wäre, im Fall meines frühen Todes, der Mann dazu, meiner Schöpfung diese Zukunft zu sichern, er besitzt die notwendigen theoretischen und praktischen Kenntnisse, den Ueberblick und die erforderliche Energie. Gegen seine Persönlichkeit kannst Du nichts einzuwenden haben, ebensowenig wird er dies der Deinigen gegenüber thun. Ich habe jetzt, nach meiner soeben erfolgten Rückkehr von London, ein Kodizill zu meinem Testament, das ich bereits vor langen Jahren, gleich nach dem Tode Deiner Mutter, abgefaßt hatte, aufgesetzt, das diesem meinem ausgesprochenen Wunsch und Willen einen ganz besonderen Nachdruck verleiht. Mein Wunsch und Wille ist es, Du möchtest mit Deinem Vetter Mr. William John Cecil Whitemore die Ehe eingehen und dadurch eine solide und sachkundige Fortführung der von mir gegründeten Werke gewährleisten. Solltest Du Dich, was ich nicht annehmen will, diesem meinem nachdrücklich betonten Willen widersetzen, so würde ein Teil Deines Erbes, und zwar der nicht unerhebliche der Schneidemühle am Fluß, samt seinen Einkünften an Deinen Vetter fallen; sollte er sich anderweitig oder gar nicht vermählen wollen, so bliebe Dir der Gesamtbesitz – aber auch in diesem Fall ihm in erster Linie vorbehalten, einen geeigneten Verwalter des Unternehmens zu suchen und einzusetzen. Alle näheren Bestimmungen hierüber sind in dem Kodizill aufgezeichnet, welches Justizrat Ueberweg in Verwahrung hat. Ich hoffe, meine Tochter Alexandra wird diese meine väterlichen Bestimmungen gutheißen und sich ihnen fügen.
Alfred Joseph Freiherr von Hofmann.“
Mit einem Gefühl hoffnungsloser Traurigkeit ließ das junge Mädchen den Brief sinken.
Es war zunächst nicht einmal der ihre Person berührende Inhalt, der dies Gefühl über sie kommen ließ, als friere es sie bis ins Herz hinein. Ihre Zukunft, mein Gott! Sie hatte natürlich für sich an Liebe und Ehe gedacht, aber immer als an etwas Fernliegendes. Es würde, es mußte kommen, aber es hatte ja noch Zeit damit. Einundzwanzig Jahre! Da konnte sie sicher noch warten.
Jetzt griff ihr toter Vater über sein Grab hinaus und führte ihr den Gatten zu! Daß er es that, war weiter nicht verwunderlich – sie war jung, stand allein da im Leben, ohne Erfahrungen, ohne Geschäftskenntnisse, sollte die Herrin eines so großen, weitverzweigten Besitztums werden und fühlte sich, wie sie da war, dieser Aufgabe nicht gewachsen. Aber wie er, der Vater, in ihre Zukunft hinübergriff – das, das war’s, was ihr dies schauernde Kältegefühl erweckte! Kein Bangen um sie, keine Frage, wie ihr Herz sprechen könne, ob es bereits gesprochen habe – keine väterliche Fürsorge, ob die beiden Menschen, die sich für das ganze Leben verbinden sollten, auch innerlich zu einander stimmten, ob sie es würden lernen können, eines des andern Herz zu finden .... nichts – nichts von alledem! „Gegen seine Persönlichkeit kannst Du nichts einzuwenden haben, ebensowenig wird er dies der Deinigen gegenüber thun!“ – Das war alles! Daraufhin sollten zwei Menschen einen Bund schließen, der sie unauflöslich aneinander knüpfte! Ihm, der diesen Wunsch ausgesprochen, paßte es so in seine Berechnungen, darum hatte es zu geschehen, und die beiden Beteiligten sollten sich fügen und mochten sehen, wie sie zusammen fertig würden. Die Kolonie Josephsthal, die war ihrem Besitzer alles gewesen – die Menschen, und wäre auch sein einziges Kind unter ihnen, bedeuteten ihm nichts als Ziffern, die in diesem Hauptkonto seines Lebens ihre Stelle einzunehmen hatten!
Ob Cecil den Inhalt dieses Briefes kannte oder erraten hatte? Er hatte um ihn gewußt – kein Zweifel! Woher sonst seine ungewöhnliche Verlegenheit – sein Stocken, während er sprach – sein beständiges Niederblicken? Gewiß hatte sich für ihn ein ähnlicher Brief unter den nachgelassenen Papieren gefunden und nun sollten sie täglich miteinander verkehren, und unausgesprochen sollte der Wunsch des Verstorbenen zwischen ihnen schweben und ihnen die Unbefangenheit nehmen, die ihnen bisher einen so angenehmen Verkehr ermöglicht hatte!
Nun, das Trauerjahr war lang, und bis es verrann, konnte vieles geschehen; nur das Eine konnte Alix sich nicht denken: daß es ihr nämlich je geschehen könnte, ihren Vetter Cecil Whitemore zu lieben!
Françoise blickte ihrer jungen Herrin nach, vom Fenster ihres Zimmers her, wie sie leichtfüßig und rasch durch den mit Schnee überstäubten Park schritt.
Sie hatte ihre alte Getreue wieder nicht mitnehmen wollen, zu deren stiller Genugthuung freilich auch nicht die neu engagierte Gesellschaftsdame, diese imposante Frau Majorin! Aber was war denn mit dem „Kinde“ geschehen, daß es so viel allein sein wollte? That das alles ihres Vaters plötzlicher Tod? Nicht anzunehmen – monsieur war kein solcher Vater gewesen, den man aus tiefster Seele betrauern konnte. Himmel, welch ein lustiges Leben war das in Frankfurt gewesen! Beständig Tanz und Vergnügen, Bälle, Reitfeste, im Sommer die schönsten Land- und Wasserpartien – ach, und Alexandras Zimmer stets voll hübscher, junger Mädchen … und das plauderte und lachte und naschte Erfrischungen und neckte einander, es war eine Lust! Jetzt saß ihr Liebling und rechnete, hielt den Kopf aufgestützt, konferierte mit Mr. Whitemore und sah so ernst aus den großen Blauaugen, als gäbe es gar keine Jugend und Fröhlichkeit mehr in der Welt. Wozu das alles? Vor ihr lag doch das schönste, bequemste Leben, warum mühte sie sich denn so ab? Würde man lange, würde man gar für immer in diesem Josephsthal bleiben müssen? Der lebensfrohen Französin schlug das Herz vor Schrecken bis in den Hals hinauf bei dem bloßen Gedanken an diese Möglichkeit! Natürlich, das Trauerjahr hindurch würde man wohl hier festsitzen müssen! Dazu die Herren vom Gericht, die immer noch von Zeit zu Zeit erschienen, um die Beamten, die Arbeiter zu verhören, in den Papieren zu stöbern, die geringfügigsten Details hervorzusuchen – und es half ihnen alles nichts! Sie bekamen nichts heraus, und – Françoise war davon überzeugt – sie würden auch nichts herausbekommen!
Wie eine junge Maienrose leuchtete Alexandras reizendes Gesicht aus den schwarzen Krepphüllen hervor. Ihr stand eben alles entzückend, und wie die knappe Jacke mit dem flockigen Pelzbesatz die schlanke Schönheit der Gestalt hervortreten ließ! Ach, daß es in diesem Josephsthal keinen gab, der das recht zu würdigen wußte, denn Mr. Whitemore, der seine schöne Cousine jeden Tag sah – Gott, das war auch so ein Mann, wie der verstorbene Monsieur Hofmann einer gewesen war. Dem gingen auch seine Rechnungen und Zahlen über alles! Wenn nur erst der Konzertflügel aus Frankfurt da sein würde und Alix Reitpferd! Wenn es erst Frühling wäre, wahrhaftiger Frühling – dann bekäme doch die Sache wenigstens ein etwas besseres Aussehen!
Freilich war heute früh noch Schnee gefallen, und der Park, durch den Alix jetzt so eilig schritt, sah aus wie mit Streuzucker überschüttet. Aber die Sonne wollte das nicht mehr dulden, sie lachte und strahlte und küßte die weiße Pracht so glühend, daß sie schmolz, zusehends schmolz. Von den Aesten träufelte es herunter wie Brillantengeriesel, das von bunten Lichtern funkelt, Scharen von Spatzen lärmten und hüpften im kahlen Gezweig, die Büsche am Wegesrand neigten sich und streiften sacht die weißen Flöckchen herab. – – Alix trug Blumen aus den Treibhäusern in ihren Händen, damit wollte sie die Särge in der Kapelle schmücken. Nein, zu diesen Gängen wollte sie keine Begleitung haben – ein gleichgültiges Gespräch hätte sie nicht führen können, und die schweren Gedanken, die ihr hier kamen, mußte sie in sich allein verarbeiten. Ja, hätte sie Maria hier!
Als sie nach zehn Minuten wieder aus der Kapelle heraustrat, blieb sie unschlüssig stehen. Wohin? Gehen wollte sie noch, aber in der Kolonie hatte man sie noch nie allein gesehen – würde ihr Anblick nicht befremden? Mochte er es! Alix warf den Kopf hoch – sie hatte nie nach dem gefragt, was die Leute von ihr denken könnten.
Die breite Straße war wenig belebt um diese Zeit. Die Frauen bereiteten daheim das Mittagsessen, die Männer arbeiteten noch. Dann und wann trippelte ein verspätetes Schulkind, Tafel und Hefte unter dem Arm, über die leicht verschneite Straße und vergaß, über allem Bestaunen der schönen Dame mit dem kostbaren Pelzwerk und dem langen schwarzen Trauerschleier, sie zu grüßen. Aus allen Schornsteinen kräuselte sich blaues Gewölk aufwärts in die reine Luft. Der Postbote kam eiligen Schrittes daher und grüßte militärisch: hinter den Einzäunungen, welche die kleinen Vorgärten von der Straße abgrenzten, bellte dann und wann [555] ein zottiger Hund die fremde Erscheinung an, und eine Frau in grober Schürze trat wohl unter die Thür, zu sehen, was es gäbe. Am lichtblauen Himmel schwamm auch nicht ein einziges Wölkchen, nur das goldene Sonnenangesicht lächelte herab und versprach der Welt den Frühling.
Alix von Hofmann ging jetzt links dicht an den Häusern entlang, als es hinter ihr erklang wie das leichte Anschlagen eines Glöckchens. Ein Radfahrer kam auf seinem Zweirad in schwindelnd schneller Fahrt die Dorfstraße entlang. Er hielt sich sehr aufrecht und handhabte sein Fahrzeug mit großer Gewandtheit. Mehrere Beamte in Josephsthal bedienten sich dieses modernen Beförderungsmittels; diesen hier meinte Alix noch nie gesehen zu haben. Sie mußte ihm beifällig zuschauen – keiner von den Frankfurter Herren, die den Radsport mit heißem Eifer wie die ernsteste Lebensaufgabe pflegten und zu Dutzenden in den Taunusanlagen umherschwärmten … keiner von ihnen hätte zaudern dürfen, in diesem Josephsthaler Einwohner einen ebenbürtigen Nebenbuhler zu begrüßen.
Plötzlich erstarb das bewundernde Lächeln auf Alix’ Lippen und machte einer Miene der Bestürzung Platz. Aus dem links gelegenen Schulgebäude waren vier, fünf Knaben, im Alter von etwa sieben bis zu neun Jahren, soeben herausgetreten, und einer von ihnen – es war gerade der kleinste – lief, so rasch ihn die Füße tragen wollten, dicht vor dem Radfahrer quer über die Straße. Er wäre vielleicht glücklich auf die andere Seite gelangt, aber der halb von der Sonne zertaute Schnee war schlüpfrig und glatt, das Kind strauchelte, stieß einen gellenden Schrei aus und lag im nächsten Augenblick glatt auf der Erde. Ging das schwere Zweirad über das dünne Körperchen hinweg, so konnte es ein großes Unglück abgeben.
Wunderbarerweise geschah dies nicht. War es ein glücklicher Zufall, hatte der Radler eine so große Geschicklichkeit und Geistesgegenwart besessen … das Rad fiel weder um, noch ging es über den Knaben hinweg – es beschrieb in vollem Schwung eine Kurve, die es fast aus dem Gleichgewicht brachte, aber das Kind war unversehrt geblieben – Alix, deren Schritte die Angst beflügelt hatte, konnte es deutlich sehen.
Ob dem Jungen der Schreck in die Glieder gefahren war oder ob er sich einbildete, es sei ihm doch irgend ein Unheil widerfahren … er blieb jedenfalls platt am Boden liegen und fuhr fort, aus vollem Halse zu schreien.
Inzwischen war auch der Radfahrer abgesprungen, hatte sein Fahrzeug gegen den nächsten Baum gelehnt und war mit wenigen Schritten neben dem Knaben. Mit einem derben Ruck faßte er ihn, hob ihn am Kragen seiner Jacke in die Höhe und schüttelte das leichte Körperchen in der Luft so energisch hin und her, als sei es nur ein Bündel Kleider. „Du heilloser Schlingel – wie konntest du mir so in den Weg laufen? Weißt du auch, daß ich dich hätte zu Tode fahren können, oder dir Arme und Beine zerbrechen … und was wär’ dann gewesen? Hör’ auf zu brüllen, du nichtsnutziger Bengel! Verstanden?“
Alix stand seitwärts, während sich dies Strafgericht über dem Haupt des Schuldigen entlud. Der Radfahrer war so ganz mit dem Delinquenten beschäftigt, daß er der jungen Dame gar nicht ansichtig wurde. Sie hatte volle Muße, ihn in Augenschein zu nehmen.
Trotz der wenig vorgerückten Jahreszeit war er nur in einen bequemen wollenen Anzug gekleidet, ohne Halstuch oder Ueberrock, als wäre man mitten im schönsten Lenz. Seine Gestalt war groß und ebenmäßig gebaut, kraftvoll und dabei geschmeidig, als wäre ihr jeder Sport ein willkommenes und leichtes Spiel. Das Haar unter dem weichen, eingedrückten Filzhut war braun und kraus, der kurzgehaltene Bart, der sich um Wangen und Kinn zog und unten zuspitzte, zeigte einen bedeutend helleren Farbenton. Weiteres konnte Alix von ihrem Standpunkt aus nicht erkennen.
Die Kameraden des gestürzten Jungen waren furchtsam näher geschlichen und sahen aus einiger Entfernung dem über ihren kleinen Gefährten gehaltenen Standgericht zu.
„Nicht mehr brüllen sollst du, hab’ ich gesagt! Wem gehörst du denn, Schlingel, der du bist?“ Der Junge berührte jetzt mit seinen Füßen die Erde, aber die starke Hand hielt ihn immer noch mit eisernem Griff am Jackenkragen fest.
Es kam eine unverständliche Antwort.
„Was? Wer in aller Welt soll das verstehen? Sagt ihr mir’s, Jungens, wie heißt er?“
„Paul Semmling!“ „Dem Kornaufmesser Semmling sein dritter Jung’ ist das!“
„So? Na, wenn die übrigen Jungens vom Kornaufmesser Semmling auch so sind wie dieser, dann kann er sich ja gratulieren, dann hat er ’ne schöne Aufgabe vor sich! Er hat sich doch natürlich vor euch zeigen wollen mit dem, was er kann, nicht wahr? Er hat geprahlt, er käm’ noch gut hinüber – was?“
„Ja, das hat er!“ „Er hat gesagt, er rennt schneller wie ’s Rad!“ „Er meinte, wenn wir uns nicht trauen … er traut sich!“
„Ist auch was Schönes dabei herausgekommen! Nun kommt mal ’ran, Jungens, und merkt euch, was ich euch sage: wenn wieder mal irgend einer von euch – egal, wer es ist! – sich so was Verrücktes auf die Hörner nimmt und will sich mit Gewalt zu Schanden fahren lassen … dann leidet ihr das nicht, hört ihr? Dann nehmt euch den Schlingel ’ran und haut ihm gehörig die Jacke voll! Wollt ihr das thun?“
„Ja, das werden wir schon!“ „Dann hauen wir ihn!“
Der Radfahrer nickte billigend und sah dann strafend von seiner Höhe auf den kleinen Missethäter nieder, während er ihm mit seiner freien Hand nicht gerade sehr sanft den Schnee und Schmutz von den Kleidern klopfte. „Wie alt bist du, Paul Semmling?“
„Auf letzte Weihnachten bin ich – achte gewesen!“
„Acht Jahr! Du kannst gut werden, das muß ich sagen! Solch ein Knirps, solch’ ein Dreikäsehoch! Loslassen soll ich dich? Willst du vielleicht ohne Mütze und ohne Bücher nach Hause laufen, ja?“ Der Radfahrer bückte sich, hob die schwarze Pudelmütze des Jungen vom Boden auf, schlenkerte sie ein paarmal durch die Luft und stülpte sie ihrem Besitzer dann mit einem so kräftigen Druck auf den Kopf, daß sie ihm bis an die Augen rutschte.
„So, Jungens, nun helft ihm seine Sachen aufsammeln! Die Tafel ist zerbrochen? Na, wart’ ’mal“ – jetzt endlich ließ die Rechte den Kragen des Kindes los, fuhr in eine Seitentasche des karrierten Sakkos und brachte ein Portemonnaie zum Vorschein. „Hier – kauf’ dir ’ne frische Tafel und sonst noch was – spielst du mit Murmeln?“
„Ja, ich spiel’ mit Murmeln!“
„Dann also kauf’ dir welche. Nun macht, daß ihr wegkommt, Bande!“
Die Jungen stoben kichernd auseinander, einer von ihnen rief noch ein „Adieu!“ zurück. Paul Semmling, der Attentäter, lief so schnell ihn seine Füße tragen konnten.
Mit einem heitern Lächeln schaute ihnen der Radfahrer nach. Als er sich wandte, um sein Fahrzeug wieder zu besteigen, sah er neben sich eine junge Dame stehen, welche ihn mit Interesse betrachtete. Er nahm hastig den Filzhut herunter. „O, pardon, mein gnädiges Fräulein! Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle: Raimund Hagedorn!“
„Mein Name ist Alexandra von Hofmann!“
„Ich hatte die Ehre, Sie bei dem Leichenbegängnis Ihres Herrn Vaters zu sehen!“ Die ernste Miene stand diesem sympathischen Männergesicht ebensogut wie die lachende.
„Ich kann Ihnen nicht erwidern, daß ich mich Ihrer erinnere,“ entgegnete sie und sah ihm aufmerksam beobachtend ins Gesicht, „da bei meines Vaters Leichenbegängnis Hunderte zugegen waren und Sie mir nicht, wie die übrigen Herren Beamten, später einen Besuch abgestattet haben.“
Raimund Hagedorns Gesicht war zu ausdrucksfähig, um irgend einen unmittelbar empfangenen lebhaften Eindruck zu verbergen. Es zuckte ihm leicht um die Lippen, und zwischen den Augenbrauen bildete sich ein feines Fältchen.
„Haben Baroneß meinen Besuch erwartet?“
„Natürlich!“ erwiderte sie unbefangen. „Ebenso wie den der anderen Herren, die in der Kolonie Josephsthal beschäftigt sind. Um so mehr, als man mir gesagt hat, daß ich einen Verwandten mütterlicherseits in Ihnen zu begrüßen hätte!“
„Darf ich fragen, wer Ihnen diese Mitteilung gemacht hat?“
„Zunächst Herr Justizrat Ueberweg, sodann mein Vetter aus London, Herr Whitemore!“
„Und haben diese beiden Herren – – – aber gnädiges Fräulein wollen verzeihen! Ich darf Ihre Aufmerksamkeit in [556] dieser Sache nicht derartig in Anspruch nehmen, daß Sie Ihre Zeit einbüßen und zudem Gefahr laufen, sich in der noch immer herben Luft eine Erkältung zu holen.“
„Ich habe augenblicklich freie Zeit und neige nicht leicht zu Erkältungen!“ Alix sagte dies mit einer Miene und Haltung, die Professor Laurentius scherzend als ihre „königliche Manier“ zu bezeichnen pflegte. Es lag etwas Unpersönliches darin, das Gefühl, daß sie über den Menschen und Dingen, mit denen sie sich gerade beschäftigte, stehe. Ihr Interesse, ihre Teilnahme war sichtbar, aber beides war rein sachlich vorhanden, und ein einigermaßen guter Beobachter konnte deutlich genug wahrnehmen, daß er selbst und seine Person hierbei ganz aus dem Spiel blieben.
Ein solcher Beobachter war offenbar der junge Mann, der jetzt mit einer höflichen Verbeugung sagte: „Wenn sich Baroneß meine Begleitung gefallen ließen –“
„Gewiß! Gehen wir zum Schloß zurück!“
Hagedorn führte mit der linken Hand sein Zweirad an der Lenkstange neben sich her, und Alix ging zu seiner Rechten. Sie schwiegen eine kleine Weile. Des Mannes Blick hing bewundernd an dem schlanken, schönen Mädchen, das ihm jetzt, in solcher Nähe, noch weit anmutiger erschien als damals während der Leichenfeier.
„Sie wollten mir etwas sagen!“ brach Alix zuerst das Schweigen.
„Ich wollte – ja, aber es wird mir schwerer, als ich dachte. Wir sind einander doch ganz fremd – und ich muß fürchten, mich sofort bei dem gnädigen Fräulein in ein ungünstiges Licht zu setzen!“
Alix lächelte fast unmerklich.
„Wäre das die unausbleibliche Folge Ihrer Mitteilung?“
„Ich fürchte, ja! Eine Indiskretion bleibt immer etwas Unsympathisches, selbst wenn sie als Selbsthilfe zu entschuldigen wäre.“
„Und einer Indiskretion müssen Sie sich schuldig machen?“
„Ich werde nicht anders können – es sei denn, ich ließe Baroneß in dem Glauben, ich wäre ein Mensch ohne Takt und Manier und wüßte nicht, was ich der Tochter meines soeben verstorbenen Chefs, der Verwandten meiner Mutter, schuldig bin!“
Alix sah mit einem nachdenklichen Blick an ihm in die Höhe.
„Ich pflege mir nicht so ohne weiteres günstige oder abfällige Meinungen über jemand zu bilden; aber daß ich mich über Ihr Nichterscheinen gewundert habe, gestehe ich offen ein.“
„Sehen Sie!“ rief ihr Begleiter lebhaft. „Und es liegt ja auch so nahe, das zu thun! Darf ich nun nach etwas fragen?“
„Bitte!“
„Hat man – ich möchte nicht gern einen Namen nennen! – hat man Ihnen, Baroneß, nicht angekündigt, ich sei aus meiner Stellung als Buchhalter bei der Dampfschneidemühle entlassen?“
„Sie gestatten, daß ich einen Irrtum aufkläre, in welchem Sie, und mit Ihnen zugleich vielleicht die übrigen Beamten meines verstorbenen Vaters, sich befinden!“ sagte das junge Mädchen ernst. „‚Man‘ hat mir dergleichen nicht ohne weiteres anzukündigen, ‚man‘ hat überhaupt kein Recht, auch nur einen der geringsten Arbeiter, geschweige denn einen Beamten der Kolonie Josephsthal, anzustellen oder zu entlassen. Dies ist einzig meine Befugnis und niemandes sonst. Bin ich auch noch ohne jede Fachkenntnisse und sind mir auch die Herren, aus denen sich das Beamtenpersonal zusammensetzt, fremd, ihre Leistungen meinem Urteil nicht zugänglich …. die alleinige Disposition über alles, was die Werke betrifft, liegt in meiner Hand, und so soll es bleiben!“
Hagedorn neigte das Haupt ein wenig gegen sie.
„Ich habe das nicht gewußt. Niemand hat es für gut befunden, mich über diesen Stand der Dinge aufzuklären, und ich hatte angenommen …. nun, einerlei! – Wie dem auch sei: das darf ich wohl mit Sicherheit annehmen, daß man der Tochter unseres Chefs, der nunmehrigen Besitzerin der Kolonie Josephsthal, meine Entlassung als Vorschlag unterbreitet, sogar als dringende Notwendigkeit dargestellt hat!“
„Ich kann nicht leugnen, daß dem so ist,“ entgegnete Alix kurz und fest.
„Natürlich! Ich war davon überzeugt. Und dies war der Grund, warum ich anscheinend eine nicht zu umgehende Höflichkeitspflicht außer acht gelassen habe. Wozu die Bekanntschaft einer Dame suchen, aus deren Gesichtskreis ich ohnehin binnen wenigen Wochen gerückt sein würde?“
„Sie wären auch nicht gekommen, wenn Sie gewußt hätten, daß ich in dieser Sie betreffenden Frage zu entscheiden habe?“
„In diesem Fall schon unter keiner Bedingung. Ich bitte, mich nicht mißverstehen und sich gütigst für eine Minute in meine Lage versetzen zu wollen! In welchem Licht könnte wohl ein Mensch dastehen, der da weiß: du gehst deines Postens verlustig! und der es dennoch unternimmt, dem neuen Chef des Hauses, der eine Dame und seine Verwandte ist, einen Besuch abzustatten? Doch nur in dem Licht eines Bittstellers, der die Sache um jeden Preis redressieren möchte – – und – verzeihen Baroneß meine Aufrichtigkeit: in dem Licht habe ich mich Ihnen nicht zeigen wollen!“
„Ich kann es mir denken und kann es Ihnen nachfühlen!“ nickte Alix. „Aber es hätte ja nur bei Ihnen gestanden, diesem – diesem ‚Licht‘ eine andere Nuance zu geben: die der Aufklärung!“
„Konnte ich wissen, ob Sie solche nicht schon zur Genüge von der andern Seite empfangen hatten? Ob Sie nicht schon ganz mit sich einig waren, den untauglichen Beamten möglichst rasch und auf möglichst glatte Manier los zu werden? Und eins noch: Anklage gegen Anklage zu setzen, wie es hier ganz unausbleiblich der Fall hätte sein müssen – – – das ist mir nie im Leben als ein besonders schöner Weg erschienen, und ich würde ihn nur dann betreten, wenn das eiserne Muß mich dazu zwänge!“
„Verstehe ich Sie recht,“ sagte Alix nach einer kurzen Pause, „hat – hat – man – ich nenne ebenfalls keinen Namen – Ihnen Ihre Stellung als Buchhalter bereits definitiv gekündigt?“
„Definitiv wohl nicht, aber provisorisch, mit dem Zusatz, die formelle Kündigung würde nicht lange auf sich warten lassen, sie dürfte schon in den allernächsten Tagen erfolgen. Daraufhin wurde mir ein Teil der mir obliegenden Pflichten bereits abgenommen, weshalb mir mehr freie Zeit als sonst bleibt – Beweis mein heutiges Radfahren um eine Stunde, die ich sonst auf dem Comptoir am Pult zuzubringen pflegte.“
Die geradegezogenen dunklen Brauen des Mädchens rückten nahe zusammen. „Diese sogenannte Kündigung war Ihnen doch nicht etwa in meinem Namen zugegangen?“
„Nein – sondern im Namen desjenigen, der sie aussprach, und zwar in einer Form und in einem Ton aussprach, daß ich mich hinreißen ließ … aber ich möchte dies nicht nochmals thun, und es begegnet mir sehr leicht, wenn mein Blut in Wallung kommt. Dort haben wir das Schloß, Baroneß! Wie mir scheint, wird am Portal etwas abgeladen –“
Er hatte an den Hut gegriffen und schien sich verabschieden zu wollen. Aber Alix beachtete das nicht. Sie hatte einen halblauten Ruf der Ueberraschung, einer freudigen Ueberraschung ausgestoßen und beeilte sich nun, vorwärts zu kommen, um besser sehen zu können. Acht Männer waren beschäftigt, ein großes, sorgsam in Matten gewickeltes Frachtstück von dem flachen, breiten Wagen, der am Fuß der Freitreppe stand, herunterzuheben und ins Schloß zu bringen. Auf einer der obersten Stufen der breiten gußeisernen Treppe stand die Majorin von Sperber, sorglich in ihren Wintermantel gehüllt, und überwachte den Transport mit sichtlichem Eifer.
„Mein Flügel ist da, nicht wahr?“ rief Alix mit heller Stimme hinauf.
„Ja, er ist eben gekommen, gottlob! Wie ich mich freue!“ Und die würdige Dame kam wie das jüngste Mädchen die Treppe heruntergelaufen.
„Baroneß sind auch musikalisch?“ fragte Raimund Hagedorn, augenblicklich so lebhaft interessiert, daß er seinen beabsichtigten Weggang ganz vergaß und hastig näher herzutrat.
„Ich spiele gern Klavier. Wie schön, daß ich mein Piano wieder habe! Es ist, als wenn man einen lieben Freund begrüßt!“
„Noch dazu einen Freund, der nie Launen hat, nie untreu wird, nie wechselt!“ Des Mannes Augen leuchteten auf in feurigem Blau, wie er die hantierenden Leute überblickte. Es schien ihm in den Händen zu zucken, als ob er am liebsten geholfen hätte, das Instrument seiner Bestimmung zuzuführen.
„Herr Hagedorn – Frau Major von Sperber, meine mütterliche Freundin!“ stellte Alix eilig vor; sie war gleichfalls ganz bei der Sache, ging um den Wagen herum und wieder zurück und nickte den Arbeitern aufmunternd zu: „Sie werden sehr vorsichtig sein, nicht wahr?“
[558] „Spielen Sie auch Klavier, mein Herr?“ wandte sich die Majorin Sperber indessen an Hagedorn. Es war eine bloße Höflichkeitsphrase – etwas mußte sie doch mit diesem plötzlich hergeschneiten jungen Mann, der ihr eben vorgestellt worden war und der dicht neben ihr stand, sprechen.
Er fühlte das auch heraus und bejahte in aller Kürze die Frage, aber Alix hatte sich rasch umgewandt.
„Sie müssen mir ein paar Fragen beantworten. Giebt es viele musikalische Elemente hier in der Kolonie Josephsthal?“
„Viele? Nicht daß ich wüßte! Die Frau des Oelmühlendirektors singt, ein Techniker geigt, und ein anderer bläst die Clarinette … dann noch …“
„Ich meine: spielt niemand Klavier?“
„O doch! Ingenieur Groß, dort hinten bei den Wasserwerken wohnt er – ganz tüchtiger Pianist sogar –“
„Und wer von den Herren wohnt unten am Fluß in dem kleinen Schweizerhaus, wo die vielen Neubauten sind?“
„Das kleine Schweizerhaus ist mein Domizil, Baroneß!“
„Ah, dann habe ich Sie spielen hören – es war damals, als … es hat mir wohlgethan.“ Das stolze junge Gesicht bekam einen weichen Ausdruck, die Stimme klang unsicher. „Sie spielten Walther von Stolzings Lied: ,Am stillen Herd, in Winterszeit!‘“
„Ah, das! Mein Liebling aus den ‚Meistersingern‘!“
„Auch meiner! Musizieren Sie häufig?“
„So oft ich kann. Wenn ich das nicht hätte –“ Hagedorn stockte plötzlich, das rasche Wort schien ihn zu gereuen. Wie kam er, ein Buchhalter Alexandras und bisher ihr völlig unbekannt, dazu, ihr Bekenntnisse irgend welcher Art ablegen zu wollen!
„Ich bin an ein sehr geselliges, abwechselungsreiches Leben bei meinen Pflegeeltern in Frankfurt gewöhnt gewesen,“ sagte Alix, die einen Augenblick darauf gewartet hatte, ob der junge Mann seinen Satz beenden würde. „Dagegen wird mein hiesiges Dasein sich sehr still und einförmig abspinnen, und Frau von Sperber und ich müssen bestrebt sein, aus eigenen Mitteln etwas zu unserer Zerstreuung zu thun. Mit der Musik, die wir beide lieben und pflegen, ist schon viel gewonnen – kommt nun noch mein Reitpferd dazu –“
„Ah!“ Wieder glänzten Hagedorns Augen auf. „Baroneß sind auch Reiterin?“
„Mein Vater hielt darauf, daß ich reiten lernte, und ich bin ihm dankbar dafür.“
„Und Ihr Reitpferd? Welche Rasse, wenn ich fragen darf?“
„Arabische Schimmelstute. Fünf Fuß vier Zoll – dreijährig – war noch nicht völlig auf Damenpferd zugeritten, als ich sie kaufte – ich hab’ meine liebe Not mit ihr gehabt!“
„Gnädiges Fräulein haben sie selber zugeritten?“
„Natürlich! Ich wollte sie mir doch in die Hand gewöhnen, aber ich habe viel Geduld üben müssen, sie ist unglaublich empfindlich und scheut leicht!“
„Solch’ nervöses Temperament ist schwer zu besiegen! Ist es Ihnen gelungen?“
„Ganz wohl noch nicht. Als ich sie endlich so weit hatte, daß sie mir einigermaßen nachgab, galt es, sie an die Kameradschaft mit ihresgleichen zu gewöhnen – wir vom Reitklub wollten doch gern miteinander Ausflüge unternehmen. Das nahm aber ,Primrose‘ sehr übel, sie zeigte sich so unliebenswürdig, kapriziös und ungesellig, daß ich ihr mit Stangenzaum und Peitsche mehr als eine scharfe Lektion geben mußte.“
„Aber das half?“
„Eine Zeit lang – ja! Jetzt, da ich sie so lange nicht geritten habe, wird sie mir, fürchte ich, wieder sehr aus der Hand gekommen sein. Sie sind auch Pferdeliebhaber oder wohl gar Kenner?“
„Früher war ich ein heißer Sportsman, ich habe bei mehr als einem Herrenreiten einen Preis erzielt.“
„Davon müssen Sie mir gelegentlich mehr erzählen, dafür interessiere ich mich. Sie müssen kommen und sich ,Primrose‘ ansehen, sobald sie hier angelangt ist!“
„Wenn Baroneß gestatten, komme ich schon früher, noch ehe ,Primrose‘ ihren Einzug gehalten hat.“
„Sie sollen mir willkommen sein! Ist nun jedes Mißverständnis beseitigt?“
„Einstweilen – ja!“
„Wie vorsichtig ausgedrückt!“
„Diese weise Vorsicht liegt gar nicht in meiner Beanlagung, die Natur hat es absolut versäumt, mich damit auszustatten. Wenn man aber immer von neuem Erfahrungen macht, welche zur Vorsicht mahnen, wäre man ja ein Narr, wenn man nicht endlich sich fügen wollte!“
„Gut also – Sie werden kommen!“
„In jedem Fall!“
„Und im Amt bleiben?“
„Da mein direkter Vorgesetzter nicht imstande ist, die beabsichtigte Palastrevolution herbeizuführen und mich zu stürzen, so bleibe ich, so lange es meinem indirekten Chef beliebt, mich zu dulden!“ Es wurde mit lächelnder Feierlichkeit gesagt, während Hagedorn, der den grauen weichen Filzhut schon lange heruntergezogen hatte und in der Hand zerdrückte, sich tief und ceremoniell verbeugte. Auch Alix mußte lächeln, als sie ihn mit verbindlichem Kopfneigen entließ.
„Meine gnädigste Frau – Baroneß Hofmann – –“ Noch ein respektvolles zweimaliges Grüßen, und der junge Mann war mit einem Satz auf dem Zweirad und sauste in einem elegant genommenen Bogen davon.
„Das ist ja ein gewandter und sehr hübscher Mensch, liebe Alix!“ sagte Frau von Sperber, indem sie beifällig hinter ihm dreinsah. „Wo in aller Welt haben Sie den aufgelesen?“
„Unten in der Dorfstraße, wo nur seine Geschicklichkeit ihn davor bewahrte, einen kleinen Jungen, der ihm in den Weg lief, zu überfahren. Er ist übrigens auch ein Verwandter von mir – das heißt, ich meine, dieser Herr Hagedorn, nicht der Junge!“
„Danke für gütige Aufklärung!“ Beide Damen lachten. „Aber kommen Sie herein, Alix, die Luft ist doch recht frisch, Sie könnten sich erkälten!“
„Bewahre!“ Das Mädchen sah mit großen Augen zum blauen Himmel hinauf, dehnte die Brust und atmete tief. „Wir haben ja den schönsten Frühling heute!“
„Wer weiß, wie lange? Was meinte denn dieser Herr Hagedorn damit, als er vom direkten und vom indirekten Chef sprach?“
„Mit dem direkten meinte er Herrn Ingenieur Harnack, der ihn aus seiner Stelle vertreiben will, und mit dem indirekten mich, die ich ihn behalte!“
„Ach so! Aber – aber, mein liebes Kind, glauben Sie denn nicht, daß – Ihre Intelligenz und Ihren guten Willen in allen Ehren! – daß Harnack die Tüchtigkeit oder Untauglichkeit eines Beamten, vermöge seiner Kenntnisse und Erfahrungen, viel besser beurteilen kann als Sie?“
„Wenn sich’s allein um Tüchtigkeit und Kenntnisse handeln würde – dann ohne alle Frage! Aber Ihr gepriesener Harnack, für den meine liebe Frau von Sperber offenbar ein faible hat –“
„Alix! Mein Gott, der Mann giebt sich so viel Mühe, uns alles hübsch zu erklären, und das gelingt ihm doch auch –“
„Gewiß gelingt ihm das, und Mühe giebt er sich redlich – wer wollte das bestreiten? Aber bei alledem ist er ein Mensch mit sehr ausgeprägten Sympathien und Antipathien –“
„Und da meinen Sie nun, Herr Hagedorn wäre ihm antipathisch? Aber warum denn nur in aller Welt?“
„Das habe ich noch nicht herausgefunden – aber die Antipathie ist vorhanden, darauf wette ich.“
„Mir ist sie rätselhaft. Ich habe von dem Herrn ja nur einen flüchtigen Eindruck gehabt, aber der war außerordentlich günstig. Ein flotter, bildhübscher Mensch von auffallend guten Manieren. Was für eine Stellung bekleidet er denn hier?“
„Er ist – Buchhalter!“
„Er hat das Air eines Künstlers. Und Sie möchten sich natürlich über diesen – diesen – Vetter – – ist er das?“
„Wenn Sie so wollen – ja! Unsere Mütter sind richtige Cousinen gewesen!“
„Nun, Alix, vielleicht finden sich noch mehr Vettern für Sie in Josephsthal ein. Zwei hätten wir ja schon! Ich wollte sagen: Sie möchten sich nun über diesen neuen Vetter ein eigenes Urteil bilden –“
„Ja, das möchte ich, und mit gutem Recht, wie ich meine!“
„Entschieden! Ich meine das auch! Und einstweilen sind Sie entschlossen, ihn zu behalten?“
„Ja – ich behalte ihn!“ – – –
[581]„Die Post, gnädiges Fräulein!“
„Es ist gut, James. Legen Sie sie dorthin.“
Der Diener will auf leisen Sohlen das Zimmer verlassen.
„Noch eins, James!“
„Baroneß befehlen?“
„Ich hatte bestimmt, mir ,Primrose’ zu satteln, und dem Groom sagen lassen, er solle sich bereit halten. Sie können das Absatteln bestellen und der Groom braucht nicht zu kommen. Ich habe mich anders besonnen. Mir ist das Wetter zu schlecht. Statt dessen ….. wie ist es doch, wann sind die Herren von den technischen Bureaus frei?“
„Um ein Uhr, gnädiges Fräulein.“
„Jetzt haben wir gleich halb. Das möchte gehen. Telephonieren Sie, ob Herr Oberingenieur Harnack sich baldmöglich zu mir bemühen möchte, und bringen Sie mir die Antwort!“
„Sehr wohl, Baroneß!“
Alix ist in einem Zimmer, das sie sich nach ihrem eigenen Geschmack hat herrichten lassen. Es ist ein großer, achteckiger Raum, dem die bis zur halben Wandhöhe hinaufreichende dunkle Eichenvertäfelung einen wohnlichen Charakter giebt. Tuchportieren von warmer, weinroter Farbe verhüllen die Thüren und ebensolche Vorhänge sind von den Fenstern mit mattgoldenen Spangen zurückgenommen. Vom getäfelten Fußboden ist nichts zu sehen, ein schöner hochfloriger roter Teppich deckt ihn ganz und gar. In den tiefen Fensternischen sind gedunkelte Eichensitze angebracht mit Greifenköpfen an den Armlehnen und mit roten Polstern belegt – vor dem wuchtigen eichenen Arbeitstisch steht ein prächtiger Lutherstuhl, und ihm gegenüber, wo die Wandtäfelung abschneidet, hängt ein lebensgroßes Brustbild in Oel, von einem vertieften Rahmen in dunklem Holz gefaßt: Alix’ Mutter!
Alix hatte viel von ihr: den Schnitt der Züge, die mandelförmigen Augen, die schöne Gestalt. Nur das Haar war anders und das Kolorit – bei der Mutter ein mattes Weiß, [582] bei der Tochter eine transparente Zartheit, wie man sie fast immer bei Leuten mit rötlichem Haar findet. Erst seit einigen Jahren war das Haar zu diesem Tizianschen Goldbraun nachgedunkelt – als Kind war Alix ausgesprochen rothaarig gewesen.
Sie stand jetzt und sichtete mit etwas zerstreuter Miene ihre Briefe. Ihre Gedanken weilten bei der bevorstehenden Unterredung mit Ingenieur Harnack. Sie hatte diese Unterredung hinausschieben müssen, da der Ingenieur noch am Abend jenes Tages, der sie durch Zufall mit Hagedorn zusammengeführt hatte, verreisen mußte in einer für die Josephsthaler Dampfschneidemühle wichtigen Angelegenheit. Es handelte sich um einen Motor, und Vetter Cecil hatte seiner Cousine an jenem Abend einen langen Vortrag über diesen Motor und seine Wichtigkeit gehalten; er selbst war ohne Zweifel sehr davon durchdrungen und war ein gewiegter Techniker; aber den beiden Damen, die seine Zuhörerschaft bildeten, blieben seine Auseinandersetzungen dunkel, denn als er das Zimmer verlassen hatte, wandte sich Frau von Sperber lächelnd an Alix und sagte: „Nun möchte ich Sie gern bitten, Liebste, übersetzen Sie mir diesen Hagelschauer von technischen Ausdrücken in ein verständliches Deutsch und klären Sie mich gütigst darüber auf, was Herr Whitemore eigentlich hat sagen wollen – – wenn ich nicht an Ihrem bankerotten Gesichtsausdruck sehen würde, daß es Ihnen ganz ebenso geht wie mir und daß Sie gleichfalls nichts verstanden haben!“ Da hatte Alix lachen müssen: „Sie haben richtig gesehen, ich bin genau so klug wie Sie, liebe Frau von Sperber! Aber eins habe ich begriffen, und das ist für mich eine große Hauptsache: daß nämlich Oberingenieur Harnack jetzt verreist und also augenblicklich nicht zu haben ist!“
Heute früh war der Betreffende zurückgekommen, hatte sofort dem „stellvertretenden Chef“, Cecil Whitemore, Rapport abgestattet und sich sodann auf seinen Posten begeben.
Alix war es nicht behaglich zu Sinn, wenn sie an ihre bevorstehende Unterredung mit Harnack dachte; sie konnte nicht so ungerecht sein, sich gegen seine allerseits gerühmte Tüchtigkeit und geschäftliche Umsicht verschließen zu wollen, aber sie kam ungern mit ihm in persönliche Berührung, obgleich er sich stets streng in seinen Grenzen hielt und seine Manieren einwandsfrei waren. Es lag etwas in seinem beharrlichen Blick, was sie beunruhigte, sie hätte ihm zurufen mögen: „Ich verbitte es mir, daß Sie mich in dieser Weise ansehen!“ Das konnte sie freilich nicht; allein eben, weil sie es nicht konnte, legte ihr Harnacks Gegenwart diesen unliebsamen Zwang auf! –
Kein Brief von Maria! Lauter gleichgültige Dinge – Bitten um Unterstützung, Anpreisungen aller Art, Lotterielose, Preislisten verschiedener Lieferanten – Alix’ Hände warfen alles ungeduldig durcheinander, nachdem sie die Bittschriften ausgeschieden.
Hier noch ein Brief auf grauem, dünnem Papier, Poststempel Greifswald. Eine sonderbare Handschrift! Jeder Buchstabe neigt so sehr nach links hin, daß man Mühe hat, die Worte zu entziffern.
„Mein Fräulein! Wir haben Ihren Vater gewarnt, wir warnen Sie auch! Er hat nicht hören wollen, hat jeden guten Rat in den Wind geschlagen, es ist ihm schlecht genug bekommen. Sie sind eine Dame und wissen nichts von geschäftlichen Dingen, aber Sie sind über alle gesetzt, also müssen wir uns an Sie wenden! Räumen Sie auf mit den Leuten, die uns schaden, die auch Ihnen schaden werden, wenn Sie nicht hören wollen. Wir fordern neue Ingenieure bei der Schneidemühle und bei den Walzwerken, wir fordern erhöhten Lohn um 50 Pfennig pro Tag und Kopf, und wir fordern zwei Stunden weniger Arbeitszeit. Hätte Ihr Vater uns diese Wünsche erfüllt, wäre er heute noch am Leben. Leute aus England können nicht wissen, was dem deutschen Arbeiter zukommt; Ihr Vater hat das auch nicht gewußt, er ist ein halber Engländer gewesen und hat alles gemacht, wie sie es da drüben machen. Das können wir hier aber nicht brauchen.
Besinnen Sie sich, so lange es noch Zeit ist. Und nehmen Sie noch einen Rat an: Lassen Sie die Herren vom Gericht ruhig zu Hause; es hilft nichts, wenn sie die Arbeiter und die Leute vom Schloß hundertmal vernehmen: der Mörder Ihres Vaters wird sich darum doch nicht finden. Er wird überhaupt nie gefunden werden, ebensowenig wie der Schreiber der Briefe, die an Ihren Vater kamen, und der Verfasser des Briefes, der heute an Sie kommt!“
Alix wendete das Schriftstück hin und her, sie that es ganz mechanisch. Furcht empfand sie nicht, nur ein ungewöhnliches Kältegefühl in ihrem Innern, das die Worte „Mörder Ihres Vaters“ ihr erregt hatten. Wieder sah sie, wie zu ungezählten Malen, die regungslose Gestalt mit dem Leichengesicht und der Binde um die Stirn vor sich liegen und hörte das grauenvolle Stöhnen, das ihr durch Mark und Bein gegangen war. Und nun kam dieser namenlose Schreiber und sagte, ihr Vater wäre zur Genüge gewarnt worden, und jetzt solle sie, die mitten in diese ihr wildfremden Zustände hereingeschneit war, verantwortlich sein für alles weitere, wenn sie nicht handelnd eingreife. Ein starkes Gefühl in ihr lehnte sich auf gegen diesen anonymen Versuch, den an ihrem Vater begangenen Raubmord in Zusammenhang zu bringen mit der Unzufriedenheit seiner Arbeiter. Seit der Raubmord feststand, wies sie es weit von sich, die Männer, die in den Werken der Kolonie Josephsthal ihrem Beruf nachgingen, mit einem solchen Verdacht zu belasten. Aber konnte nicht der Verworfene, der ihr den Vater um niedriger Gewinnsucht willen getötet hatte, wirklich wähnen, daß er seine Unthat mit den Zuständen auf Josephsthal beschönigen könne? War an den Forderungen, die der Brief enthielt, vielleicht doch etwas berechtigt? Konnten die Leute bei den jetzigen Preisen, der jetzigen Arbeitszeit bestehen, oder war ihnen der Lohn wirklich zu knapp bemessen? Gaben die Ingenieure der Schneidemühle und der Walzwerke zu begründeten Klagen Anlaß?
Ach – Klarheit, Klarheit haben! Sehend sein, wo sie merkte, sie tappte im Dunkeln! Die Hände frei haben, wo sie fühlte, sie waren ihr gebunden! Ein schwaches Weib, war sie vor eine Aufgabe gestellt worden, der ein wohlunterrichteter, willensstarker Mann kaum gewachsen sein würde! Warum jetzt nicht sich einen Stellvertreter in Vetter Cecil, in Ingenieur Harnack oder sonst einem Geschäftskundigen bestellen, ihm alle Sorge und Verantwortung auf die Schultern laden – und hinweg aus diesem traurigen, kalten Norden fliehen, hinüber in den heitern Süden, in die Sonne, in den Frühling, unter fremde Menschen, neue Gesichter, die nichts von all dem Traurigen und Peinlichen wissen! Maria hatte klug sagen: Bleib’ auf deinem Posten! Erfülle die Aufgabe, die vor dir liegt! Hatte sie denn auch bedacht, die kluge Freundin, wie furchtbar schwer diese Aufgabe auf dem jungen Wesen, dem sie aufgebürdet war, lasten mußte? Das Studium von ein paar guten Broschüren und Vetter Cecils geschäftliche Unterweisungen thaten es noch lange nicht! Erfahrungen mußte sie sammeln, Fühlung mit ihren Untergebenen mußte sie gewinnen, wenn sie jemals dazu kommen sollte, die Herrin von Josephsthal nicht nur zu scheinen, sondern wirklich zu sein – und sie kannte noch nicht einen einzigen Arbeiter und wußte niemand, der ihr genügend Vertrauen einflößte, daß sie ihn hätte fragen, um Auskunft bitten können – –
Wirklich niemand? niemand?
Es ging wie eine Vision an ihr vorüber: eine Straße im Sonnenschein, leicht überschneit, sie selbst darauf herschreitend – und neben ihr ein Mann, der lächelnd sagt: „Wir sind einander ganz fremd, Baroneß –“ Das kam und ging wie ein Blitz. Unmittelbar darauf sagte sie sich, daß sie diesen anonymen Brief zunächst Justizrat Ueberweg zeigen, mit ihm darüber reden müsse, daß sie dann versuchen wolle, von Cecil über die Lage der Arbeiter der Kolonie Josephsthal im Verhältnis zu denen auf ähnlichen Werken genau unterrichtet zu werden.
Wie lange Alix in diesen Grübeleien mit ihren Gedanken herumirrte, hätte sie später schwerlich sagen können, sie fuhr erst daraus empor, als es an die Thür pochte und James mit seiner gedämpften Stimme meldete:
„Herr Oberingenieur Harnack bittet um die Ehre!“
„Ich lasse bitten!“
Unter der roten Tuchportiere bleibt er stehen und verneigt sich tief. Wie er näher herankommt, nimmt Alix wahr, daß sein kräftig gebräuntes Gesicht eine fahle Färbung hat und daß die Augen unter den schwer herabgezogenen Lidern unruhig funkeln. Es fällt ihr ein, daß Cecil ihr gesagt hat, Harnack habe es in letzter Zeit besonders schwer gehabt – Aergernisse mit den Leuten – Störungen bei den Maschinen – jetzt diese überstürzte Reise, Tag und Nacht auf der Eisenbahn! Und doch schließlich alles in ihrem Dienst! Diese Erwägung stimmt sie milder, sie besinnt sich auch darauf, daß sie sich zuweilen wirklich gut mit dem gebildeten und energischen Mann hat unterhalten [583] können, daß sie sich solche Antipathien, wie die gegen ein Paar allzu ausdrucksfähiger Augen, nicht durchgehen lassen dürfe und daß ihre jetzige Unterredung ja auch nichts Unangenehmes sei: er wünscht einen Beamten zu entlassen, sie wünscht, ihn zu behalten, und da sie die Herrin von Josephsthal ist, so hat sie ja die Macht, ihren Willen durchzusetzen, und das kann ganz einfach mit wenigen Worten, ohne Erregung geschehen!
Also lächelt Alix ganz verbindlich, geht dem Ingenieur ein paar Schritte entgegen und bietet ihm die Hand. Diese weiße, kühle Hand wird hastig genommen und an zwei zuckende, heiße Lippen gepreßt, die viel zu lange darauf ruhen – oder spielt Alix’ Voreingenommenheit ihr hier wieder einen Streich?
„Willkommen in Josephsthal, Herr Ingenieur!“ sagt sie freundlich, weist ihm einen der breiten Eichensitze in der rechtsgelegenen Fensternische an und setzt sich ihm gegenüber. „Sie haben sich im Interesse der Dampfschneidemühle einer großen Mühe und Strapaze unterziehen müssen und dafür sind wir, mein Vetter und ich, Ihnen Dank schuldig!“
„Baroneß sind allzu gütig! Für eine Pflicht, die man in seinem Beruf erfüllt, darf man sich nicht loben und danken lassen!“
„Und Sie sind mit dem Erfolg Ihrer Bemühungen zufrieden? Ich muß hinzufügen“ – Alix lächelt ein wenig –, „daß ich absichtlich eine so allgemeine Ausdrucksweise wähle, weil ich meines Vetters Erklärungen über diesen berühmten Motor und seine Bedeutung ganz und gar nicht verstanden habe.“
„Wenn ich mir erlauben dürfte, Baroneß einige Erläuterungen zu geben – vielleicht wäre ich glücklicher. Mr. Whitemore spricht ein sehr korrektes Deutsch, zu korrekt vielleicht, um immer leicht verständlich zu sein, und, so fließend Baroneß englisch reden, wären da die technischen Ausdrücke vielleicht eine Klippe. Wer über ein so rasches, leichtes Verständnis verfügt, wie Baroneß dies bei den verschiedensten Gelegenheiten bewiesen haben –“
Alix machte eine abwehrende Handbewegung. „Das ist viel zuviel gesagt, Herr Ingenieur! Sie verstehen es, faßlicher und populärer zu sprechen als mein Vetter, und nehmen sehr viel Rücksicht auf mich und meine Unkenntnis, daher gelingt es mir, Ihren Auseinandersetzungen meistens zu folgen … meine eigene Befähigung ist, fürchte ich, auf diesem Gebiet recht schwach. Wenn Sie so freundlich sein wollen, später, wenn auch Frau von Sperber zugegen ist, uns einen kleinen Vortrag über den neuen Motor zu halten, so würden wir Ihnen sehr dankbar sein. Für jetzt komme ich nur auf meine Frage zurück: sind Sie mit dem Stand der Dinge zufrieden?“
„Im großen und ganzen ja, mein gnädiges Fräulein!“
„Dann wollen wir gleich zu der Angelegenheit übergehen, um derentwillen ich Sie zu mir herüberbitten ließ!“
Harnack verneigte sich. Ueber seine dunklen Züge glitt es wie eine Wolke hin.
„Was ich Ihnen über Herrn Hagedorn zu sagen wünsche, wird Sie nicht unvorbereitet finden,“ fuhr Alix fort und sah ihrem Gegenüber mit der sicheren Unbefangenheit, die so gut zu ihrer äußern Erscheinung stimmte, ins Gesicht. „Mein Vetter Cecil hat Ihnen gewiß meine Ansicht schon mitgeteilt.“
„Mr. Whitemore hat das allerdings gethan, aber gewissermaßen nur provisorisch, ich habe in letzter Instanz doch auf eine Erklärung aus Baroneß Hofmanns eigenem Munde gewartet.“
„Ganz gewiß. Dazu waren Sie berechtigt. Sie sind der spezielle Vorgesetzte meines – meines Verwandten; da erledigt sich die Sache am besten zwischen Ihnen und mir. Sie halten ihn für keinen tüchtigen Beamten?“
„Da Baroneß mich offen fragen, fühle ich mich veranlaßt, ebenso aufrichtig zu antworten. Nun denn – – nein! Der betreffende Herr ist für den Posten eines Buchhalters, den er bekleidet, so ungeeignet wie nur möglich. Er ist nachlässig und unzuverlässig, er giebt sich mit hundert Nebendingen ab –“
„Was sind dies für Nebendinge, wenn ich fragen darf?“
„Er macht Musik bis in die halbe Nacht hinein, er unternimmt stundenlange Ausflüge auf seinem Zweirad in die Umgegend, er begehrt oft Urlaub, um zu Konzerten, zu Musikfesten zu fahren, er besucht die Arbeiterfamilien, angeblich, um soziale Studien zu betreiben –“
„Angeblich? Halten Sie ihn nicht für wahrheitsliebend?“
„Ich möchte mir darüber kein Urteil erlauben – oder doch nur ein bedingtes! Der Herr ist alles andere eher als ein Geschäftsmann – ich halte dafür, daß er durch und durch Phantast ist, der sich mit utopischen Ideen trägt und darüber das Nächstliegende versäumt. Daß solche Naturen es mit der Wahrheit nicht allzu genau nehmen, pflegt nur zu häufig vorzukommen.“
„Sie meinen, sein Beruf wäre ihm unsympathisch –“
„Ohne allen Zweifel!“
„Wer weiß, durch welche Verkettung von Umständen er dazu gezwungen worden ist! Kennen Sie sein Vorleben, die Verhältnisse, aus denen er hervorgegangen ist?“
„Nein, Baroneß! Ich trage auch kein Verlangen danach!“
„Das wäre aber wichtig, um diese anscheinende Nachlässigkeit – Unzuverlässigkeit – dies Abschweifen zu andern Dingen, die ihn seinen geschäftlichen Pflichten entfremden, gerecht zu beurteilen. Vielleicht – hat man ihm den Beruf aufgezwungen –“
„Möglich! Jedenfalls füllt er ihn nicht annähernd aus! Wenn Leute von solcher offenbaren Unfähigkeit, die auch nicht einmal ein Hehl daraus machen, sondern noch eine Art Trumpf darein setzen, offenkundig mit dieser Unfähigkeit zu prahlen, längere Zeit hindurch einen Posten von immerhin nicht ganz geringer Verantwortlichkeit bekleiden dürfen, so schädigen sie den Betrieb, bei welchem sie angestellt sind, geben ihrer Umgebung ein schlechtes Beispiel und müssen entfernt werden.“
„Ich muß mich wundern, Herr Ingenieur, daß Sie alles dies nicht längst meinem Vater gesagt haben.“
„Diesen Vorwurf hab’ ich erwartet, Baroneß – aber nicht verdient! Wenn ich offen sprechen darf –“
„Darum bitte ich!“
„Ihr Herr Vater, Baroneß, war ein geradezu genialer Geschäftsmann – überall zu Hause, in allen Sätteln gerecht und begabt mit einem Ueberblick, der ihn zum Leiter eines so kolossalen Unternehmens berufen machte. Eben weil aber dies Unternehmen unter seiner geschickten und glücklichen Hand wuchs und wuchs, konnte es ihm nicht mehr möglich sein, jeden einzelnen Beamten zu überwachen und in seinen Leistungen genügend zu beurteilen. Ihm dies zu sagen, wäre eine schwierige, bedenkliche Sache gewesen.“
„Mr. Whitemore gegenüber haben Sie geäußert, die Rücksicht auf das verwandtschaftliche Verhältnis Herrn Hagedorns zu meinem Vater hätte Ihnen, dem letzteren gegenüber, Schweigen auferlegt.“
„Das ist richtig. Ich habe es für angezeigt gehalten, Baroneß, Mr. Whitemore gegenüber die volle Wahrheit zu sagen.“
„Und ist es wahr,“ fuhr sie fort, „daß Sie Herrn Hagedorn ohne weiteres, aus eigener Machtvollkommenheit, jetzt, nach dem Tode meines Vaters, die Stellung kündigten?“
„Baroneß – wenn ich Sie dadurch beleidigt haben sollte –“
Alix zog die Brauen hoch, und um ihre schöngeschwungenen, vollen Lippen bildete sich der hochmütige Zug, der sie nach Professor Laurentius’ scherzhafter Aeußerung der Diana von Versailles so ähnlich sehen ließ.
„Ich bitte, Herr Ingenieur!“ sagte sie abweisend.
Harnack atmete mühsam und fuhr mit gepreßter Stimme fort: „Ich glaubte, nach dem Ableben meines Prinzipals befugt zu sein, einem nachlässigen Beamten eine Warnung zu erteilen, an die sich die Drohung schloß, seiner Thätigkeit würde, falls er sich nicht änderte, in Josephsthal bald ein Ziel gesetzt sein!“
„Worauf Sie ihm sofort einen Teil dieser Thätigkeit aus der Hand nahmen!“
„Wer hat dies zu Ihrer Kenntnis gebracht, meine Gnädigste?“
„Herr Hagedorn selbst!“
„Ah! Er hat mich bei Ihnen angeklagt?“
„Sie müssen ihn in der That sehr wenig kennen, wenn Sie ihm derartiges zutrauen. Er hat nicht einmal mir gegenüber Ihren Namen genannt! Ich habe ihn ausgefragt, und auf meine ausdrückliche Aufforderung hat er mir geantwortet!“
„Jedenfalls also,“ sagte der Ingenieur und stand auf, „habe ich des gnädigen Fräuleins Entschließungen in dieser Angelegenheit abzuwarten.“
„Ja, wenn ich bitten darf!“ Alix erhob sich ebenfalls. „Ich kann und ich will einen Verwandten unseres Hauses nicht eher aus seiner Stellung entlassen, als bis sich für diese Maßregel dringende Gründe ergeben, die auch meiner eigenen Beurteilung zugänglich sind.“ Diesmal reichte sie ihm nicht die Hand. Mit einer leichten Neigung ihres stolzen Köpfchens entließ sie ihn.
[584] Und er, der bisher inmitten seines arbeitsvollen Lebens mit einer gewissen Geringschätzung auf die Frauen gesehen und ihnen in seinem Dasein nur vorübergehend einmal eine flüchtige Rolle zugeteilt hatte – er sah sich gezwungen, seinen Willen in dieser ihm so wichtigen Angelegenheit vor dem der jungen Gebieterin zu beugen. Stumm neigte er sich und wandte sich, um zu gehen, als der englische Diener unter der Portiere erschien und seiner Herrin auf silberner Schale eine Karte reichte.
„Lassen Sie den Herrn eintreten, James!“ Alix blieb neben dem Eichensitz stehen und blickte nach dem Thürvorhang, zwischen dessen Falken jetzt raschen Schrittes Raimund Hagedorn hervortrat.
Es war ihm wohl kaum sehr angenehm, jedenfalls unerwartet, bei seinem offiziellen Besuch im Herrenhause von Josephsthal mit Harnack zusammenzutreffen. Aber gewandt, wie er war, und sorglosen Temperamentes dazu, schüttelte er die peinliche Empfindung ebenso rasch ab, wie sie ihm gekommen war, machte der jungen Dame seine ehrfurchtsvolle Reverenz und verneigte sich leicht vor Harnack, welcher seine schwere Gereiztheit kaum mehr zu verbergen wußte.
Ein tiefes Kompliment für die Dame – ein eisiger Gruß für Hagedorn, und der Ingenieur war gegangen.
Alix bot ihrem neuen Gaste einen Stuhl und sagte mit ernstem Blick: „Sie haben keine gute Nummer bei Herrn Harnack, wie ich mich soeben selbst überzeugt habe.“
„Ja,“ erwiderte Hagedorn leichthin, „wir lieben einander nicht. Und er war hier, um sich über mich zu beschweren?“
„Nicht nur deshalb. Er sprach eben mit mir in Ihrer Angelegenheit. Ich habe ihm daraufhin zu verstehen gegeben, daß ich eine Einmischung in die mir allein zustehenden Rechte nicht dulde und daß Sie, Herr Hagedorn, so lange in Ihrer Stellung zu verbleiben hätten, bis ich selbst aus eigener Einsicht eine Aenderung herbeizuführen wünschte!“
Es blieb eine kleine Weile still. Alix hatte erwartet, ihr Schützling werde diese Ankündigung mit Dank aufnehmen, aber zu ihrem Erstaunen gewahrte sie im Gesicht des ihr gegenübersitzenden Mannes einen Ausdruck, der alles andere eher bedeuten konnte als Dankbarkeit und Freude. Es war ein offenes Gesicht; es konnte und es wollte auch entschieden nicht seine Empfindungen verstecken. Die freimütig blickenden Blauaugen, der weichgeschnittene, bewegliche Mund, der so einnehmend zu lächeln verstand, die schöngewölbte Stirn – sie wußten nichts von Verstellung.
„Wenn ich recht verstanden habe,“ kam es nach einem raschen Aufatmen, das beinahe einem Seufzer glich, über Hagedorns Lippen, „so haben Sie mit Ihren letzten Worten sagen wollen, es soll mit mir hier alles beim alten bleiben!“
„Allerdings wollte ich das! Mir will jetzt nur scheinen, ich hätte Ihnen damit durchaus keinen Gefallen erwiesen!“
„Das wirft ein abscheuliches Licht auf mich – das der schwärzesten Undankbarkeit! Wenn ich Ihnen nur verständlich machen könnte, wie es in mir aussieht!“
„Ist das so schwer?“ fragte Alix, „Sie könnten mir ja erklären –“
„Erklären! Ja! Das ist es eben, was ich möchte und nicht kann!“ fiel er mit einem Eifer ein, der Alix’ starkes Befremden sofort milderte; in seiner impulsiven Art, zu sprechen, in seiner Weise, den andern überredend anzublicken, ihn mit seinen feurigen blauen Augen gleichsam zu bannen, lag ein Zauber, dem sie sich nicht zu entziehen vermochte. Zudem besaß der Sprecher ein biegsames Organ, und sein etwas Wienerisch gefärbter Dialekt gab allem, was er sagte, eine eigene Wärme.
„Und warum sollten Sie nicht können?“
„Ich bitte Sie, Gnädigste, ich kann Ihnen doch nicht nach so kurzer Bekanntschaft zumuten, meine ganze Biographie anzuhören und sich meinen innern Menschen anzusehen! Auf das aber käm’ es hinaus, wenn Sie darauf bestehen wollten, ich sollte erklären, warum ich mich nicht hab’ aufrichtig freuen und sagen können: ,Küss’ die Hand und danke tausendmal‘!“
„Und wenn ich nun nickits gegen diese Zumutung hätte – wenn ich einem Verwandten unseres Hauses“ – wie unwillkürlich blickte Alix über ihre Schulter zurück, während sie sprach, gleichsam ihre Mutter, die dort im Bilde auf sie herniedersah, auffordernd, ihr recht zu geben.
Raimund Hagedorn war diesem Blick gefolgt. Er sprang hastig von seinem Sitz empor, als habe er soeben gewahrt, daß noch eine dritte Person im Zimmer anwesend sei, die er zu begrüßen vergessen hatte. „Ah, Tante Kathi!“ rief er lebhaft, und mit einer entschuldigenden Gebärde gegen Alix fügte er hinzu: „Sie müssen verzeihen – ich habe sie immer so genannt, sie selbst hat es mir gestattet!“
„Wann und wo sahen Sie meine Mutter?“ fragte das junge Mädchen rasch zurück.
Er antwortete zunächst noch nicht, sondern sah unverwandt zu dem Gemälde empor – dann zu Alix hinüber – wieder zum Bilde zurück – die beiden Gesichter aufmerksam vergleichend.
„Ja, ja,“ nickte er dann, wie zu sich selber sprechend, „ich hab’ es gleich bemerkt, es ist viel Aehnlichkeit da, der ganze Typus, und dann um Augen und Mund herum … doch Baroneß verzeihen, daß ich nicht gleich antwortete. Wann ich Ihre Frau Mutter sah? Auf ihrer Hochzeitsreise zum erstenmal, und damals war ich ein kleiner Bub’, vielleicht sechs Jahr alt. Schadet nichts! Mein Gedächtnis reicht weit zurück, und ich seh’ alles deutlich vor mir – die ganze Scene!“
„Wollen Sie mir die schildern?“
„Gern! Wir lebten dazumal noch in Wien. Ich muß doch der Gnädigsten sagen: ich bin ein geborener Wiener.“
„Das hört man zuweilen an Ihrer Sprache, so dialektrein Sie sprechen.“
„War ja auch nicht immer in Wien. Aber zur Sache! Damals also lebten wir dort, und meine Mutter, auch eine Gräfin Holsten-Delmsbruck, gleich der Ihren, war sehr aufgeregt und glücklich über den bevorstehenden Besuch ihrer Lieblingscousine. Gleich zwei Schwestern waren die beiden zusammen aufgewachsen, obzwar meine Mutter wohl ein halbes Dutzend Jahre mehr zählte als ihre Cousine. Ich bekam mein schönstes Habit an, veilchenfarbigen Sammet mit Goldstickerei, und einen prachtvollen Buschen von Maiblumen und Syringen, so groß, wie ihn meine Hände nur fassen konnten – damit sollt’ ich droben an der Stiege stehen zum Willkommen, und hundertmal wohl hat mir’s meine gute Mutter eingeschärft, ich sollt’ auch hübsch laut und deutlich sagen: ,Grüß’ dich Gott, Tante Katharina!“
„Und haben Sie das fertig gebracht?“ fragte Alix.
„Aber tadellos! Obschon ich so viel zu sehen hatte: die schöne junge Frau in dem schweren grünen Seidenkleid, einen Hut mit wehenden, nickenden weißen Straußenfedern auf dem Kopf, und den Herrn Gemahl daneben, ganz in schwarzer Gala, hinterher den Diener im Tressenrock – das war keine Kleinigkeit. Wie ich aber mit heller Stimme meinen Gruß sagte und meine Blumen hinhielt – gerad’ mitten im schönsten Frühling sind wir gewesen! – da hat mich die neue Tante in die Arme genommen und hat mich geküßt. Sie amüsierte sich über mein damals unverfälschtes Wiener Geplausch und bat sich’s aus, ich möchte sie Tante Kathi nennen, das klänge so hübsch. Lang’ ist sie damals nicht in Wien geblieben, die Reise ist über den Semmering nach Italien gegangen – aber doch hat sie mit Mama manches Plauderstündchen gehalten, während die beiden Herren, mein Vater und der Ihrige, inzwischen sehen mußten, wie sie miteinander zurechtkamen. Ich natürlich, als einziges Kind, gewöhnt, immer an Mamas Rockfalte zu hängen, ich war stets bei den Damen, und sie beachteten mich weiter nicht, wenn ich mit meinen Bauhölzern und Pferdchen still für mich in einem Winkel spielte. ,Der Bub’, der Raimund, hört und versteht uns nimmer!‘ hat meine Mutter oft beruhigend gesagt, wenn Tante Kathi fragend über die Schulter nach mir umblickte. Ich hab’ aber doch alles gehört und auch vieles verstanden, so klein ich noch war. Als Tante Kathi dann abgereist war, ist noch oft von ihr bei uns die Rede gewesen, sie hat auch zuweilen geschrieben und schöne Weihnachtsgaben für die Mutter und für mich geschickt. Mehr als ein Jahr ist vorübergegangen; da, es war im Herbst, hat’s geheißen, Mama und ich würden zu den norddeutschen Verwandten nach Josephsthal fahren, wo das Töchterchen getauft werden sollte. Besagtes Töchterchen – –“ Der Sprecher verneigte sich sehr ceremoniell gegen Alix, und seine Augen glänzten fröhlich und schelmisch zu ihr hinüber.
[586] „Sie kannten also Josephsthal schon seit langer Zeit, und Sie kannten auch mich!“ rief Alix lebhaft. „Ich habe keine Ahnung davon gehabt. Dunkel erinnere ich mich, daß meine Mutter von der Ihrigen gesprochen, daß sie sie sehr lieb gehabt hat. Bitte – nur weiter! Sie glauben es nicht, wie mich dies alles interessiert!“
„Es ist leider bald zu Ende mit den Kindheitserinnerungen! Ich machte also damals die Bekanntschaft der neuen Cousine, aber, wie ich ehrlich eingestehen muß, ohne allzu große Begeisterung. Mit so kleinen Kindern wußte ich nichts anzufangen! Ja, hätte das Geschöpfchen laufen und plaudern können! Aber dies stumme Kleine in all seiner Seiden- und Spitzenpracht machte mir recht wenig Eindruck.“
„Und – meine Mutter?“ fragte das junge Mädchen leise.
„Sie war schöner denn je und schien sich im Besitz ihres Töchterleins außerordentlich glücklich zu fühlen.“
Der Redner stockte hier, als hätte er mehr noch auf dem Herzen, fürchtete aber, zu viel zu sagen. Wieder gab sein bewegliches Gesicht den beredtesten Kommentar zu dem ab, was in seinem Innern vorging.
„Wie wir dann zurückgereist sind, gab es einen sehr schweren und zärtlichen Abschied zwischen den beiden Freundinnen, dessen entsinne ich mich noch genau. Sie weinten beide und wollten einander nicht aus den Armen lassen. Ob eine Ahnung sie bewegte? Sie sollten sich nicht wiedersehen. – – – Meine Mutter ist zuerst gestorben – ein paar Jahre nach jenem Besuch ist es gewesen, und Tante Kathi hat damals sehr traurig und sehr liebevoll an meinen Vater und an mich geschrieben – ich hab’ mir den Brief aufbewahrt; er blieb der einzige, den ich von ihr bekam, denn der Verkehr schlief nach dem Tode meiner Mutter ganz ein. Der Vater hatte zu nichts mehr Lust und fand an nichts mehr Freude …. hätt’ er mich nicht noch zu erziehen gehabt, ich glaube, er wär’ freiwillig der Mutter nachgegangen. Sie ist der Inhalt seines ganzen Lebens gewesen!“
Das ernst gewordene Gesicht, das Alix zugewendet war, wirkte noch anziehender als soeben das lachende.
„Ich danke Ihnen von Herzen für alles, was Sie mir aus jenen Kindertagen, die Sie mit meiner Mutter zusammenführten, erzählt haben!“ sagte Alix warm und reichte Hagedorn die Hand, die er leicht an die Lippen führte. „Sie glauben nicht, wie wertvoll mir, die ich so früh verwaist bin, jede Einzelheit ist, die irgendwie mit Mama in Verbindung steht. Aber nun sind Sie mir doch noch die bewußte Erklärung schuldig, die es mir verständlich machen soll, daß Sie den Gedanken, hier zu bleiben, mit solch offenbarer Abneigung begrüßten!“
„Abneigung? Wirklich? Hab’ ich die verraten?“ fragte Hagedorn bestürzt.
„Es sah wenigstens ganz so aus. Und Sie können es mir nicht verargen, daß ich dafür eine Erklärung wünsche!“
„Eine ganz offene?“
„Ja!“
„Gut denn, ich will es versuchen, sie zu geben. Sehen Baroneß, wenn ich da nun anknüpfe, wo ich zuvor aufhörte, beim Tod meiner Mutter, so ergiebt sich fortan eines aus dem andern. Nachzuholen hätt’ ich nur eine Thatsache, die mich betrifft, freilich eine sehr wichtige! Von klein auf bin ich ein Musiknarr gewesen. Die Wärterin, die mich auf dem Arm getragen hat und die dann noch lange im Haus blieb, hat mir’s später noch oft erzählt, wie ich mitten im Weinen verstummte, sobald ein Drehorgelmann draußen sich hören ließ – wie ich, noch ehe ich ein artikuliertes Wort sprach, kleine Melodien mit meinem Kinderstimmchen richtig und rein zu Gehör brachte – wie ich mich ans Pianoforte hintappte, mühselig den Klaviersessel erklomm und mir nun Töne zusammensuchte, wie ich sie brauchen konnte. Mit sechs Jahren hab’ ich in einer Wohlthätigkeitsvorstellung den ,Karneval von Venedig’ mit Variationen auswendig vorgetragen; die Leute, die Damen namentlich, machten mit mir Knirps viel Aufhebens und meine Eltern hatten gewaltig zu steuern, auf daß nicht aus ihrem Einzigen ein eitler Grasaff’ gemacht wurde. Ich durfte nie wieder öffentlich spielen, und die Leute, die bei uns im Haus verkehrten, wurden veranlaßt, mich nicht durch zu viel Lob und Bewunderung zu verderben. – Aber guten Unterricht erhielt ich, auch dann, als wir, nach dem Tode meiner Mutter, von Wien fortzogen und unser sonderbares Wanderleben begannen. Doch ehe ich Ihnen davon berichte, Baroneß, muß ich notwendigerweise erst etwas von meinem Vater sagen!“
„Er war Docent der alten Sprachen, nicht wahr?“
„Jawohl, er hatte Philologie studiert, war als junger Mensch Informator in einer gräflichen Familie gewesen – Sie erraten, daß es die Holsten-Delmsbrucksche war! – er hatte sich heimlich mit der Komteß verlobt, sah aber nicht die geringste Aussicht auf eine Vereinigung mit seiner Braut vor sich. Da starb sein Vormund, ein sehr wohlhabender, kinderloser Herr, und mein Vater wurde sein Universalerbe. Nun konnte er die Braut heimführen und sein Leben nach eigener Neigung gestalten. So wurde er denn Docent an der Wiener Universität und lebte seiner Wissenschaft, schrieb ab und zu eine gelehrte Abhandlung als Beitrag für irgend eine Zeitschrift, konnte sich aber zu keiner regelmäßigen Thätigkeit aufraffen. Er war ganz Stimmungsmensch; jeder Zwang entmutigte ihn. Unser Vermögen, vielmehr der Zins, den es brachte, reichte aber für uns aus. Meine Mutter war für sich selbst anspruchslos und merkwürdig praktisch. Sie verwaltete das Einkommen ganz allein, und das war gut, denn mein Vater hätte keine Ahnung gehabt, wie es anzulegen sei. Das Kapital sollte für ihren Buben unberührt bleiben! Aber nun starb sie, da ich noch keine vierzehn Jahr alt war. Mein armer Vater, niedergebeugt und gebrochen von seinem Schmerze, war in Bezug auf alle praktischen Fragen des Lebens rat- und hilflos wie ein Kind; er war wie erlöst, als einer der wenigen Freunde, die er in Wien gefunden, ein gutsituierter Kaufmann, ihm anbot, von der Last der Vermögensverwaltung ihn zu befreien und unser Kapital in sein Geschäft hineinzunehmen. Er hatte eine großartige Gußeisen- und Gußstahlgießerei, ein pomphaftes Warenhaus mit den herrlichsten Treppengeländern, Grabgittern, Kandelabern und dergleichen. Ich will und ich kann dem Mann nichts Böses nachsagen, er hat nicht schlecht an uns gehandelt. So lange es ihm selber gut ging, hatten auch wir es gut! Er hatte dem Vater dafür, daß dieser sein Kapital in seinem Geschäft arbeiten ließ, Tantieme zugesichert – die bekamen wir jahrelang, so lange der Handel schwunghaft ging, regelrecht ausgezahlt! Wir hatten reichliche Zinsen in jener Zeit, aber wir verbrauchten sie auch. Meinen Vater litt es nicht lange mehr in Wien, er meinte, in einer fremden Stadt, in einer neuen Umgebung würde er die quälende Sehnsucht nach der Mutter weniger empfinden. Wir gingen nach Graz, dann nach München – dort hab’ ich mein Abiturium gemacht. Ich wollte Musik studieren, das stand bei mir ganz fest, und mein Vater hatte nichts dagegen; nur wollte er, daß ich vorher mit ihm erst ein wenig die Welt ansähe. Da der Arzt für ihn einen längeren Aufenthalt im warmen Klima für wünschenswert erklärte, gingen wir auf ein volles Jahr nach dem Süden. Wie trunken vor Entzücken hab’ ich geschwelgt in allem, was dieser Aufenthalt mir bot, und wenn ich leider gewahren mußte, daß meinem armen Vater auch diese wonnevollen Tage nichts mehr halfen, daß für seine Seele alles zu spät kam und alles verloren war, seitdem er ohne sein Liebstes und Bestes lebte .…. ich verdanke dieser Zeit eine sonnengoldene, unvergleichliche und unvergeßliche Erinnerung, an der ich freilich werde zehren müssen all mein Leben lang.“
„Konnten Sie auch für Ihren künftigen Beruf damals etwas thun?“
„Mein künftiger Beruf – der, den ich in jener Zeit wenigstens dafür hielt! – kam nicht zu kurz. Ich hatte vollauf Muße, oder wenigstens, ich nahm sie mir, alte Kirchenmusik zu studieren – Palestrina – Pergolese, aber ohne Anleitung und Belehrung, ohne Menschen, gegen die ich mich aussprechen, mit denen ich meine Ideen tauschen konnte. Als das Reisejahr vorüber war, trieb es mich mit Allgewalt nach Köln, an dessen Konservatorium namhafte Lehrer unterrichteten, und mein Vater, dem die Stadt nicht sympathisch war, und der eine fast krankhafte Sehnsucht nach dem Grabe meiner Mutter empfand, faßte zum erstenmal den Entschluß, sich, wenigstens für eine Zeit lang, von mir zu trennen. Der Gedanke, ihn allein reisen zu lassen, war mir bei seiner Angegriffenheit bedenklich. Aber mit der zähen, eigensinnigen Heftigkeit, wie sie oft gerade weichen Naturen und Gemütsmenschen eigen ist, bestand er auf seinem Willen, und ich mußte ihn ziehen lassen. Ich hatte mich noch nicht einmal in Köln eingerichtet, wohnte noch im Hotel und wollte erst am [587] nächsten Tage die notwendigen Besuche bei meinen Lehrern machen, als mich ein Telegramm traf: ,Ihr Vater bedenklich erkrankt – bitte, sofort herzukommen!‘ Selbstverständlich fuhr ich Tag und Nacht, und als ich in Wien anlangte, lag mein Vater bewußtlos an schwerem Typhus danieder und erkannte mich nicht mehr. Als er endlich, nach Monaten, dem Leben wiedergegeben war, lag der kaum zweiundfünfzigjährige Mann vor mir mit silberweißen Haaren, hohläugig und entkräftet wie ein Greis, und so schwach, daß er die Hand nicht heben konnte und ich ihn füttern mußte wie ein kleines Kind.
Das blieb so nicht – gottlob! Aber über seiner Genesung war es Winter geworden, ganz Wien lag eingeschneit, und die Aerzte warteten nur ein Nachlassen des Frostes ab, um den Kranken ungesäumt wieder fortzuschicken – diesmal nach Meran! Daß ich mit ihm ging, verstand sich von selbst; er hätte jetzt die Trennung von mir gar nicht ertragen. Seine Nerven waren unglaublich geschwächt, er war reizbar, ungeduldig, die geringste Kleinigkeit regte ihn unsagbar auf, und ein unbedachtes Wort konnte ihm Thränen in die Augen treiben. Er wollte mich nicht von sich lassen – natürlich! zugleich aber quälte ihn fortwährend der Gedanke, daß ich jetzt um seinetwillen meine so heiß ersehnten musikalischen Studien nicht aufnehmen könne, daß er das Hindernis sei! Auf alle Weise suchte er mich zu entschädigen, schaffte mir ein schönes Reitpferd an, ein Fahrrad, interessante Bücher, drang darauf, daß ich Ausflüge unternahm, Bekanntschaften anknüpfte; ich hatte nur immer abzuwehren, damit mir’s nicht zu viel wurde. Zu meiner Freude erholte er sich zusehends; aber es konnte mir nicht verborgen bleiben, daß er jetzt meinen künftigen Beruf mit ängstlichen und scheelen Augen ansah, so oft ich ihn auch versicherte, wir dürften uns wegen desselben durchaus nicht trennen, ich könnte, wenn er sich das wünsche, Köln aufgeben und in Wien meine Studien betreiben. Wir gingen auch schließlich nach Wien, aber zu den erhofften Studien kam ich auch jetzt nicht.
Nicht ohne eigne Schuld! Ich hatte in Meran die Bekanntschaft von ein paar jungen Wienern gemacht, es waren zwei Brüdcr und deren nächste Freunde – lebenslustige, ein wenig übermütige, aber liebenswürdige Leute, die großes Wohlgefallen an mir fanden und mich eifrig zu sich heranzogen. Sie waren wohlhabend, die Brüder konnte man schon reich nennen, ihr Vater war ein angesehener Wiener Bankier. Alle vier aber waren sie leidenschaftliche Sportsmen, hielten sich zusammen einen Rennstall, Jockeys und Trainer, waren in London beim Derby gewesen, hatten die Rennen in Longchamps mitgemacht, sich auch in Norddeutschland umgethan und gingen ganz in diesen Dingen auf. Einmal erst wieder in Wien, wo unser Umgang selbstverständlich fortgesetzt wurde, zogen sie mich beinahe mit Gewalt in ihre Sportsinteressen hinein; sie behaupteten, ich sei ein geborener Herrenreiter, ich möge ihnen nur die Liebe thun, meinen ‚Mazeppa‘, ein famoses Halbblut, einreiten zu lassen und mich im Herbst bei den großen Rennen zu beteiligen – sie würden ohne weiteres auf mich wetten. Der Gedanke schmeichelte meiner Eitelkeit, daß sich in dieser Geschicklichkeit als Reiter das Blut meiner mütterlichen Abstammung verrate. Ich ließ mich überreden. Meine musikalischen Studien, die meine volle Hingabe erfordert hätten, vernachlässigte ich nun in unverantwortlicher Weise. Ab und zu machte ich mir deshalb Gewissensbisse, aber mein Vater, der sich sehr entzückt von meiner Sportliebhaberei zeigte, und meine neuen Freunde hatten mir so oft und so einleuchtend bewiesen: zum Musikmachen käme ich noch zeitig genug, und das Studium liefe mir ja nicht davon, daß ich mich leicht beruhigte. Kurz, ich ritt im Herbst die Rennen mit und gewann beim Herrenreiten den zweiten Preis. Ich war so allgemach, ohne mein Zuthun, in die Kreise der Wiener jeunesse dorée geraten und ließ mir’s gefallen. Man lud mich vielfach zu Abendgesellschaften; die Mär von meiner musikalischen Begabung sprach sich herum, man forderte mich auf, in Wohlthätigkeitskonzerten zu spielen, ich mußte in Privatkreisen Operetten dirigieren, Liederspiele komponieren, melodramatische Scherze begleiten – der reinste Dilettantenschwindel in voller Blüte! Ich kann auf jene Zeit in Wien nur mit Beschämung zurückblicken. Allein ich war jung, empfänglichen Gemütes, und die Versuchung war stark! Doch ich will mich nicht entschuldigen. Wollten mir Bedenken aufsteigen, so beschwichtigte ich sie damit, daß ich mir sagte, ich lebte ja jetzt meinem Vater zu Gefallen, und das sei meine Pflicht. Wirklich zeigte er sich stets heiter und zufrieden, obgleich er wahrlich auch bei meiner damaligen Lebensweise nicht viel von mir hatte. Ohne Murren gab er das Geld her, das diese repräsentative Rolle forderte, schaffte ein zweites Rassepferd und stellte einen englischen Trainer an, als die Freunde darauf drangen, und glänzte vor Stolz, als es dann im nächsten Jahr beim Hindernisrennen und beim Handicap zwei erste Preise abgab und die Sportblätter meinen sogenannten ,Ruhm‘ mit Posaunenstößen der Welt verkündigten.
Ich stand in der Blüte meiner Sportlaufbahn und in Unterhandlung wegen eines dritten Pferdes, als mein Vater eines Tages verlegen und erregt zu mir aufs Zimmer kam: ob ich die bevorstehenden großen Ausgaben, von denen ich ihm gesprochen, aus meinen Mitteln von den Preisen her bestreiten könne oder ob ich Kredit dafür hätte – der Geschäftsmann, der unser Vermögen verwalte, habe zum erstenmal die längst fälligen Zinsen nicht gezahlt und auf zwei mahnende Briefe des Vaters mit keiner Silbe geantwortet!
Mir wurde nicht sehr wohl zu Mut, als ich dies hörte; ich ließ die Fragen über meine eigenen Mittel und über meinen Kredit in der Luft schweben – sie wären nicht zu meines Vaters Zufriedenheit zu beantworten gewesen! – brach einstweilen die Unterhandlungen wegen des Pferdes ab und versprach meinem Vater, mich um die Geldangelegenheit selbst zu bekümmern.
Was ich zu hören bekam, war nicht ermutigend. Es stand schlimm mit unserem Geschäftsfreund. Um der jährlich anwachsenden Konkurrenz zu begegnen, sie noch zu überbieten, hatte er enorme Lieferungen übernommen, das Material dafür zu billig veranschlagt, die Leute zu sehr angestrengt und dabei zu schlecht besoldet, so daß sie an einem Tage samt und sonders die Arbeit niederlegten – ausstehende Forderungen konnten nicht eingetrieben werden … es war eine Krisis – – sie konnte überstanden werden, und dann würde alles gut zu machen sein … Aber die Krisis des Geschäftsfreundes ging nicht vorüber, und die Sache zog sich nicht zurecht. Der Mann that klug daran, die Briefe meines Vaters unbeantwortet zu lassen – – – was hätte er ihm schreiben sollen? Unser Vermögen steckte in seinem Geschäft – ob sich auch nur ein Teil davon würde herausziehen lassen, war mehr als zweifelhaft. Sacht fing ich an, meine Fühlhörner einzuziehen, den Trainer zu entlassen, ein Pferd zu verkaufen … Dann war mit einem Mal die Sache entschieden – ohne einen Schimmer von Hoffnung, auch nur tausend Gulden für uns aus dem allgemeinen Zusammenbruch zu retten!
Da stand ich denn nun neben dem hilflosen, in seiner Art verwöhnten, dem wirklichen Leben fremd gewordenen Vater – ich selbst zwar gesund, fast vierundzwanzig Jahre alt, aber in meiner Art, genau genommen, ebenso unbrauchbar fürs Leben wie mein guter, alter Papa. Ich war ganz bereit, für meine Thorheit zu büßen und mir’s rechtschaffen sauer werden zu lassen … aber wovon sollten wir derweil leben, wir zwei? Mit Verkaufen, mit Vermieten hatten wir’s so eine Weile hingehalten, jetzt aber schaute die nackte Not zur Thür herein …. ein höllisch unbequemer Gast für denjenigen, der ihm zum erstenmal in das höhnisch grinsende Antlitz schaut! Und dabei dem Vater, der mir, sowie ich zur Thür hereinkam, mit seinen guten, bekümmerten Augen mitleidig ins Gesicht sah, eine sorglose Miene zeigen, ihn immer wieder lachend auf die Schulter klopfen und sagen müssen: ‚Mut, Papa! Dies ist ein Uebergang – weiter nichts! In diesen Tagen muß sich etwas finden!‘ Und dieselbe sorglose Miene den guten Freunden gegenüber: nur immer unbefangen thun – nur sich um Gottes willen nichts merken lassen!
Eine furchtbare Ueberwindung hat’s mich gekostet, mich endlich meinen nächsten Freunden, denen wenigstens, die ich dafür hielt, zu offenbaren, ihnen vollen Einblick in unsere bedrängte Lage zu gewähren und ihren Rat, eventuell ihre Hilfe, in Anspruch zu nehmen. Ich machte die alte Erfahrung! Ich erhielt lebhafte Zusicherungen aufrichtiger Teilnahme, Versprechen, zu deren Erfüllung es nicht kam, schließlich begegnete ich frostigen Gesichtern. Der letzte Versuch, den ich unternahm – ohne jede Hoffnung, muß ich hinzufügen – brachte ein Resultat. Der Vater eines jungen Mannes, den ich vom Ruderklub her [588] kannte, war gerade im Zimmer des Sohnes anwesend, als ich diesem mein Anliegen vortrug. Ich that es mit einem gewissen desperaten Humor, der mich die Gegenwart des mir ziemlich fremden älteren Herrn als etwas Nebensächliches übersehen und die ganze Sache als den letzten Akt einer ausgepfiffenen Tragikomödie betrachten ließ. Aber der Vater des jungen Sportsman war ein Menschenkenner; er stellte einige Fragen an mich, die ich, in meiner verzweifelten Stimmung, mit einer geradezu waghalsigen Offenheit beantwortete, und bot mir dann kurzerhand eine Stelle in seinem Comptoir an. Ich starrte ihn an, als ob er chaldäisch mit mir redete, aber er wiederholte sein Anerbieten mit dem Zusatz: es sei freilich eine Art Experiment für uns beide, er habe den Versuch zu wagen – ich möge dasselbe thun!
So bin ich vom Rennsattel herunter, um das Kapellmeisterpult herum, auf den Comptoirstuhl hinaufgekommen, und ich mußte meinem Schöpfer danken, daß ich noch da hinaufgekommen bin. Mein Prinzipal merkte bald, daß ich viel guten Willen und ernsten Eifer, aber nicht die Spur Talent und Neigung für meinen neuen Beruf besaß. Die notwendigen Elemente, den gebräuchlichen kaufmännischen Briefstil eignete ich mir zur Not an, rechnete auch nicht zu schlecht, aber mir fehlte aller und jeder Geschäftssinn. Mein Prinzipal sah das recht gut, sah auch, daß ich mir alle Mühe gab, den alten Menschen aus- und einen neuen anzuziehen, und hatte Nachsicht mit mir. Dennoch war er gewiß seelenfroh, als ihm ein Zufall half, mich nach nahezu zwei Jahren loszuwerden. Er stand, da er ein ausgebreitetes Getreidegeschäft hatte, in Verbindung mit vielen namhaften Firmen – unter ihnen befand sich A. T. von Hofmann, Kolonie Josephsthal. Ich hatte im Auftrag meines Chefs dorthin zu schreiben und unterzeichnete daher außer mit unserer Firma auch noch mit meinem eigenen Namen. Ich war gespannt, zu sehen, ob Tante Kathis Gatte sich meiner noch erinnern und sich zu unserer Verwandtschaft bekennen würde!“
„Warum wendeten Sie sich nicht gleich an meinen Vater, als Sie in Verlegenheit waren?“ fragte Alix mit etwas unsicherer Stimme.
„Sie vergessen, daß es damals gar nicht in meiner Absicht lag, Kaufmann, Comptoirist zu werden. Irgend eine einigermaßen lohnende Beschäftigung wollte ich …. mußte ich haben, daher wandte ich mich an meine sogenannten Freunde. Ich hätte Musikkritiker, Mitarbeiter an einem guten musikalischen Blatt werden mögen, daneben ernste Studien treiben: meine Freunde versagten. Tante Kathis Gatten aber um eine Geldunterstützung, eine namhafte noch dazu, anzugehen – ihn, den ich ganz aus den Augen verloren hatte, dem ich mit meinen Anlagen und Wünschen vollkommen fremd war .…. das konnte mir wahrlich nicht in den Sinn kommen!
Aber Baron von Hofmann erinnerte sich meiner. Er schrieb an mich und an meinen Prinzipal, kurz und bündig: es würde ihn interessieren, Näheres über mich und mein Ergehen zu hören. Mich fragte er, ob mir meine Stellung zusage, und meinen Prinzipal, ob er mit mir zufrieden sei.
Ich antwortete sehr aufrichtig und bat meinen Chef, ein Gleiches zu thun, nichts zu beschönigen oder zu mildern. Ich sagte offen, meine Neigung und Begabung gehörten einzig der Musik, ich sei Buchhalter geworden, weil ich samt meinem Vater leben mußte und sich nichts anderes für mich fand. Mein Prinzipal gab mir seinen Brief an Herrn von Hofmann zu lesen. Er stellte mir als Mensch ein überaus günstiges Zeugnis aus, nannte mich einen ehrenwerten Charakter, eine energische Natur, die sich jeden Tag aufs neue zwinge, einen Beruf auszuüben, dem er noch immer als Neuling angehöre.
Es traf nach drei, vier Tagen eine Antwort ein. Ihr Herr Vater ignorierte die Künstlernatur und die Liebe zur Musik vollständig, aber er bot mir eine Buchhalterstelle bei seiner neugegründeten Dampfschneidemühle an, und zwar mit erheblich höherem Gehalt, als ich bisher bezogen hatte. Mein Chef redete mir eifrig zu, mein Vater war Feuer und Flamme für die neue Stellung …. ich selbst – nun, was nützt es, seine Empfindungen zu zerfasern? Ich kam hierher, und hier bin ich noch heute!“
„Standen Sie gut mit meinem Vater?“
„Ich muß bekennen: ich stand gar nicht mit ihm! War er enttäuscht über mich? Hatte er doch mehr und Besseres erwartet? Flößte ihm meine Erscheinung, mein Wesen keinerlei Sympathie ein? Ich sah ihn zu Anfang selten, dann immer weniger, endlich gar nicht mehr, so daß ich mir einbilden konnte, nicht mehr Herrn von Hofmann zu meinem Vorgesetzten zu haben, sondern nur noch Herrn Oberingenieur Harnack, denn nur mit diesem bekam ich es noch zu thun. Es wunderte mich übrigens nicht, von seiten meines wirklichen Prinzipals keine besondere Beachtung zu erfahren: er war ein hervorragender Geschäftsmann, ich war es nicht, er arbeitete mit Freudigkeit, ich that es, weil ich es mußte. In meinen Erholungsstunden trieb ich Musik und suchte in dieser Trost. Aber es ist ein unvernünftiger Kampf, den ich kämpfe, es ist ein aussichtsloser dazu. Wohl kann ich jetzt des Abends ein paar Stunden spielen, ich kann mir musikalische Blätter halten, ich kann, wenn ich es vor Sehnsucht nicht länger ertrage, zu einer guten Oper, zu einem Konzert oder Musikfest fahren, aber gerade weil ich mich wieder im Zusammenhang mit der Musik fühle, sehe ich mit jedem Tag deutlicher, um was ich mich gebracht habe!“
„Unwiederbringlich?“ fragte Alix eindringlich.
„Ich fürchte – ja, ich glaube es sogar zu wissen. Schon die Rücksicht auf meinen Vater –“
„Sie haben Ihren Vater bei sich?“
„Nein, er lebt in Greifswald, und ich besuche ihn dort des öftern. Wir taugen nicht mehr zum Zusammenleben, wir beiden, seit dem Verlust unseres Vermögens. Einer beobachtet heimlich den andern, bedauert und beklagt ihn, möchte ihm helfen und kann nicht – das regt und reibt auf. Auch der gute Papa, trotzdem er nicht darbt, entbehrt vieles, was ihm das Leben geschmückt und interessant gemacht hat. Mich freut es, für meinen alten Vater sorgen zu können, aber ich wünschte, es geschähe auf andere Weise und geschähe besser. Zum Schluß, Baroneß, noch ein Bekenntnis: so lange Ihr Herr Vater lebte, hatte ich weniger das Gefühl des Geduldetseins, kam auch mit Harnack besser zurecht. Er konnte nicht an mich heran, so lange der Chef da war, der einen Uebergriff auch von seinen obersten und tüchtigsten Beamten niemals geduldet hätte. Seit Herrn von Hofmanns Tode glaubt er, im sichern Gefühl seiner Unentbehrlichkeit – und ich halte ihn in der That für hervorragend tüchtig und für die Werke notwendig! – solche Vorsicht nicht mehr nötig zu haben. Er macht mir bei jeder, auch der kleinsten Gelegenheit sein hundertfaches Uebergewicht fühlbar, er spielt den Herrn, und das empört und reizt mich. Ich war früher schon zuweilen nachlässig in meiner Arbeit, unvorsichtig in meinen Aeußerungen – ich bin es in letzter Zeit mehr denn je gewesen. Ich hatte das Gefühl, va banque zu spielen. Gelebt muß werden, schon um des Vaters willen, aber hier wollte ich nicht mehr leben, so lange ein Harnack mein unmittelbarer Vorgesetzter ist! Baroneß waren so gütig, mir zu sagen, ich könnte bleiben …. ich, nachdem ich meine ganze Lebens- und Leidensgeschichte mit viel zu großer Ausführlichkeit erzählt habe, muß jetzt dennoch, mit allem Dank für die mir erwiesene Geduld und Nachsicht, nochmals sagen: ich möchte gehen! Ich bitte Baroneß dringend und inständigst, mich nicht mißzuverstehen!“
Alix sah in sein erregtes Gesicht, in diese Augen, die jedes Empfinden so treu wiederspiegelten; sie mußte fast lächeln über die Mühe, die er sich gab, sich selbst und seine Leistungen in ihren Augen herabzusetzen, nur um seinen Wunsch zu erreichen.
„Sie haben keine andere Ursache, sich von hier fortzuwünschen, als nur Herrn Ingenieur Harnack und Ihr Verhältnis zu demselben?“ fragte sie nach kurzem Ueberlegen.
Sein Gesichtsausdruck bekam etwas Unsicheres, als er, nach einer merklichen Pause, mit bedeckter Stimme antwortete: „N – – nein! Nicht – nicht – daß ich wüßte!“
„So müssen wir trachten, Ihre Stellung derartig zu gestalten, daß Sie mit dem Ingenieur nicht weiter in Berührung kommen. Sie könnten bei der Oelmühle Beschäftigung finden. Selbstverständlich wäre ich bereit, jede etwaige Gehaltsaufbesserung, die Ihnen wünschenswert sein könnte, anstandslos zu ….“
Hagedorn ließ sie nicht zu Ende reden. Mit einer energischen Handbewegung schnitt er ihr den Satz entzwei:
„Verzeihung – so dürfen Baroneß nicht sprechen! Nein, nein, ich kann nichts zurücknehmen! So gewagt es klingen mag: [589] Baroneß dürfen nicht! Weil Sie über große Mittel verfügen und ich ein Anverwandter der Familie bin, darum darf ein Mann wie ich nicht überreichlich für Leistungen belohnt werden, die herzlich leicht wiegen. Schon das mir von Herrn von Hofmann bewilligte Gehalt erschien mir, diesen meinen Leistungen gegenüber, viel zu groß, und nur die Rücksicht auf meinen Vater nötigte mich, es anzunehmen ... es nochmals erhöhen, das hieße, mich demütigen, und ich denke mir, das können Baroneß nicht wollen!“
„Nein, ich will es nicht!“ sagte sie rasch und stand auf.
Sie waren beide rot geworden während der letzten Minute und sahen aneinander vorbei, während jeder von ihnen dasselbe dachte. Das junge Mädchen erfüllte der Gedanke, diesem Mann Gehalt auszuzahlen, seine Vorgesetzte zu sein, mit unendlich peinlicher Verlegenheit, und er hatte kein anderes Empfinden, als ein beinahe zorniges Auflehnen: Warum sucht sie mich zu halten? Ich will nicht bei ihr in Lohn und Brot stehen, ich will nicht! Und wenn ich mich jetzt füge, um nicht allzusehr den Schein der Undankbarkeit auf mich zu laden .... auf lange wird es nicht sein! Was mir gegen die Natur geht, das kann ich einfach nicht ertragen!
Abschiednehmend verneigte er sich: „Baroneß haben mein Schicksal einstweilen besiegelt – ich unterwerfe mich!“
„Nur einstweilen?“ versuchte Alix zu scherzen, aber es kam nicht ganz ungezwungen heraus. „Schon gut,“ fuhr sie sich beschwichtigend fort. „Jedenfalls wird also einstweilen“ – sie betonte das Wort absichtlich – „mein Vetter Cecil Whitemore meinem Vetter Raimund Hagedorn seine neue Stellung und deren Pflichten klarlegen!“
Wieder war in ihr stolzes Gesicht ein zarter Rosenhauch gestiegen, als sie seinen Namen und die vertrauliche Bezeichnung Vetter aussprach. Seine Mienen, in denen Zorn und Verlegenheit gekämpft hatten, hellten sich plötzlich auf, und der konventionelle Handkuß fiel, als er sich nun verabschiedete, etwas weniger förmlich aus, als er beabsichtigt hatte.
[613]Es war Abend und die Arbeiter strömten in hellen Haufen aus den Fabrikräumen ihren Heimstätten zu, alle in kleinen Gruppen, zu dreien, zu vieren, schweigsam, plaudernd, je nachdem. Beinahe alle aber hatten sie die Röcke aufgeknöpft und schritten mit nachlässigem, behaglichem Schlenderschritt vorwärts. Es war nun kein Zweifel mehr: jetzt kam der Frühling mit Macht! Den ganzen Tag hatte die Sonne vom zartblauen Himmel gelacht, der mit lichten Lämmerwölkchen überflogen war, Veilchengeruch erfüllte die Luft, die Erde hatte endgültig das weiße Winterkleid abgeworfen. Von fernher vernahm man das helle Rauschen des Flusses, der, aus hundert frischen Quellen genährt, gegen seine Ufer schäumte.
Von den Gruppen der Heimkehrenden unterhielt sich eine [614] ganz besonders lebhaft. Der unter dem Namen Neubert in die Arbeiterschaft von Josephsthal eingetretene Geheimpolizist Korty hatte seine Zeit gut benutzt und es verstanden, rasch das Vertrauen und die Freundschaft derer zu erwerben, an die er sich anschloß. Jetzt hatte er wieder an jedem Arm einen Genossen, ein einzelner Mann ging nebenher; die vier nahmen die ganze Breite der Dorfstraße ein. Korty hatte eine eigene Kunst, andere zum Plaudern zu bringen. Auch jetzt waren die Gefährten in der redseligsten Stimmung und er horchte stillvergnügt auf das, was sie miteinander sprachen.
„Störche hast jetzt erst gesehen?“ fragte der eine, ein langer, hagerer Mann, dessen Gliedmaßen so lose an seinem Körper pendelten, als gehörten sie nicht zu ihm. „Hast woll geschlafen die letzten zwei Wochen – was? Volle vierzehn Tag’ sind sie schon da, die Adebars – nich, Neubert?“
„Mußt keinen Junggesellen ’nach fragen, Karl Adamski!“ entgegnete dieser mit seinem pfiffigen Schmunzeln.
Die übrigen lachten, und Karl Adamski fuhr sich halb ärgerlich, halb verlegen mit der schwieligen Hand in sein Zottelhaar.
„Na, ich meine bloß, Neubert, weil du immer alles wissen thust und hast deine Augen und Ohren überall! Aber das wird mir keiner glauben wollen und doch hab’ ich’s heute ganz deutlich gehört: nämlich den Vogel Bühlow singen!“
„,Pirol‘ heißt es!“ belehrte einer der andern.
„Na, ich sag’ Bühlow, so nennt man ihm hierzulande. Und gesungen hat er heute!“
„I, Adamski, laß’ dir doch nich auslachen! Wie kann um diese Jahreszeit der Pirol –“
„Und ich hab’ ihn gehört, sag’ ich!“
„Der kriegt erst im Sommer Erlaubnis, zu singen. Mit die Vögel is ’s accurat so wie mit den Menschen – hat alles seine richtige Zeit!“
„Na ja, hab’ mich auch gewundert d’rüber, aber ich hab’ doch meine Ohren am Kopf!“
„Das stimmt! ’n paar ganz nette Löffel noch dazu!“
„Wer weiß, Karl Adamski, was für ’n Vogel dir im Kopp gesungen hat! Es giebt so ’ne Sorte –“
„Danke! Um Mittag? Da bin ich nüchtern. Und ich sag’ euch: hier an der Schneidemühl’, wie ich heut’ mittag nach Hause bin, da, wo unser Oberingenieur wohnen thut, hat es drei-, viermal geklungen: ,Junker Bühlow‘, ,Junker Bühlow‘, ‚Junker Bühlow‘! Aber wie ich mich auch umsah – kein Vogel war zu sehen!“
„Ja, das glaub’ ich! Wenn du den Vogel auch noch hätt’st zu sehen gekriegt, hätt’st dir müssen ’ne Prämie ’für bezahlen lassen!“
„Na, ich merk schon, ihr wollt mir nich glauben!“ sagte Karl Adamski beleidigt. „Einerlei, gesungen hat er doch!“
Das kleine Intermezzo mit dem „Vogel Bühlow“ hatte zwei sehr aufmerksame Zuhörer gehabt, während die andern sich damit begnügten, zu lachen und Karl Adamski zu hänseln.
Korty, der zwischen den zwei Kameraden seinen nachlässigen Schlendergang fortsetzte, als habe das alles für ihn nicht das mindeste Interesse, richtete seine wachsam funkelnden Augen auf den harmlosen Sprecher, der ihm als einer der bravsten, zuverlässigsten Arbeiter der Schneidemühle bekannt war. Getrunken hatte Karl Adamski, von der Fabrik kommend und zum Mittagsessen gehend, keinesfalls, und an irgend welchem Ueberschuß von Phantasie oder an Hallucinationen litt er auch nicht – der Pirol aber konnte um diese Jahreszeit noch nicht rufen – was also hatte das zu bedeuten? Irgend ein Signal vermutlich – aber von wem abgegeben? Und für wen bestimmt?
Der zweite Zuhörer war Oberingenieur Harnack. Durch die rasch zunehmende Dunkelheit gedeckt, war er unbemerkt und unerkannt hinter der Gruppe von Arbeitern hergegangen, langsam, denn er war von der angestrengten Thätigkeit des Tages und von der weichen, erschlaffenden Frühlingsluft sehr müde und ganz in Gedanken vertieft, die ihn auf das Gespräch der Leute erst achten ließen, als zufällig das Wort „Pirol“ an sein Ohr schlug. Da wurde er aufmerksam, hob den Kopf, strengte sich an, um zu hören, und hörte auch. Bei den Worten Adamskis: „Wo unser Oberingenieur wohnen thut!“ fuhr er leicht zusammen. Dann hielt er sich dicht hinter den Redenden und merkte weiter scharf auf, aber die Leute hatten das Thema gewechselt, und vom Pirol war keine Rede mehr.
Das Haus, in welchem Oberingenieur Harnack wohnte, war ziemlich groß, gleichfalls in gefälligem Schweizerstil erbaut und beherbergte den Direktor der Sägewerke samt Familie, den zweiten Ingenieur und einen jungen Techniker, der die Instandhaltung oder Reparatur der Maschinen zu überwachen hatte. Die beiden jungen Herren hielten treulich mit dem Direktor zusammen und hatten auch Harnack des öfteren heranziehen wollen, allein dieser verhielt sich spröde. Der Direktor hatte zwei erwachsene Töchter, und Harnack schwärmte durchaus nicht für Damenverkehr. Er liebte es, abends stundenlang auf seiner „Bude“ fachwissenschaftliche Werke zu lesen, und hatte sich bei den übrigen jüngeren Beamten, die gerade nur thaten, was sie mußten, und ihre Freistunden zum Skat oder zu geselligen Freuden verwendeten, in den Ruf eines ungemütlichen „Büfflers“ gebracht, dessen Abwesenheit man schließlich nicht zu bedauern brauchte.
Heute lagen sämtliche Fenster des Vorderhauses dunkel da. Der Direktor der Walzmühle feierte den Geburtstag seiner Tochter, die ein sehr hübsches Mädchen und der Stern der Kolonie Josephsthal war, durch eine Gesellschaft im nahen „Hotel“. Einladungen waren nach allen Seiten hin ergangen, es sollten lebende Bilder gestellt werden und man wollte tanzen. Die jüngeren Herren hatten Bouquets aus Greifswald verschrieben und eifrig Lackstiefel, Atlasschlipse und Klapphüte revidiert. Man hatte wochenlang offizielle Trauer um den Chef zur Schau getragen – nun war es höchste Zeit, daß man auch endlich einmal wieder mobil wurde. Die hübsche Direktorstochter war das einzige Kind, sehr lebenslustig, sehr wohlhabend, die Eltern machten ein angenehmes Haus. Man amüsierte sich immer famos in der Walzmühle.
Ingenieur Harnack bewohnte drei mäßig große Zimmer im ersten Stock des Hauses. Sie lagen nach dem Garten des Direktors hinaus und boten den Vorteil, daß es sich überaus gut in ihnen arbeiten ließ. Eine ältliche Witwe, die Frau eines vor einigen Jahren verstorbenen Maschinisten, reinigte die Zimmer der unverheirateten Herren, heizte die Oefen und besorgte die Wäsche. Die Mittagsmahlzeiten lieferte das in seiner Art berühmte Hotel der Kolonie Josephsthal, und Kaffee und Thee brauten sich die Herren selbst, was sie indessen nicht hinderte, sich so oft wie nur möglich in die verschiedenen Direktorfamilien einladen zu lassen oder bis in die halbe Nacht hinein im Wirtshaus zu sitzen. Harnack machte dergleichen Extravaganzen nicht mit; seine Kameraden hielten ihn deshalb für geizig. Er mußte gehörige Ersparnisse machen, denn er bezog ein hübsches Gehalt. Oder ob er Verpflichtungen nach auswärts hatte? Auch in Beziehung auf seine Verhältnisse war er äußerst zurückhaltend. Einmal hatte er Besuch von einem jungen Menschen gehabt, aber niemand wußte, wer es gewesen war oder was er gewollt hatte. Es war auch schon eine geraume Zeit her – – inzwischen war Harnack einmal in Hamburg gewesen auf wenige Tage, das einzige Mal, daß er sich Urlaub erbeten hatte. –
Im Flur brannte eine große Gasflamme unter einer Milchglaskuppel, als der Ingenieur die Thüre des Hauses öffnete. Bunte Läuferdecken lagen über den Treppenstufen, die Decken waren hübsch gemalt, die Treppengeländer mit rotem Sammet überzogen. Alles war wohnlich und behaglich eingerichtet, die Beamtenhäuser der Kolonie Josephsthal konnten sich sehen lassen. Gerade kam der junge Techniker, der im zweiten Stock residierte, mit langen Sätzen drei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe herab, den hellen Havelock lose um die Schultern geworfen, die strohfarbenen Glacés noch nicht geknöpft. Hinter ihm her stolperte die Wirtschafterin, die einen großen flachen Korb, mit einem Tuch zugedeckt, im linken Arm trug.
„Abend, Herr Oberingenieur!“ grüßte der Jüngling in atemloser Eile und hob flüchtig zwei Finger an den Hutrand. „Hab’ mich scheußlich verspätet – werden im Hotel schon auf mich warten – mußte aber mein Kostüm anprobieren – – Rokoko, – riesig kleidsam, sag’ ich Ihnen, – wird nett werden! Machen Sie ’n bißchen fixe Beine mit Ihrem Korb, Frau Lunk – da steckt nämlich der ganze Staat drin. Servus, Herr Oberingenieur!“
[615] „Viel Vergnügen,“ erwiderte dieser und stieg die Treppe hinauf.
Im Arbeitszimmer Harnacks lagen Broschüren und Bücher auf einem großen, in die Mitte der Stube gerückten Tisch. Seitwärts stand die Theemaschine mit dem kleinen Spirituskessel.
An der Wand hing eine mäßig große Photographie; zwei ältere, sehr kleinstädtisch und dürftig gekleidete Leute, Harnacks Eltern, waren darauf zu sehen, und zwischen ihnen, an die Kniee der Mutter gelehnt, die Hand aber in der des Vaters, stand ein auffallend hübscher, zierlich gewachsener Knabe, dessen feiner Tuchkittel und breiter weißer Kragen einen grellen Gegensatz zu der ärmlichen Kleidung der Eltern bildete.
Harnack sah auf das Bild, während er die bereitstehende Lampe anzündete; aber er that es ohne Bewußtsein. Seine Gedanken, die, als er den Heimweg antrat, noch das stolze schöne Mädchen umkreist hatten, das ihm so deutlich die Herrin gezeigt hatte und für welches ihn doch eine unüberwindliche Leidenschaft erfüllte, waren durch die aufgefangenen Worte der Arbeiter noch mehr verdüstert worden. Wie geistesabwesend setzte er die Spirituslampe unter der Theemaschine in Brand und holte aus einem Eckschrank kaltes Fleisch, Brot und Butter.
Der zuckende bläuliche Schein der Flamme beleuchtete von unten herauf sein energisches dunkles Gesicht mit den tiefliegenden schwarzen Augen. Er atmete gepreßt, während die buschigen Brauen immer dichter aneinander rückten. Dann setzte er sich, doch er aß und trank nur mechanisch. Bald schob er Teller und Tassen zurück und griff voll Ungeduld nach einer eben angekommenen Broschüre, riß hastig das Kreuzband herab und fing an, die Bogen mit einem Papiermesser aufzuschneiden.
Da erklang es vom Garten her dicht unter seinen Fenstern deutlich zu ihm empor: „Junker Bühlow – Junker Bühlow!“ Das Messer entfiel ihm. Blaß vor Schreck erhob er sich. Mit drei Schritten war er am Fenster, riß den herabgelassenen Vorhang hoch und öffnete den rechten Flügel. Die dunkle Frühlingsnacht, sternlos und schwül, verhüllte alles wie mit einem schwarzen Grabtuch. Nicht einmal die Umrisse der hohen Bäume waren zu erkennen.
„Junker Bühlow – Junker Bühlow!“ tönte es von neuem.
Da rief Harnack mit gedämpfter Stimme herunter: „Reinhold? Wirklich – Reinhold?“
„Wer denn sonst?“ klang es in weit weniger gedämpftem spöttischen Ton herauf. „Sei doch kein solcher Hase! Die ganze Gesellschaft ist ja ausgerückt, ich weiß auch wohin, ’s ist keine lebende Seele in der ganzen Bude, außer dir! Komm’ herunter und laß mich ein!“
Der andere gehorchte wie mechanisch. Er vergaß, das Fenster zu schließen, nahm die Lampe vom Tisch, suchte eine Weile nach dem Hausschlüssel, der, wie immer, an seiner bestimmten Stelle lag, und stieg schweren, langsamen Schrittes die Treppe hinunter.
„Wo bleibst du denn, alte Schneckenseele?“ schalt der Wartende ungeduldig und trat durch die geöffnete Thür ins Haus. „Blei in den Sohlen – hm? Freude über meinen unerwarteten Anblick scheint dich gerade nicht zu beflügeln!“
Harnack antwortete nichts, verschloß sorgsam wieder die Thür und stieg hinter dem Ankömmling die Stufen empor. Oben im Zimmer wehte ihnen ein heftiger Luftzug entgegen, Vorhang und Gardine flatterten durch das offene Fenster.
„Wetter! Hast du’s ungemütlich!“ Mit flinken, geschickten Händen griff der Ankömmling zu und machte Ordnung, doch plötzlich schauerte er zusammen, trotzdem es im Zimmer warm und die Luft draußen mild war. „So! Das hätten wir! Nun steh’ nicht wie der steinerne Gast, alter Will, und sieh deinen einzigen leiblichen Bruder nicht so an, als wär’ dir der leibhaftige Gottseibeiuns auf die Bude gerückt!“
Wilhelm Harnack nahm die dargebotene Hand und hielt sie fest, er konnte aber immer noch nichts sagen. Keine Spur von Ähnlichkeit war zwischen den zwei Brüdern zu finden. Der eben Gekommene, bedeutend jünger als der Ingenieur, war ein schlanker, beweglicher, sehr hübscher Mensch, blond, mit feinen Zügen und hellen, doch unruhigen Augen, sehr elegant nach der neuesten Mode gekleidet. Er war zeitlebens seines älteren Bruders Liebling und Sorgenkind gewesen. Die Eltern hatten diesen spätgeborenen Sohn, eln ungewöhnlich schönes, intelligentes und lebhaftes Kind, geradezu vergöttert. Reinholdchen mußte alles haben, für Reinholdchen mußte alles da sein, wonach er seine begehrlichen kleinen Hände ausstreckte. Es verstand sich von selbst, daß Wilhelm, der „Große“, sich alles abdarbte und dem „Kleinen“ gab; von den Entbehrungen, die Wilhelm durchgemacht, so lange er zu denken gelernt hatte, durfte für den Jüngsten nicht die Rede sein. Das vergrämte Gesicht der Mutter strahlte, wenn sie nur von ihrem „Holdchen“ redete – der schwerfällige, früh gealterte, kranke Vater nickte schmunzelnd, wenn von dem Kleinen gesprochen wurde: „Ja, – der! Der wird’s zu was bringen im Leben! Der muß was Großes werden!“
Sie hatten es nicht mehr erlebt, was aus ihrem Abgott wurde, die Eltern. Frühzeitig von harter Arbeit, Krankheit und Entbehrung aufgerieben, starben sie beide rasch aufeinander, als Wilhelm, der wortkarge, scheue, eisern fleißige Junge, bereits mit siebzehn Jahren im technischen Bureau arbeitete, sich durchhungerte und durchfror, um das „Höhere“ zu lernen, um Ingenieur zu werden.
Der Kleine, kaum siebenjährig, stand neben dem Sterbebett des Vaters, dessen letzter, bewußter Blick „seinem Jungen“ galt; er stand neben dem Sterbebett der Mutter, die mit schon brechenden Augen und versagender Stimme den ältesten Sohn anflehte: „Sorg’ für mein Holdchen! Will, verlaß mein Holdchen nicht!“ Und was der stille, blasse junge Mensch mit einem einzigen festen: „Ja, Mutter!“ versprochen, das hatte er jetzt durch volle sechzehn Jahre redlich gehalten. Der Kleine hatte von der Not und Sorge des Lebens nichts zu spüren bekommen; der Große sorgte wie ein Vater für den jüngeren Bruder, der sich überall beliebt zu machen verstand, schon durch die Art, wie er sein feines Blondköpfchen hob und die Leute mit seinen lichtblauen Augen anlächelte.
Ein kinderloses Paar nahm ihn für weniges Geld in Kost und Pflege, andere steckten ihm Leckerbissen und Spielzeug zu, schenkten ihm hübsche Matrosenblusen und Sammetmützen, „er war ja ein so reizendes Kind, dem alles stand“. Mit „Bruder Will“ sprang der Schelm nach seinem Belieben um; er dachte auch nicht fünf Minuten darüber nach, was der ältere Bruder für ihn that, ob es ihm schwer fiel, für sie beide zu sorgen.
Reinhold war Elektrotechniker geworden, und er hätte sehr tüchtig in seinem Fach werden können, da er Geschick zu allem besaß, was er angriff. Er wollte aber nichts ernstlich angreifen, ihm gefiel es weit besser, „sein Leben zu genießen“, und bald kam Klage auf Klage aus Hannover, wo der junge Mensch seine Studien betreiben sollte, an Wilhelm, der damals eine Stelle in Westfalen hatte. Er reiste selbst nach Hannover, bezahlte Schulden über Schulden und redete dem Bruder ins Gewissen. Holdchen machte ein zerknirschtes Gesicht, fand es „rührend“ von seinem alten Will, ihn „herauszuhauen“, und gelobte Besserung.
Nach einem halben Jahr saß er wieder fest, ließ sich aufs neue vom „lieben alten Will“ loseisen und halb widerwillig mit nach Westfalen nehmen, wo Wilhelm ihm in seiner Fabrik eine Stelle ausgewirkt hatte, um den Bruder unter seiner Aufsicht zu haben. Das war aber auch nicht gegangen; der junge Mensch ließ sich weder zügeln, noch raten; er verschwand nach kurzer Zeit, und zwar unter so bedenklichen Verhältnissen, daß Wilhelm nichts anderes übrig blieb, als gleichfalls seine Stellung zu kündigen und sich eine andere zu suchen, die sich ihm dann in Josephsthal beim Baron von Hofmann darbot. Seitdem hatte er nur mit Aufbietung all seiner Kräfte den jüngeren Bruder vor Not und Schande bewahren können; er gab und gab ohne Aufhören, bis ihm zuletzt der Mut sank und er Reinhold mit der letzten größeren Summe, über die er noch verfügen konnte, nach Amerika schickte. Er hatte ihn selbst in Hamburg aufs Schiff gebracht und seither mit steigender Sorge auf Nachricht gewartet; – auf eine solche Lösung war er nicht vorbereitet gewesen!
„Na, also –“ Reinhold machte seine Rechte wieder frei und schlug dem Bruder mit der flachen Hand ein paarmal kräftig auf den Rücken, „sei so gut und finde zunächst mal deine Sprache [616] wieder! Hab’ ich denn die Pest oder den Aussatz oder – oder – sonst was derartiges, daß du so vor mir erschrickst? Ich war schon mal hier bei dir, so um Mittag herum –“
„Ja, und hast auch da schon den Pirol rufen lassen. Die Arbeiter haben sich gewundert!“ sagte der Ingenieur mit gepreßter Stimme.
„Na, warum soll der Pirol denn nicht mal ausnahmsweise jetzt schon schreien, wenn’s ihm so beliebt?“ fragte der junge Mann mit einem leichtsinnigen Lachen. „Und wenn sich eure Dickschädel von Arbeitern mal zu wundern haben, das kostet ja nichts! Ich hätt’ ja auch am hellen lichten Tag zu dir kommen können, ohne das Zeichen und alles –“
„Du vergißt, daß Herr von Hofmann, der deine Antecedenzien kannte, mir auf die energischste Weise angesagt hatte, du dürftest dich in der Kolonie Josephsthal niemals blicken lassen, ich dürfte nie in persönlichen Verkehr mit dir treten –“
„Na, der hat ja jetzt aufgehört, Gesetze für dich oder sonst wen zu erlassen!“
„Hast du das in den Zeitungen gelesen?“
„Natürlich! Voll genug sind sie ja davon!“
„Und hast du das drüben …. aber,“ unterbrach der Ingenieur sich hastig, „die Zeit war ja so kurz – laß mich nachrechnen, wann ich dich nach Hamburg brachte …. du …. du bist am Ende gar nicht drüben in Amerika gewesen!“
Reinhold steckte die Hände in die Hosentaschen, lehnte sich gegen den Tisch und fing an zu lachen – es klang aber gezwungen genug.
„Natürlich bin ich drüben gewesen, alter Will! Machen wir alles! Kenn’ den ganzen Yankee Doodle unterm Sternenbanner wie meine Tasche! Hab’ auch Glück drüben gehabt! Bißchen gejeut …. na, na, keine Bange, alter Kronensohn! Solider Knopp, der du bist! Warum ich zurückgekommen bin, möchtest du wissen? Na, siehst du, ich kann Gedankenleser werden. Also erstens: Amerika ist nix für ’n Menschen wie ich einer bin. Fremdes Volk, das scharf arbeitet, jawohl – aber in meiner Branche, versteh’ mal, Will, da sind sie uns drüben überm Wasser um zehn Pferdelängen voraus. Das ist nicht sehr ermutigend, wirst du mir zugeben –“
„Aber ich an deiner Stelle, ich hätte dort tüchtig gelernt!“ fiel Wilhelm ein.
„Ja, du an meiner Stelle! Glaub’ ich dir gern! Bloß, daß du und ich, die liebe Gotteswelt aus grundverschiedenen Gesichtspunkten ansehen! Du sagst, wir sind auf Erden, um zu büffeln – ich – Gott, du weißt, arbeiten ist für mich bloß immer ’n sogenannter Genuß gewesen. Und außerdem – na, sieh mal, wer so alles Weibliche voll Hoheit übersieht, wie du es thust, der hat keinen Schimmer davon, wie einem ist, wenn er so über Hals und Kopf in der Verliebtheit drin steckt und meint, nicht leben zu können ohne …. Na, also – da, wo ich zuletzt war, hatt’ ich so ’n .... so ’n .... Verhältnis – ’ne kleine Flamme – oder vielmehr richtiger: ’ne große! Die konnt’ ich da drüben nicht entbehren, die mußt’ ich wieder haben, und da sie nicht übers große Wasser wollte, auch nicht konnte, wegen Familiengeschichten – na, so entschloß ich mich eben kurz und kam schnell wieder zurück!“
„Und – deine – deine Absichten mit dem – dem – Verhältnis, wie du das nennst –“ der Ingenieur sprach so schwerfällig, als müßte er jedes Wort erst suchen „die sind doch hoffentlich ehrlich – ehrlich und solide? Du möchtest dich also verloben –“
„Thu mir den Gefallen, Mensch, und spiel’ dich nicht auf den Moralfatzken hinaus, ja? Steht dir scheußlich, und macht mir nicht die Bohne Eindruck! Uebrigens, wenn’s dich beruhigt: sehr möglich, daß ich mich verlobe und verheirate, so blödsinnig es eigentlich für ’n junges Blut, wie ich eines bin, wäre …. verschwören will ich das nicht!“
„Du müßtest aber doch erst tüchtig arbeiten und dir dann eine neue Stelle suchen. Freilich, deine Zeugnisse – –“
„Sind nicht die glänzendsten! Stimmt, mein Lieber! Aber Stelle suchen? Das eilt vorläufig nicht. Wer momentan so dasteht wie ich – brauchst mich gar nicht so mißtrauisch mit den Blicken anzubohren – ich will nichts von dir, brauch’ dich nicht auszupumpen – armer Kerl, ich hab’s ohnehin bis jetzt oft genug gethan! Kann dir, wenn du’s brauchst, sogar was zurückgeben; kommt mir auf ’n paar tausend Märker schließlich nicht an –“
Der junge Mensch faßte in die linke Brusttasche und wollte ein Portefeuille herausziehen. Sein älterer Bruder fiel ihm hastig in den Arm.
„Laß nur, laß! Ich will nichts wieder haben! Ich versteh’ nur nicht, wie du in der kurzen Zeit – du kannst ja kaum sechs Wochen drüben gewesen sein! Wie du da so viel Geld –“
„Ja, wenn der Mensch einmal Glück hat! Pfennig für Pfennig verdient sich natürlich so was nicht!“
„Aber wie ist denn das zugegangen?“
„Na, nun öd’ mich aber nicht länger mit dem Gefrage! Biet’ mir lieber was zu trinken an! Diese liebliche Frühlingsluft hat noch ’n kalten Nachgeschmack, und ich bin –“
„Bist du hier im ‚Goldenen Lamm‘ abgestiegen?“
„Fällt mir nicht ein! Ich komme von der nächsten Bahnstation, wo ich auch mein Gepäck habe. Wo hast du denn gesteckt, als der Vogel Bühlow heut’ mittag rief? Um die Zeit bist du doch sonst immer in deiner Behausung gewesen!“
„Ich hab’ heute gar kein Mittag gegessen, bin im Maschinenhause gewesen. An der einen Turbine war etwas in Unordnung geraten, ich habe mit zwei Monteuren nachgesehen und gearbeitet …“
„Arbeit ist das Brot des Lebens!“ nickte Reinhold mit spöttischem Lächeln. „Na, wem’s Vergnügen macht, immer los! Wenn du mir also was zu trinken geben willst –“
„Natürlich! Möchtest du Thee?“
„Thee?“ Der Jüngere dehnte das Wort so hin, als hätte es vier bis fünf Silben. „Gott steh’ mir bei, hab’ ich ’nen tugendhaften Herrn Bruder! An dem müssen die kleinen nackten Engelchen im Himmel ihre unschuldige Freude haben! Laß mal sehen, was da im Wandschrank steckt!“
Er schlug die beiden Thüren des kleinen, in die Vertäfelung eingelassenen Schränkchens auf, streckte suchend den Kopf vor und kam gleich darauf mit zwei Flaschen im Arm an den Tisch zurück.
„Die ganze Ausbeute! Mager, alter Will – heillos mager! Na – müssen uns einzurichten suchen. Hier alter Arrak – hältst du dir wohl für Krankheitsfälle, was? Und dies Sherry, ganz anständige Marke wenigstens! Also, prosit!“
Er hatte sich wieder in den zurückgeschobenen Stuhl geworfen, füllte ein herbeigeholtes Wasserglas bis an den Rand und trank es mit langen Zügen leer.
„Nicht schlecht. Hol’ dir doch ein zweites Glas und thu’ mir Bescheid!“
„Entschuldige mich. Ich bin kein Weintrinker, und um diese Stunde schon gar nicht. Sei vernünftig, Hold, trink’ auch nicht weiter, das ist ein sehr schwerer Wein!“
„Keine Sorge!“ Das Glas wurde von neuem gefüllt. „Ich kenn’ solchen Sherry, und ich kenn’ auch mich! Der thut mir nichts. Wenn ich dir den Beutel nicht leer mach’, thu’ ich’s wenigstens mit dieser Flasche. Dein Wohl, brüderliche Liebe!“
Wilhelm Harnack saß dem Bruder gegenüber, nur durch die Breite des Tisches von ihm getrennt. Mit seinen scharfen Augen – ihre Spürkraft war in der Kolonie Josephsthal sprichwörtlich geworden – forschte er in dem Gesicht des jungen Menschen, den er so sehr geliebt, dem er so viel geopfert hatte. Immer noch war es ein hübsches Gesicht mit einnehmenden Zügen, aber da war etwas in den Augen, was den Beobachter beunruhigte, ein starrer, bleierner Blick, wie er ihn oft bei Gewohnheitstrinkern im Anfangsstadium gesehen hatte.
„Na – was studierst du denn so andächtig an mir herum? Willst wohl taxieren, ob ich den Weiberchen noch gefährlich werden kann? Aber sehr, will ich dir sagen! Hab’ sie alle am Bändel!“
„Und trotzdem auch noch so viel Glück im Spiel?“ zwang sich der ältere Harnack zu scherzen.
„Ich? – Aber ja natürlich! Das dämliche Sprichwort! Ist ja alles Kaff! Ich pfeife d’rauf! Va banque hier va banque dort – nur vorwärts!“
„Wenn du dabei nur nicht scheiterst, Reinhold!“
[618] „Ach, unk nicht, ’s ist wirklich nicht schön anzuhören! Lieber erzähl’ mir was von hier, von deinem Leben! Was macht dein Freund Hagedorn?“
Der Ingenieur zuckte die Achseln und machte finstere Augen. „Warum fragst du nach dem?“
„Nun – weil du mir von ihm damals in Hamburg erzählt hast, ihn deinen Dorn im Auge nanntest. Ist er noch hier? Aber er geht jetzt natürlich, nicht wahr?“
„Nein! Er bleibt!“
„Was der Teufel! Bleibt hier? Protegiert ihn wohl gar der englische Neffe, der hier jetzt am Ruder ist?“
„Er bleibt!“ wiederholte der Ingenieur als einzige Antwort.
„Na, also dann gehst du?“
„Nein, ich bleibe ebenfalls!“
„Bleibst ebenfalls?“ Reinhold goß sich den Rest aus der Sherryflasche in sein Glas und leerte es bedächtig. „Versteh’ ich nicht! Ist mir zu hoch! Redest wie ’ne Sphinx. Na, mußt ja wissen, warum du’s thust!“
„Du, du meintest wohl,“ begann der Aeltere zögernd, „wenn ich auch ginge, könnten wir beide, ich und du, es wieder mal zusammen an einem Etablissement versuchen? Oder – oder – Herr von Hofmann hätte dich allerdings nie hierher genommen – er wußte vieles von dir und leider nichts Vorteilhaftes! – aber jetzt, da er tot ist – – vielleicht, wenn ich mit Mr. Whitemore, vor allem mit …. mit …. ich meine, wenn ich für dich redete …. vielleicht, daß du jetzt hier, in der Kolonie Josephsthal, eine passende Stellung finden könntest!“
„Hier? – Ich? – Bist du verrückt?“
Das kam mit einer so unmotivierten Heftigkeit, mit einem so unverhohlenen Ausdruck des Entsetzens heraus, daß Wilhelm Harnack erschrak. Sein Bruder war aufgesprungen, hatte ihm die Frage gleichsam ins Gesicht geschleudert und blitzte ihn aus so verstörten Augen an, als sei ihm eine tödliche Beleidigung mit dieser Zumutung angethan worden. Auch der Aeltere hatte sich unwillkürlich erhoben, der leidenschaftliche Ausbruch seines Bruders war ihm unverständlich, bis ihn der Gedanke einigermaßen beruhigte, daß die große Menge des starken Weines jetzt doch ihre Wirkung übe und den jungen Menschen momentan unzurechnungsfähig mache.
„Wie kannst du so aufgeregt sein?“ sagte er beschwichtigend. „Ich meinte ja nur, wenn du dich um eine neue Stellung – du mußt doch irgend eine Beschäftigung –“
„Und ich sag’ dir, ich huste auf Stellen und Beschäftigung!“ Reinhold sprach immer noch in erregtem Ton. „Hab’ ich gar nicht nötig! Geld wie Heu! Brauch’ mich von keinem hochnäsigen Chef herumkommandieren zu lassen, um mich bei den verflixten Maschinen und Experimenten halb blödsinnig zu tüfteln. Hol’ alles der Henker! Sei du meinetwegen glücklich bei deinem Amtseifer und werde selbst zur Maschine …. ich thu’ nicht mehr mit! Ich hatte gehofft, ich würde dich loseisen können hier von deiner gepriesenen Kolonie Josephsthal –“
„Loseisen? Du – mich? Und warum?“
„Weil sich hier alles jetzt geändert hat – weil – oder fesselt dich blöden Schäfer etwa gar die ‚schöne Müllerin‘?“
„Von wem sprichst du?“
„Das weißt du doch alleine, also warum das Gefrage? Sie haben sie hier in der Gegend so getauft und nennen sie allesamt mit dem Namen, weil sie doch ihre fünf, sechs Mühlen geerbt hat.“ Er zog die zweite Flasche zu sich heran und goß sich ein. „Nun – also, mir kann’s recht sein – wenn sie so schön ist – – ihr Wohl!“
„Halt, halt – Reinhold! Sieh zu, was du thust! Das ist reiner Arrak!“
„Ach, mach’ doch keine Geschichten! Auch der thut mir nichts mehr! Das lernt sich alles, wenn man –“
Er vollendete nicht, trank ein paar tüchtige Züge und schüttelte sich.
„Scharf, aber thut doch gut! Ist dir wohl neu an mir, daß ich so viel vertragen kann? ,Es wächst der Mensch mit seinen höhern Zwecken!‘ Und vor allen Dingen werd’ ich dir etwas sagen, weiser Will –“ Reinhold knöpfte sich den Rock auf und fuhr sich mit dem Zeigefinger hinter den Hemdkragen, als würde es ihm zu warm im Zimmer – „merk dir’s: das waren kluge Leute, die den Wein und was zu der Sorte gehört, Sorgenbrecher nannten. Nämlich, das ist er wirklich! Kein probateres Mittel auf der Welt, um alle Quälereien hinter sich zu werfen!“
„Hast du denn so besonders viel Sorgen und Quälereien?“ fragte der Ingenieur und sah aufmerksam in das Gesicht seines Bruders, das sich lebhaft zu röten und oben an den Haarwurzeln kleine Perltröpfchen zu zeigen begann.
„Na, welcher Mensch hat die denn nicht? Bloß immer auf Rosen und Vergißmeinnicht durchs Leben zu tanzen, das ist doch am Ende nur wenigen beschieden. Und wenn man ein paar Flaschen von dem Sorgenbrecher im Leib hat – siehst du, dann kann man auch schlafen, fest und ungestört, und das will gleichfalls was heißen!“
„Seit wann schläfst du denn schlecht? Du mit deinen vierundzwanzig Jahren? Als wir zusammen drüben im Westfälischen waren, da hab’ ich dich des Morgens kaum aus dem Bett bekommen, hab’ dich mit Wasser anspritzen müssen! Und abends bist du mir oft mitten im Reden eingeschlafen. Ich bin so viel älter als du, aber wenn ich mich tagüber müde gearbeitet habe, dann fallen mir schon um Zehn, halb Elf die Augen zu –“
„Ja, ja, Prediger in der Wüste! Müde gearbeitet! Natürlich! Gilt wieder mir und meinem Nichtsthun! Triefst ja förmlich von Lebensweisheit! Aber die Zeiten ändern sich eben und mit ihnen die Menschen! Auch ich hab’ mich geändert –“
„Nicht zu deinem Vorteil, Hold, laß mich’s dir ehrlich sagen! So wie jetzt hab’ ich dich doch noch nie – – du trinkst jetzt nicht mehr. Reinhold, keinen Tropfen, sag’ ich dir! Gieb die Flasche her!“
Mit einem wüsten Lachen verbarg der Jüngere die Flasche hinter seinem Rücken.
„Glaubst wohl, ich lief’ wieder als zweijähriges Baby mit ’m weißen Kinderschürzchen herum, und der große Bruder Will wäre von den Eltern dazu gesetzt, mich zu bemuttern? Nichts da, Freundchen! Das Holdchen geht jetzt seine eigenen Wege, und kuriose Augen würdest du machen, wenn du zuschauen könntest, wie die manchmal aussehen!“
Er setzte statt des Glases die noch halbvolle Flasche an den Mund und trank. Wilhelm stürzte auf ihn zu und suchte ihm die Flasche zu entwinden. Er hatte starke, geschickte Hände und einen eisernen Griff. Mit einem halb unterdrückten Fluch ließ Reinhold endlich los, die Flasche zerbrach, stürzte zu Boden, und der scharfe Geruch des starken Arraks verbreitete sich rasch im Zimmer.
„Tölpel, der du bist! Was haben wir jetzt davon?“
„Besser noch so, als du hättest das Zeug in dich hineingegossen!“ entgegnete Wilhelm finster. „Hab’ ich dir mit der Flasche die Hand verletzt?“
„Pah, eine kleine Schramme! Nicht der Rede wert!“
„Gieb acht, daß nichts hineinkommt. Laß mich ein reines Tuch herumbinden!“
„Dummes Zeug!“ Der junge Mann riß einen feinen, hellseidenen Foulard aus seiner Brusttasche und wickelte ihn rasch um die Linke, deren innere Fläche einen blutenden Riß zeigte.
„Sei nicht eigensinnig, Hold!“ bat der Ingenieur jetzt in aufrichtiger Besorgnis. „Laß mich die Wunde wenigstens ansehen. Aus solchen anscheinenden Kleinigkeiten kann so leicht etwas Schlimmes entstehen. Wenn du etwas kaltes Wasser –“
„Hörst du nicht auf der Stelle mit dem Gefasel auf, so geh’ ich im Augenblick! Möchtest mir wohl gleich den berühmten Chirurgen der Kolonie Josephsthal herholen, damit er sein Kunststück an mir macht?“
„Doktor Petri ist ein tüchtiger Arzt, über den niemand zu spotten hat!“ sagte Harnack ernsthaft. „Wenn er den Baron Hofmann nicht hat retten können, so ist’s wahrhaftig nicht seine Schuld gewesen. Es war eben ein hoffnungsloser Fall!“
„Du – – du hast den Baron noch gesehen?“ fragte der jüngere Bruder stockend und halb widerwillig, die Augen beharrlich auf das seidene Tuch, das seine linke Hand umschloß, geheftet.
[619] „Gewiß, und den Anblick werde ich Zeit meines Lebens nicht vergessen!“ Der Ingenieur war ganz in die Erinnerung versenkt, die schwarzen Brauen schoben sich zusammen und bildeten eine einzige Linie auf der Stirn. „Hätte der feige Schuft ihn wenigstens auf der Stelle totgeschossen, es wäre nicht annähernd so entsetzlich gewesen! Aber nun, tagelang wie eine lebendige Leiche dazuliegen, mit diesem wächsernen Totengesicht, die Binde um die Stirn, regungslos wie ein Steinbild hingestreckt, und diese bläulichen Lippen, die sich von Zeit zu Zeit öffneten, um das schauerliche Stöhnen auszustoßen, das jedem, der es anhören mußte, durch Mark und Bein ging – –“
Er redete nicht weiter, denn zufällig, während der letzten Worte, war sein Blick auf den Bruder gefallen, und der stand vor ihm, erdfahl im Gesicht, aus hohlen, stieren Augen ihn anstarrend, mit bebenden Lippen, die keines Wortes mächtig waren – „Reinhold! Um Gott! Was fehlt dir? Das kommt von diesem unvernünftigen Trinken! Oder ist etwa die Schnittwunde in der Hand –“
Er kam dicht an ihn heran, aber der andere schob ihn unsanft zurück.
„Nichts – gar nichts, was soll mir denn fehlen? Es ist bloß … wie du einem so gräßliche Dinge erzählen kannst! Ich kann so was nun mal nicht anhören! Schon als Kind hab’ ich das nie gekonnt – du wirst dich besinnen …. so besinn’ dich doch – ich hab’ es nie vertragen können!“
Wilhelm besann sich freilich nicht darauf, aber er nickte, um den noch immer gänzlich Verstörten zu beruhigen.
„Siehst du! Also du erinnerst dich! Nur gut, daß du dich erinnerst, Will. Mir ist’s bis auf die neunte Haut gegangen, pfui, ich werd’ das Bild nicht mehr los!“ Ein Schauer packte und schüttelte ihn, während er sprach. Er wickelte hastig das Tuch von der Hand und trocknete sich die Stirn, auf welcher der Schweiß in großen Tropfen stand.
„Wenn du schon von meiner Schilderung so mitgenommen wirst, so dank’ dem Schicksal, das dir solchen Anblick ersparte; ich werd’ ihn nie vergessen. Und zu denken, daß es dem Staatsanwalt und den Richtern immer noch nicht gelungen ist, den Mörder zu ergreifen, so große Mühe sie sich auch geben – – Willst du fortgehen, Reinhold?“
„Allerdings! Da du mich von nichts anderem zu unterhalten weißt als von Mördern, lebendig Toten und Staatsanwälten –“
„Mein Gott, es ist doch natürlich, daß man an einem Ort, wo vor kurzem ein so schweres Verbrechen begangen worden ist, darüber spricht – ich noch dazu, der ich so nahe beteiligt bin –“
„Du? Beteiligt?“
„Nun ich war doch Herrn von Hofmanns erster Beamter, sein Vertrauter in allen Dingen, er hat mich oft seine rechte Hand genannt, und ich bin das auch gewesen. In der ganzen Kolonie stand ihm kein einziger so nahe wie ich!“
„Schön – ja, ich glaub’ es! – Also – adieu denn!“
„Du willst wirklich fort?“
„Und zwar so rasch als möglich.“
„Und wann seh’ ich dich wieder?“
„Ich – das – ich weiß noch nicht – ich schreib’ dir vielleicht – oder – oder du hörst sonstwie von mir. Das findet sich ja alles!“
„Und du bist wirklich ausreichend mit Geld –“
„Ja, genug – übergenug! Laß nur, laß – ich finde den Weg – darfst nicht mit mir kommen –“
Der Ingenieur ließ es sich nicht nehmen, den Bruder dennoch hinunterzubegleiten. Er hätte noch viel zu sagen und zu fragen gehabt, bei der offenbaren Verstörtheit des Trunkenen unterließ er es aber. Ein paar hastige Abschiedsworte – ein kaum fühlbarer, scheuer Händedruck …. und nach einer Minute war Wilhelm Harnack wieder oben in seinem einsamen Zimmer, wo die zertrümmerte Flasche am Fußboden lag und ein widerlicher, betäubender Dunst die Luft erfüllte. Er riß die Fenster auf und beseitigte die Scherben. Als er sich hinauslehnte, um nach dem Bruder zu sehen, war dieser bereits im Dunkel verschwunden.
Waldweben! Man konnte es nicht Wind nennen, was da so lind durch die Bäume strich; wie ein Säuseln war’s, wie ein wohliges, sanftes Atemholen des Waldes, der lange in der Erstarrung gelegen hatte und nun aufgewacht war zu neuem Leben. Er konnte dankbar sein, der Wald – viel, viel hatte der Lenz für ihn gethan, hatte goldene Sonnenstrahlen geschickt, die das Eis tauen ließen und den Schnee schmolzen, hatte warme, fächelnde Luft gespendet und stundenlangen milden Regen. Nun trieb, nun wuchs es mit aller Macht, überhauchte mit zartem Grün den Erdboden, die Zweige und Aeste; es hing weiche, schaukelnde Weidenkätzchen an die geschmeidigen Aeste, rollte all die aneinandergedrückten Triebe zu krausen, kleinen Blättern auf und drang vor bis ins Herz des Waldes, die tiefe Einsamkeit zu schmücken.
Die Anemonen, die Windröschen blühten hier zu Hunderten, um den Fuß alter Linden und Buchen geschart; Maiblumen waren üppig emporgeschossen, da und dort grüßten aus ihrer grünen Hülle die weißen Glöckchen. Erquickender Duft stieg auf von dieser jungen, üppig emporschießenden Blumenwelt. Frisches lichtes Grün wiegte sich an den Bäumen im Sonnenlicht, und in den Zweigen hüpfte und flatterte es und sang werbende Liebeslieder; emsig bauten die Vögel unterm schützenden Blätterdach ihr Nestchen, während buntstrahlende Schmetterlinge hinauf in die blaue Luft schwebten.
Die breiten Wege, die Schneisen, die sich durch die sorgsam gehegten Forste ziehen, nehmen hier ein Ende. Ein schmaler Pfad nur windet sich aufwärts zwischen Brombeergestrüpp und Himbeerbüschen. An ihnen hängt noch der Morgentau in klaren Tropfen, denn die Sonne ist noch nicht bis hierher gedrungen, sie kommt erst gegen Mittag.
Von dem letzten Ausläufer des breiten, gebahnten Weges her ertönt ein Wiehern und Schnaufen. Ein Pferd wird sichtbar, ein zweites, und ein gutes Stück hinter den beiden ein drittes. Die arabische Schimmelstute macht den Anfang. Sie hat schlanken Trab gehen müssen bis hierher, einmal sogar kurzen Jagdgalopp; sie hat nichts dawider, jetzt so sacht zu schreiten. Sie käut ab und wirft den Kopf, daß die weißen Schaumflocken fliegen; der spiegelglatte, feingebogene Hals, den die Hand der Reiterin beruhigend klopft, hebt und senkt sich kokett mit dem zierlich aufgesetzten Köpfchen, und die Füße setzen sich tänzelnd und werfen sich aus dem Gelenk vor, als ob die Stute den spanischen Schritt ausführen wolle.
Der lichte Braune, der hinter ihr dreingeht, bekommt Lust, das nachzuahmen, darf aber nicht und muß es im Lauf dieser letztvergangenen Stunde zum vierten-, fünftenmal fühlen, daß er einen sehr exakten Reiter trägt, der wohl seinen eigenen Willen durchsetzt, die Launen seines Pferdes aber nicht zu dulden geneigt ist. Es gab sogar beim Aufsitzen einen kleinen Kampf, der Braune hatte lange gestanden und wollte doch zeigen, daß er Temperament besaß; aber in zwei Minuten merkte er, wer hier zu regieren hatte.
Tommy, des verstorbenen Baron Hofmann englischer Groom, der in gemessener Distanz folgte, hatte seine stille Genugthuung an beiden Reitern. Namentlich an dem Herrn. Tommy war Trainer gewesen, auch Jockey, er verstand sich auf seine Sache. Dieser Mister Hagedorn war ihm eine wahre Augenweide: leicht in der Hand – der Lichtbraune zeigte nicht einen Schweißtropfen und war so frisch, als sei er eben erst aus dem Stall gekommen – elegant im Sitz und vollkommen stilgerecht in der Haltung, mit dem unnachahmlichen Chic des gewiegten Herrenreiters, der sattelgerecht ist und sich auf jede Gangart versteht. Tommy würde gern einmal mit Mister Hagedorn über Pferde ins Gespräch kommen, noch lieber ihn freilich bei einem Hindernisrennen sehen, auf einem so tadellosen Vollblut, wie er, der Jockey, sie früher „in der Mache“ gehabt hatte – – das müßte ein Anblick sein!
Auch die Miß – das deutsche „Baroneß“ wollte dem Engländer schwer über die Zunge – saß korrekt im Sattel und regierte ihre „Primrose“ sicher und anmutig; was nicht immer leicht war. denn „Primrose“ hatte Capricen, war nervös und wurde leicht scheu; Mister Hagedorn hatte schon ein paarmal seine Hand ausgestreckt und die Schimmelstute bei der Kinnkette genommen.
[620] Die tanzenden Sonnenlichter, die goldig über Alix’ Gestalt hingegaukelt waren und ihr Haar unter dem niedrigen schwarzen Hütchen aufglühen ließen, folgten den Reitern nicht mehr bis hierher, lichtgrüne Dämmerung wob nun ihre Schleier um sie. Die jungen Leute hatten zuvor die Pferde tüchtig ausgreifen lassen, dazwischen lebhaft miteinander geplaudert; nun schwiegen sie beide, wie auf Verabredung, und lauschten dem Herzklopfen des Waldes. Ein junges Reh tauchte rechts von ihnen im Gebüsch auf, duckte sich einen Augenblick, blieb dann stehen und äugte herüber. Deutlich waren die klaren Lichter zu erkennen, wie es stand und witterte, bis es plötzlich mit zwei, drei hastigen Sprüngen verschwand. Die Farnwedel und hochgeschossenen Gräser, zwischen denen es gestanden hatte, zitterten und wankten noch eine ganze Weile.
„Haben Sie gesehen?“ fragte Hagedorn lächelnd, mit halber Stimme.
Alix nickte. „Das wunderhübsche kleine Tier! Sehen Sie, für die Jagdpassion habe ich nun gar kein Verständnis, obgleich ich gestehen muß, daß mir Wildbret gut schmeckt. Aber hinter einem wehrlosen Geschöpf her sein und alle Listen anwenden, um es zu töten – – – nein, ich könnte es nicht! Aber, bitte, sollen wir hier noch weiter? Der Weg ist so schmal, und hier verliert er sich ganz …. müssen wir denn nicht umkehren?“
„Wenn Sie die Aussicht sehen wollen, von der ich Ihnen sprach, nicht. Es ist allerdings kein regelrechter Weg da, aber man kommt doch durch. Ganz zuletzt werden wir wohl absteigen müssen. Lassen Sie ,Primrose‘ links gehen und geben ihr, bitte, die Zügel etwas freier; sie verträgt es nicht, so kurz gehalten zu werden.“
Alix gehorchte schweigend.
„Ist es nicht merkwürdig und traurig,“ begann sie von neuem, „daß ich mich auf dem Grund und Boden, der meine Heimat ist, so gar nicht zurechtfinde? Daß Sie mir hübsche Aussichtspunkte zeigen, mir die Wege weisen müssen, während es umgekehrt sein sollte?“
„Es hat wohl nicht an Ihnen gelegen, daß es so kam?“
Alix schüttelte den Kopf. „Papa wollte mich nicht hier in Josephsthal haben. Er konnte mich nicht brauchen. Er baute viel, hatte immerzu neue Projekte und Ideen, da fand er keine Zeit für mich, und so bin ich meiner Heimat eigentlich entfremdet.“
„Sie werden sich wieder heimisch machen, einleben! Wenn man so jung ist, fällt das nicht so schwer, und Sie lieben ja Ihre Heimat, das sehe ich!“
„Primrose“ bekam einen lang herabhängenden, geschmeidigen Birkenzweig ins Gesicht und prallte zurück. Sie schnob hörbar und begann hinter sich zu treten. Doch Alix verlor nicht die Fassung.
„Sehen Sie, so empfindlich ist sie gleich! Nein, bitte, lassen Sie“ – Hagedorn hatte die Hand nach dem Zügel ausgestreckt – „ich muß doch allein mit ihr zurechtkommen, und solche Unarten dürfen ihr nicht ungestraft durchgehen!“
Er blieb ein wenig zurück und sah beifällig zu, wie Alix das aufgeregte Pferd meisterte. Sie sprach zu ihm, klopfte ihm beruhigend den schlanken Hals, hob sich leicht im Sattel und bekam schließlich die Stute so weit, daß sie nahe an dem schaukelnden Birkenzweig, der sie so erschreckt hatte, vorüberging und nur durch beschleunigtes Atmen, das ihr die Nüstern blähte, ihre innere Erregung zeigte.
Alix, deren Gesicht sich während der Anstrengung leicht gerötet hatte, wandte sich im Sattel zurück und sagte plötzlich:
„Sie haben mir übrigens noch kein Wort darüber gesagt, wie Ihnen Ihre neue Stellung gefällt!“
„Nein,“ entgegnete Raimund einigermaßen zerknirscht, „das that ich nicht, und Sie haben es mir selbstverständlich als schreienden Undank ausgelegt!“
„Gar nicht! Sie mußten sich ja erst einarbeiten - zurechtfinden, Ihre Umgebung kennenlernen, ehe Sie sich ein Urteil bilden konnten. Ich habe absichtlich nicht früher danach gefragt.“
„Aber jetzt möchten Sie es wissen?“
„Natürlich möchte ich!“
„Und ich soll die reine, ungeschminkte Wahrheit sagen?“
„Darum bitte ich!“
„Also denn“ – er lenkte sein Pferd, so gut es auf dem schmalen, holperigen Wege gehen wollte, neben das ihre und hielt den Blick auf die Zügel gerichtet, wie wenn er sehr achtsam darauf sein müsse. „Ich kann gegen den Direktor und gegen die andern Beamten, mit denen ich zu thun habe, nichts sagen, sie sind höflich und sogar rücksichtsvoll gegen mich, denn von meinen kaufmännischen Leistungen werden sie schwerlich sehr entzückt sein. Niemand chikaniert mich, aber – –“
„Aber?“ wiederholte Alix lächelnd.
„Aber,“ der junge Mann hob leicht die Achseln, „ich bin eben leider ich – und bleibe es! Ich habe meine Musikleidenschaft von einem Comptoirsessel auf den andern mitgenommen, und da sitze ich nun fest mit ihr, und alle herzliche Dankbarkeit für die mir erwiesene gütige Fürsorge hilft mir darüber nicht weg!“
„Ja,“ sagte Alix gedankenvoll, „das kann ich mir sehr gut denken – wie könnte es eigentlich auch anders sein?“
„Baroneß sind zu gütig –“
„Wo in aller Welt ist dabei meine Güte? Etwas Verständnis für Ihre Situation – das ist alles! Ueberdies wünschte ich, Sie sagten nicht ‚Baroneß‘ zu mir! Das klingt so ungeheuer förmlich, und wir sind doch Verwandte!“
„Gnädiges Fräulein also?“
„Auch nicht! Finden Sie, daß das besser oder weniger ceremoniell klingt? Können Sie mich nicht einfach beim Vornamen nennen?“
„Es ist sehr liebenswürdig von Ihnen, mir das zu gestatten. Dann würde ich aber Alexandra sagen, denn verstümmelte Namen mag ich nicht!“
„Gut! Und ich nenne Sie Raimund!“
Auch das noch! sagte sich Hagedorn mit einer Art bittern Humors. Wenn ich nicht wüßte, daß all dies freundliche Entgegenkommen nichts wie ein Pflaster auf die Wunde ist, die ich so unvorsichtig war, ihr zu entdecken – ich könnte mir wahrhaftig einiges darauf zu gute thun!
Der Weg wurde jetzt so eng, daß die beiden Pferde nicht mehr nebeneinander bleiben konnten. Hier stand Laub- und Nadelholz wahllos gemischt, die dunkle ernste Tanne neben der weißstämmigen, zierlichen Birke, die blaugrüne Kiefer neben der lichtgrünen Buche, die hochaufgeschossene Lärche, umrahmt von schlanken Eschen. Schon blitzte da und dort zwischen den Baumstämmen der Wasserspiegel auf.
„Hier müssen wir absteigen, Cousine!“ sagte Hagedorn, indem er von seinem Braunen heruntersprang. „Ich darf Ihnen wohl helfen!“
Nicht eine Sekunde länger, als nötig war, hielt er die schmiegsame Mädchengestalt in den Armen, aber doch ging ein heißer Schauer über ihn hin, als er, sie vorsichtig zu Boden gleiten ließ.
„Halten Sie die Pferde, Tommy!“ sagte Alix, über die Schulter zurückgewendet, zu dem Reitknecht, dann stieg sie an des jungen Mannes Seite vollends die leichte Anhöhe empor.
Sie hatten es nicht weit mehr, aber es war ein beschwerliches Gehen zwischen den hier sehr dicht stehenden Bäumen hindurch. Tief versank der Schritt in dem Blätterlager, das vergangene Herbste aufgehäuft, und dennoch mühte sich die junge Vegetation, auch hier das Alte, das Ueberlebte zu verdrängen und sich siegreich zu behaupten. Junger Graswuchs sammelte sich dicht um die Baumstämme, weiche, tiefgrüne Moospolster breiteten sich über bloßliegendes Wurzelgeflecht. Nun standen sie oben. Sonnenüberschienen lag das Haff; auf seinen sanft gekräuselten Wellen tanzten Goldfunken auf und nieder. Gleich einem weißen hingeschlängelten Band flimmerte drüben die Nehrung, auf der man die kleinen Ortschaften deutlich liegen sah; aus manchen Häuschen stiegen Rauchwölkchen zum klaren Himmel aufwärts. Da und dort schaukelte ein Kahn über die leicht bewegte Wasserfläche, kleine weiße Segel tauchten gleich Schwänen hinauf und hinab, und drunten auf dem schmalen Streifen Strand, zu dem der Wald hier ziemlich steil abfiel, gingen ein paar flachsköpfige Kinder umher und lasen Muscheln und Steinchen auf.
[622] „Wie schön!“ sagte Alix und sog durch die halboffenen Lippen die feuchte, weiche Frühlingsluft ein.
„Nicht wahr!“ fragte ihr Begleiter zurück. „Aber Baroneß – – Pardon, Alexandra, Sie müßten einmal zum Sonnenuntergange hier sein! Der ist schöner noch als am Meer, weil wir hier durch die Nehrung, die sich davorschiebt, die doppelte Spiegelung haben, und das giebt einen Farbenschmelz, eine Glut und Pracht, daß man mitten in den Süden hinein sich versetzt fühlt. Wenn die Damen nicht seekrank zu werden fürchten, fahre ich Sie und Frau von Sperber einmal dort hinüber – mit dem Ruderboot, wenn Ihnen das sicherer ist, noch lieber freilich thät’ ich’s mit dem Segel!“
„Natürlich! Für Frau von Sperber kann ich nicht einstehen, aber ich bin ganz seetüchtig. Ich würde auch lieber segeln! Was sind das für Kinder dort unten?“
Raimund bog sich hastig vor, um besser sehen zu können.
„Gewiß aus einem von den Dörfern hier weiter unten – aus der Kolonie Josephsthal sind sie keinesfalls!“
„Sie kennen wohl viele von den Josephsthaler Kindern?“
„Beinahe alle, wenigstens dem Ansehen nach. Das beruht darauf, daß die kleine Bande mich kennt, wahrscheinlich vom Zweirad her. Ich genieße eine Art von Popularität wenigstens bei diesem Teil der Bevölkerung; mancher semmelblonde Wicht, der kaum laufen und reden kann, schreit mir, wenn ich des Weges daherkomme, sein: Tag, Herr Hagedorn! zu.“
„Und diese Art von Beliebtheit ist Ihnen angenehm, nicht wahr?“
„Eigentlich ja! Ich habe Kinder gern, und es macht mir Spaß, sie zu beobachten. Der künftige Mensch mit seinen Zu- und Abneigungen kommt in den kleinen Geschöpfen oft in der drolligsten Weise zum Vorschein, und das hat auch seine ernste Seite. Man macht da so nebenher feine psychologischen Studien!“
„Ich wäre Ihnen dankbar,“ sagte Alix nach einem leichten Zögern, „wenn Sie, der Sie doch schon seit längerer Zeit hier und gewiß ein ganz guter Beobachter sind – bitte, dies nicht als ein Kompliment aufzufassen, es ist durchaus nicht so gemeint! – wenn Sie mir also einigen Aufschluß über die Leute, aus denen sich die Fabrikbevölkerung zusammensetzt, geben wollten. Sind sie gutartig, leicht oder schwer zu lenken?“
Raimund wiegte zweifelnd den Kopf. „Das läßt sich nicht so ohne weiteres beantworten. Unter einen einzigen Gesichtspunkt lassen sich mehrere hundert Arbeiter absolut nicht bringen. Ich finde, man geht heutzutage darin vielfach zu weit. Eines freilich pflegt überall zuzutreffen: der gute Geist unter den Leuten hängt wesentlich davon ab, ob gute oder schlechte führende Elemente vorhanden sind.“
„Selbstverständlich! Und wie verhält es sich nun damit hier bei uns in Josephsthal?“
„Im ganzen genommen günstig. Ihr Herr Vater hatte für bedenkliche Elemente, die sich einfanden, einen sehr raschen, sichern Blick und einen erbarmungslosen Griff, sie alsbald zu entfernen. Da war vor kurzer Zeit zum Beispiel hier ein Monteur – Kraßna hieß er, von Geburt ein Pole – ein tüchtiger Arbeiter, brachte gute Zeugnisse, fing aber an zu hetzen, kleine Broschüren auszuleihen, Winke zu geben, da und dort hätten es die Leute besser, schließlich enthüllte er sich geradezu als Anarchist, und sobald Ihr Vater davon erfuhr, wurde er entlassen. Allzuviel Boden hatte er nicht hier gewonnen; im allgemeinen erhitzt sich der hiesige Menschenschlag nur schwer. Aber eine kleine Gemeinde hatte der Pole doch schon; es giebt ja immer Leute, die unzufrieden sind, namentlich unter den jungen, unverheirateten Männern; die Familienväter sind vorsichtiger, weil für sie zuviel auf dem Spiel steht!“
„Und dieser Kraßna – wo ist er geblieben? Was ist, nachdem mein Vater ihn entlassen hatte, aus ihm geworden?“
Alix fragte das mit einer so gepreßten Stimme, als sei ihr der Atem plötzlich ausgegangen. Alles Blut war aus ihrem Gesicht gewichen, und die Hand, mit der sie in die Falten ihres schwarzen Reitkleides griff, zitterte.
Raimund Hagedorn begriff sie auf der Stelle und schüttelte abwehrend den Kopf.
„Nein, nein, Cousine, was Sie denken, trifft nicht zu. Kraßna blieb nach seiner Entlassung noch kurze Zeit in der hiesigen Gegend, wandte sich dann nach Mecklenburg und nahm dort eine Stelle an. Man hat ihn nach – nach dem Unglück sogar gerichtlich vernommen, er hat aber ein so vollkommen glattes Alibi nachweisen können, daß jeder Verdacht sofort weggefallen ist. Was ich jedoch glaube, ist, daß Kraßna der Schreiber der anonymen Briefe war, die Ihr Herr Vater erhalten hat, Zwar mangelt auch dafür jeder Beweis, zumal außer Baron Hofmann niemand diese Briefe hat prüfen und lesen können …. aber nach allem, was ich von diesem Menschen sah und hörte, möchte ich wetten, daß er der Verfasser dieser Schriftstücke ist!“
„Und man hat ihn nicht in Untersuchungshaft genommen?“
„Einen einzigen Tag nur. Sein Alibi war, wie gesagt, nicht zu beanstanden; er hatte wenigstens acht oder neun Zeugen, die sämtlich zu seinen Gunsten aussagten!“
„Wissen Sie, Raimund“ – Alix sprach den Namen nur zögernd – „daß auch ich einen anonymen Brief vor einiger Zeit empfing?“
„Keine Silbe! Wann ist das gewesen?“
„An dem Tage, als Sie mir Ihren ersten Besuch machten, mir Ihre Lebensgeschichte erzählten!“
„Und der Inhalt?“
„Die Drohung, ich könnte das Los meines Vaters teilen, wenn ich die berechtigten Forderungen der Arbeiter nicht erfüllte!“
„Was haben Sie mit dem Briefe gethan?“
„Ich habe von ihm dem Justizrat Ueberweg, sowie dem Staatsanwalt und Untersuchungsrichter Mitteilung gemacht; sie wollten alles thun, um den Urheber zu ermitteln. Das scheint ihnen indessen nicht gelungen zu sein; sie hätten es mich sonst doch wohl wissen lassen!“
„Und nahmen die Herren den Versuch des Schreibers, sich als Anwalt der Arbeiter aufzuspielen, ernst?“
„Ich selbst hielt diesen Versuch für ein Manöver. Aber veranlaßt hat mich der Brief doch, über die Lage meiner Arbeiter nachzudenken. Ich ließ eine Art Komitee zusammentreten, die Direktoren der verschiedenen Werke, die obersten Ingenieure.
Mein Vetter Cecil Whitemore präsidierte. Ich legte den Herren ernstlich und dringlich die Frage vor, ob Aenderungen, Verbesserungen bei den Arbeitern geboten seien, ob die Leute anderswo bei ähnlichen Unternehmungen besseren Lohn erhielten, mit einem Wort, ob das Verlangen dieses Anonymus irgendwie gerechtfertigt sei!“
„Und die Herren antworteten Ihnen mit Nein!“
„Mit Nein – und zwar einstimmig und einmütig, ohne eine einzige abweichende Meinung – sogar ohne Zaudern. Ich möchte wissen, welches Ihre Ansicht über diese Sache Wäre!“
Raimund wandte der Sprecherin voll sein offenes, einnehmendes Gesicht zu.
„Ich spreche als Laie – als Dilettant gewissermaßen, müssen Sie bedenken, nicht als Sachverständiger. Insofern hat meine Aussage keine Bedeutung. Rede ich als Mensch zum Menschen ….“
„Nun, dann?“
„Dann habe ich zu konstatieren, daß es ungünstiger situierte Arbeiter giebt als die Josephsthaler, aber auch günstiger gestellte, daß der hiesige Arbeiter unter normalen Verhältnissen, wenn er fleißig und nüchtern ist, auskommen kann, ganz entschieden sogar …. daß aber die Einrichtungen, die für Ausnahmefälle da sind: für Krankheit, ungewöhnlich zahlreiche Familie, längere Arbeitsunfähigkeit und so fort, daß hier diese Einrichtungen mir, nach meiner Idee, teilweise unvollkommen, teilweise auch zu knapp geraten erscheinen, und daß eben auf diesem Gebiet Abhilfe, vielmehr Erweiterung und Verbesserung der bestehenden Verhältnisse, ein großer Segen sein würde!“
Alix hatte mit einem Anteil zugehört, der ihre Augen im intensivsten Blau leuchten ließ. Sie reichte Hagedorn freimütig die Hand hin.
„Ich bin Ihnen dankbar dafür, wenn Sie mir sagen, [623] was Sie denken – Sie sollen das immer thun, ich bitte Sie darum! Ich habe den ernstlichen guten Willen, den Leuten zu helfen, allmählich hier und da Reformen einzuführen, und ich hoffe, mit der Zeit soll mir das gelingen. Es beruhigt mich so, daß Sie doch auch sagen, die Arbeiter sind hier so gestellt, daß sie unter normalen Verhältnissen mit ihrem Lohn auskommen können.“
„Sie dürfen meinen Worten kein großes Gewicht beimessen, ich sagte Ihnen ja, was ich auf diesem Gebiet nur sein will und kann –“
„Ein Dilettant, jawohl, ich weiß! Jedenfalls aber einer, der sich sein menschlich fühlendes Herz bewahrt hat, während ich den andern Herren gegenüber doch das Gefühl hatte, als sei ihnen das im Lauf der Zeit vor lauter Geschäftskenntnis und Amtseifer ein wenig abhanden gekommen. – Ich wollte auch so gern persönlich nach meinen Kräften eingreifen, den Leuten allgemach nähertreten – dazu schienen mir ihre Frauen und Kinder das beste Verbindungsmittel, ich dachte daran, den Kindern zunächst irgend ein Fest zu geben, ein Maifest zur Pfingstzeit zum Beispiel –“
„Ein glücklicher Gedanke, an dessen Ausführung Sie niemand hindern wird!“
„Doch! Die Herren waren, als ich die Idee nur andeutete, eigentlich alle dagegen. Namentlich Herr Oberingenieur Harnack protestierte lebhaft.“
„So?“ Raimund zog die Brauen hoch. „Und welche Gründe gab er an?“
„Er sagte, diese Idee mache meinem edlen Herzen – so drückte er sich aus – alle Ehre, wäre aber bedenklich in ihren Folgen. Wüßten erst die Leute, die er, Ingenieur Harnack, sehr genau zu kennen und richtig zu beurteilen behauptet, daß seitens des Besitzers der Kolonie Josephsthal Geld zu überflüssigen Dingen, zu Vergnügungen und Spielen für sie vorhanden sei, so wäre Thor und Thür geöffnet, sie würden mit hundert Bitten, Vorschlägen, Wünschen anrücken und dies damit begründen: das seien lauter notwendige Dinge, die die Herrschaft verpflichtet sei, ihnen zu gewähren, da sie sogar für einen bloßen Zeitvertreib eine größere Summe geopfert habe. Jetzt wissen die Leute genau, sie haben nichts zu fordern, sie haben sich nicht zu beklagen, sie müssen selbst Rat und Abhilfe schaffen; in ganz besonders schwierigen Fällen dürfen sie sich höchstens an ihren Direktor wenden, niemals an den Chef der Werke. Der Chef muß oberhalb und außerhalb dieser Dinge stehen, wie es bisher der Fall gewesen ist!“
„Mit nichten! Das ist eine total falsche Auffassung, der ich widersprechen muß!“ rief Raimund eifrig. „Die Sachlage war allerdings so, wie Harnack sie Ihnen geschildert hat, aber sie bestand zu Unrecht – Verzeihung, wenn dies einen Tadel für Ihren Vater enthält und wohl demjenigen, dem die Macht und die Mittel gegeben sind, bestehende Verhältnisse, die ihm unzureichend erscheinen, zu heben und zu bessern! Daß Ingenieur Harnack die Josephsthaler Arbeiter so sehr gut kennt, bestreite ich durchaus. Ihre Leistungsfähigkeit kennt und beurteilt er ja richtig, von ihren Charakteren, ihrer Lebensauffassung weiß er nichts. Das Sprichwort, wem man den kleinen Finger hinreiche, der greife alsbald nach der ganzen Hand, es würde hier nicht zutreffen. Die Leute würden sich freuen, wenn man ihren Kindern ein Fest gäbe und noch lange nicht für sich die Folgerung daraus ziehen, mit unverschämten Forderungen zu kommen, und wenn einzelne dreist genug dazu sein sollten, so muß man sie eben in ihre Schranken zurückweisen. Warum an den Menschen beständig zweifeln, ihnen unbedingt Schlechtes zutrauen? Ich glaube an das Gute in ihnen, und wer sie da zu fassen versteht, wo sie, die meisten von ihnen wenigstens, am selbstlosesten und am tiefsten empfinden: ihren Kindern gegenüber – der wird nicht umsonst an dies Gute appellieren und wird seine Freude daran erleben.“
Alix atmete hoch auf.
„Ich war, trotz des Widerspruchs, den ich erfuhr, doch gesonnen, bei meiner ursprünglichen Idee zu bleiben – jetzt bin ich fest darin. Ob ich etwas ausrichten werde und was, das muß die Zukunft lehren, ich kann nur immer wieder sagen: Ich will – ich will!“
Sie war schön, wie sie das sagte, ihr Gesicht so durchleuchtet von Energie und Entschlossenheit, daß Hagedorn ihre herabhängende Hand nahm und feurig küßte. Gleich darauf trat er, ärgerlich auf sich selbst, zurück, seine impulsive Natur hatte ihn wieder einmal fortgerissen.
„Ueberschätzen Sie nur nicht, was ich da eben gesagt habe,“ brach er ab in gezwungenem Ton und sah an ihr vorbei auf das sonnenüberblitzte, leise wogende Wasser, „Sie sind klug und entschlossen genug, um allein Ihren Weg vor sich zu sehen –“
„Doch nicht, ich sagte es Ihnen ja! Und ich wollte Sie gerade zu meinem Bundesgenossen werben!“
Das kam so einfach und warm heraus, daß Raimund von neuem im Begriff stand, sich fortreißen zu lassen – er nahm sich aber zusammen.
„Sie dürfen nicht vergessen, Cousine, daß das Interesse für den Arbeiterstand, die sogenannte soziale Frage, meinem eigentlichen Lebenselement ganz fern liegt. Jetzt rede ich wohl darüber, aber sechs Takte aus der Neunten Symphonie, und ich weiß kein einziges Wort mehr davon!“
Wenn es in seiner Absicht gelegen hatte, das stolze Mädchen zu verletzen, so war ihm dies gelungen. Eben noch hatte er so eifrig und überzeugt gesprochen, so voll Begeisterung ihre Hand geküßt, sie hatte geglaubt, die Sache interessiere ihn wirklich, sie hatte auch glauben müssen, ihre Persönlichkeit komme dabei mit ins Spiel, und es lag so nahe, das zu denken. Sie war durch Erfolge verwöhnt, wußte, daß sie den Männern gefiel, auch ohne den goldenen Hintergrund gefallen konnte, und dies Bewußtsein ließ sie mit jener unbefangenen Sicherheit auftreten, die ihre Wurzel in einem stark entwickelten Selbstgefühl hat. Wenn ihr Raimund Hagedorn gefiel – und sie machte sich selbst gegenüber kein Hehl daraus, daß dies in ungewöhnlichem Maße der Fall war – so nahm sie als etwas Selbstverständliches an, daß dies auf Gegenseitigkeit beruhe, daß es ihn erfreue und beglücke, in ihre Nähe gezogen zu werden, und daß nur seine Stellung ihm den unliebsamen Zwang auferlege, warten zu müssen, bis sie jedesmal die Initiative ergriff und ihn zu sich entbot.
Und nun gab er ihr unverhohlen zu verstehen, daß er über ein paar Takten schöner Musik nicht nur die Fragen, die sie interessierten, nein, wohl auch sie selbst ohne weiteres zu vergessen imstande sei!
Alix warf leicht den Kopf hoch, und in ihr vor UnWillen errötendes Gesicht trat der hochmütig verächtliche Zug, den ihre Verehrer gut genug an Baroneß Hofmann kannten.
Ganz „Diana von Versailles“, wie sie da stand und mit der Reitpeitsche in kurzen Zwischenräumen gegen den nächsten Baum schlug!
Raimund sah mit einem einzigen Blick, was er angerichtet hatte. Ein heißer, beschämender Schreck stürzte gleichsam über sein Herz her, gleich darauf aber wappnete sich dies Herz in Trotz: es war gut so! Was sollte dies Einvernehmen zwischen ihm und der reizenden Cousine, das immer mehr Anlaß zu Verabredungen, Begegnungen bot, immer heftiger eine Flamme schürte, die ihm schon im ersten Aufflackern bedenklich erschienen war! Es that ihm weh, sie beleidigt zu haben; lieber aber noch das als das gefährliche Spiel, das seine ohnehin schon schlimme Lage noch erschwerte!
Er sagte also nichts, kein versöhnendes oder entschuldigendes Wort; daß seine Augen Abbitte thaten, und zwar sehr sprechend und deutlich, das kam ihm nicht zum Bewußtsein.
Ueber den beiden raschelte es, im jungen Frühlingslaub bebte und schwankte ein Aestchen. Eine Schwarzamsel saß darauf und schickte ihr kleines Lied in die lachende, sonnige Welt hinein. Sie lockte die Gefährtin, lockte immer wieder, mit kurz anhebendem, sehnsüchtig ausklingendem Laut, daß es klang wie „Komm’ – komm’ – o komm’!“
Die zwei Menschen, die da regungslos unter der jungen, mit zartgrünen Blättchen behangenen Buche standen, störten den kleinen Sänger nicht. Sie sprachen ja kein Wort, sie machten keine Bewegung, aber alle beide hörten sie, verstanden sie den lockenden, werbenden Liebeslaut: „Komm’! Komm’! O – komm’!“
[667]„Kolonie Josephsthal, im Mai 189..
Ach, Maria, daß ich die Feder in die Hand nehmen muß, wenn ich zu Dir will, anstatt mich neben Dich zu setzen, Deine liebe Hand festzuhalten und in Deine guten, geliebten Augen zu blicken, die alles verstehen, das Ausgesprochene und – das Unausgesprochene!
Dennoch ist’s ein Trost für mich, zu wissen, daß für mich solch ein liebender, geliebter und verständnisvoller Mensch auf der Welt lebt, daß ich ihn habe, wenn ich auch nicht bei ihm sein darf. Du schreibst so glücklich, so dankerfüllt, daß Gott Dir Deine Else gelassen, die dicht, ganz dicht am Rand des Grabes geschwebt – da will ich mit Dir mich freuen und danken und nicht an mich und meine egoistischen Wünsche denken.
Du willst so vieles wissen, Maria, und Du hast auch ein Recht dazu! Systematisch vorgehen – das kann ich nicht, aber so schreiben, ganz so, als redete ich mit Dir, ja, das kann ich und das will ich auch.
Zunächst das eine Hauptsächliche: das Geheimnis, den Tod meines Vaters betreffend. Nein, Liebste, es ist kein Licht hineingekommen, und wer weiß, ob es jemals geschieht! Ich für meine Person bezweifle es! Korty, Du weißt, der Geheimpolizist, hat wohl vor kurzer Zeit, wie mir Ueberweg sagte, eine Spur gehabt und sie eifrig verfolgt, aber umsonst. Auch Ueberweg ist jetzt der Ansicht, daß wir schwerlich des Mörders habhaft werden würden. – – –
Von Frau von Sperber möchtest Du Näheres wissen – ich kann nur Gutes von ihr berichten. Eine Freundin, eine Vertraute, wie Du es mir bist, wird und kann sie mir niemals werden, aber den Posten, den sie übernommen hat, füllt sie zu voller Zufriedenheit aus; sie ist eine liebenswürdige und gebildete Dame mit feinen, verbindlichen Formen und hat mich offenbar ebenso gern wie ich sie. Wie gut sie zu repräsentieren versteht, das habe ich vor einigen Tagen bei der ersten Gelegenheit, die sich dazu bot, erfahren. Eine Dame aus der Nachbarschaft, Gräfin Versing, stattete mir mit ihren beiden Söhnen, Offizieren, die des öfteren auf Urlaub bei ihr sind, einen Besuch ab. Ich nahm den Besuch an, ließ drei von den Direktoren mit ihren Gattinnen – der vierte ist Witwer – samt den Ingenieuren, Justizrat Ueberweg und meinem Vetter Raimund Hagedorn dazu bitten – daß Cecil dabei war, versteht sich von selbst. Es war höchste Zeit, die Beamten einmal einzuladen. Ich hatte, da es ein sehr warmer Tag war, im Gartensaal servieren lassen. Für die verschiedenen Elemente den richtigen Ton zu finden, war nicht ganz leicht, aber die Majorin traf ihn vorzüglich, und ich hoffe, ich habe mich gleichfalls passend benommen. Die erste Gesellschaft ohne meine Maria! Wie ich an Dich dachte, immer mit dem Zusatz: würde sie das gut heißen? –
Die Gräfin ist zu mir von wahrhaft beängstigender Freundlichkeit, die ihre ganz bestimmten Gründe hat. Sie scheint sehr adelsstolz zu sein; mein nagelneuer Adel und meine Fabrikherrlichkeit können ihr nicht imponieren, desto mehr thut dies wohl – mein Geld. Sie wünschte ganz und gar Beschlag auf mich zu legen, aber die Herren Beamten samt Gemahlinnen haben auch ihren Stolz und wollen sich um alles in der Welt nicht vernachlässigt oder zurückgesetzt vorkommen – da hieß es lavieren! Frau von Sperber umschiffte diese Klippen mit Takt und Geschick, sie wurde Allen gerecht, und ich meine, die Gesellschaft hat bei jedem einen guten Eindruck hinterlassen. Die Herren Grafen von Versing, Wolfram und Eginhard, sind flotte, schneidige Gardeoffiziere, die mit vollen Segeln ins Zeug gingen, mir den Hof zu machen. Mit Cecil verkehrten sie in einer ganz achtungsvollen Manier, der „reiche Engländer“ flößte ihnen einigen Respekt ein – über Hagedorn wollten sie einfach zur Tagesordnung übergehen, aber das gelang ihnen nicht. Ohne eine Spur von Absichtlichkeit, ohne hervorzutreten in irgend einer Weise, wußte er sich zur Geltung zu bringen und seine Stellung als Gast meines Hauses und mein Vetter – ich stelle ihn stets als solchen vor – so zu behaupten, daß ich meine innerliche Freude daran hatte. Die Herren Grafen änderten ihren Ton und ihr Benehmen, aber Raimund, dessen Erscheinung man überhaupt nicht übersehen kann, war ihnen offenbar äußerst unbequem.
Wir hatten auch Musik an meinem Gesellschaftsabend. Die Frau des einen der Direktoren singt recht hübsch, sie ist noch jung, ich glaube, sechs- oder siebenundzwanzig Jahre, hat im Berliner Konservatorium ihre Studien gemacht und Konzertsängerin werden wollen, es dann aber doch vorgezogen, sich zu verheiraten. Mein Vetter Hagedorn begleitete so wunderschön, daß man ihn von allen Seiten bestürmte, etwas vorzutragen, zumal seine musikalische Begabung hier in der Kolonie Josephsthal kein Geheimnis geblieben ist. Er ließ sich aber nicht erweichen – erst als ich kam und ihn bat, gab er nach, noch dazu ungern, wie ich überzeugt bin. Er spielte die Berceuse von Chopin und eine sehr reizvolle Tarantella, ich glaube, sie war von Liszt; zu [668] weiteren Vorträgen ließ er sich, trotz stürmischen Beifalls, nicht herbei. Wie er spielte? Es läßt sich nicht schildern, und nur zwei Empfindungen waren es, die mir nachträglich kamen: die erste war die, daß ich seine Abneigung gegen den ihm vom Schicksal aufgezwungenen Beruf ganz begriff, die zweite war der brennende Wunsch, die ganze übrige Gesellschaft, alle, ja alle ohne Ausnahme, vor die Thür zu setzen, um dies einzig geartete Spiel voll auf mich wirken und ungestört in mir ausklingen lassen zu können. ,Sehr gastfrei und human,‘ wirst Du sagen, aber daran dachte ich natürlich in dem Augenblick nicht!
Ich hätte eben von drei Wirkungen sprechen müssen, die dies Spiel auf mich ausübte – die dritte war jedenfalls die folgenschwerste. Sie brachte mich zu dem schon seit längerer Zeit in mir schlummernden, jetzt aber feste Gestalt annehmenden Entschluß, ihm, der so schwer gekämpft und gelitten hat, der täglich noch kämpft und leidet, helfen, thatkräftig helfen zu wollen. Ich habe Dir Raimunds Lebensgeschichte in flüchtigen Umrissen skizziert, man muß ihn aber selbst kennen und sprechen – – – man muß ihn vor allen Dingen spielen hören, um ihn ganz zu verstehen. Ich kann nicht vor ihn hintreten und ihm sagen: „Ich will für Deinen alten Vater sorgen, bis Du selbständig bist in Deiner Kunst, und ich will Dir die Mittel geben, daß Du dies Ziel erreichst!“ – Er würde das nie annehmen, kaum von seinem besten Freund, geschweige denn von einer Dame.
Daher muß ich versuchen, ein wenig Schicksal zu spielen: ich habe einen Plan, eine Idee – weiß noch nicht, ob sie sich realisieren läßt; ich sende aber diesen Brief an Dich nicht früher ab, als bis ich Dir über irgend ein wenn auch noch so geringfügiges Resultat, und wäre es das erste kleine Glied einer langen Kette, berichten kann.
Von Vetter Cecil und von Oberingenieur Harnack soll ich Dir auch mehr erzählen! Gute Seele, seit wann bist Du denn dem Wahn verfallen, es müßten sich alle Männer in mich verlieben? Das war doch früher in Frankfurt nicht, im Gegenteil, Du hast dort für notwendig gehalten, mich sehr oft vor Einbildungen zu warnen, und gebeten, mich nicht beständig als Prinzeß Turandot zu fühlen. Du denkst wohl, weil hier kein junges weibliches Wesen ist, das weiter in Betracht kommen könnte, müßte mir die allgemeine Verehrung zu Füßen gelegt werden! Bitte sehr, Frau Maria! Kolonie Josephsthal hat weibliche Wesen aufzuweisen, noch dazu junge und hübsche, die sich recht gut neben Deiner ,Aeltesten‘ sehen lassen können! Scherz beiseite, ein paar von den Direktoren haben Töchter, die wohl einem Mann gefallen mögen, und wenn also Vetter Cecil und Herr Harnack wollten –
Uebrigens, mit Vetter Cecil hat’s keine Gefahr! Der will entschieden nicht, weder mich, noch sonst irgend ein hiesiges Mädchen. Hat er sein Herz in England gelassen, oder hat er überhaupt keines, das sanfteren Regungen zugänglich wäre …. hundert Jahre könnten wir zusammen leben (Gott bewahre uns beide davor!), ohne daß unsere Herzen auch nur einen wärmeren Schlag thäten!
Aber ich will nicht undankbar sein! Der gute Cecil steht trefflich der Kolonie Josephsthal vor – was finge ich an ohne ihn? Wie er sich zu den Arbeitern stellt, das bekomme ich nicht heraus – er spricht nicht darüber, und auch die Beamten sind vorsichtig in ihrem Urteil; ich mag sie auch nicht geradezu ausforschen. Daß unsere Leute in der Kolonie Josephsthal nicht schlecht gestellt sind, daß sie, bei vernünftigem Lebenswandel und wenn das Unglück sie verschont, bestehen können mit dem, was sie verdienen, das, Liebste, hab’ ich einsehen gelernt, und es ist mir, wie Du Dir sagen wirst, ein großer Trost. Für schlimme Ausnahmefälle muß freilich noch besser vorgesorgt werden, und das soll geschehen!
Reg’ Dich nicht auf und ängstige Dich nicht, Maria, wegen des anonymen Briefes – ich wollte, ich hätt’ Dir nichts davon geschrieben, aber Du weißt, ich kann Dir nichts verschweigen. Nein, ich habe kein weiteres derartiges Schreiben mehr bekommen! Ob mich der Inhalt des damaligen Briefes nicht verstört und nervös gemacht hat, willst Du wissen? Gar nicht, Liebste! Oder doch nur in der ersten halben Stunde. Kalt’ Blut und seinem Stern vertrauen, ist meine Devise. Du kannst deshalb ruhig sein – ich bin nicht tollkühn, nicht einmal leichtsinnig; ich reite oder fahre nie mehr allein aus, und selbst auf meinen Wanderungen durch den Park begleitet mich ein großer schottischer Wolfshund, den Vetter Hagedorn in meinem Auftrag für mich hat kommen lassen; er heißt ,Rebell‘, macht aber, wenigstens mir gegenüber, seinem Namen keine Ehre, sondern hat sich wunderbar rasch an mich gewöhnt. Ich bin ganz gern mit Rebell allein. Oft überkommt mich jetzt etwas, das ich in Frankfurt eigentlich nie gekannt habe: das Lebensgefühl möchte ich es nennen, aber so erhöht und so gesteigert, daß es deutlich ins Bewußtsein tritt. Die Empfindung, jung und gesund und thatkräftig zu sein, giebt mir ein schwellendes Kraftgefühl, stolz und dankbar zugleich. Ich nehme es nicht hin, wie etwas, das sein muß, worauf ich Anspruch habe, im Gegenteil, ich sehe eine Bevorzugung darin! In Frankfurt bin ich doch auch jung und gesund gewesen, aber ich habe es nicht so intensiv empfunden wie hier, trotz alles Schweren und Traurigen, das ich kürzlich erlebt. Es muß das Landleben sein, der innige Zusammenhang mit der Natur, den ich bisher nie erfahren habe, und nun dieser – dieser einzig schöne Frühling!
Wenn ich mit Cecil rechne oder ihm meine Aufgaben vorlese, wie blick’ ich dann sehnsüchtig über sein wohlzugestutztes Engländerhaupt hinüber durchs geöffnete Fenster in meinen geliebten Park, dessen frisch ergrünte Wipfel mir wie mit Händen zu winken scheinen! Er ahnt nichts von solchen Gedanken, der vortreffliche Vetter, und wenn er es thäte, würde er sie für ,deutsch durch und durch‘ halten. Daß er einen ähnlichen Hinweis auf seine und meine Person im Nachlaß meines Vaters gefunden hat, wie ich ihn fand, davon bin ich überzeugt. Wenn wir gelegentlich unter vier Augen sind – es geschieht fast nie, denn bei den Unterrichtskursen ist jetzt auch immer Frau von Sperber, die etwas profitieren möchte, dabei! – merke ich manchmal, daß er mit dem Entschluß ringt, mir irgend etwas zu sagen, was ihm peinlich ist und schwer fällt. Daß aber dies ,Etwas‘ keine Liebeserklärung ist, dafür lege ich getrost meine Hand ins Feuer!
Anders und viel bedenklicher steht es freilich mit dem andern, nach dem Du Dich so teilnehmend erkundigst – mit Harnack! Ich habe einen durch vielfache Erfahrung geschärften Blick in gewisser Beziehung, und so wußte – fühlte ich es in den ersten fünf Minuten unseres Beisammenseins: hier ist eine Leidenschaft für Dich vorhanden! Sie ist seitdem gewachsen und nimmt zuweilen eine besorgniserregende Gestalt an. Der Mensch ist wie ein Vulkan, dessen Glut mit äußerster Gewalt niedergehalten wird. Ich schrieb Dir, daß er und Vetter Hagedorn sich, solange sie geschäftlich miteinander in unvermeidliche Berührung kamen, beständig rieben und reizten, daß Harnack sehr eigenmächtig vorgegangen war. Ich schrieb Dir auch, daß ich meine Mißbilligung seiner Handlungsweise ihm gegenüber nicht zurückhielt und daß ihm, bei seinem raschen, heißen Temperament und seinem stark entwickelten Selbstbewußtsein, die Kündigung schon auf den Lippen schwebte … und er sie dennoch nicht aussprach, weil ich es ihm angethan habe und er keine Trennung von mir ertragen würde. Ich sah das alles – mußte es sehen, und kann nicht umhin, den Mann, der mir von allen Seiten so gerühmt wird, der sich und seine ungewöhnliche Intelligenz und Tüchtigkeit so ganz in meine Dienste stellt und mir Vorteile und Ansehen mehren hilft, zu bedauern. Aber mehr nicht, Maria! Von Mensch zum Menschen spricht nichts bei mir für ihn, ich fühle mich immer unbehaglich in Harnacks Nähe, und – ich kann es nicht ändern – diese dunklen Augen, die oft mit einem so unverhohlen begehrlichen Ausdruck auf mir ruhen, beleidigen mich geradezu. – – –
Die zwei feindlichen Mächte, Raimund Hagedorn und der Oberingenieur, sind jetzt räumlich und auch sonst getrennt, ein Zusammenstoß mithin ausgeschlossen, und bei meiner Abendgesellschaft grüßten sie einander, als gebildete Männer, die sie sind, mit kalter Höflichkeit, um sich weiterhin konsequent zu meiden … dennoch merkte ich, wie Harnack unausgesetzt den Beobachter spielte, und namentlich, als Raimund am Flügel saß, fing ich einen Blick auf, der mich innerlich erzittern ließ! Ich bin sehr auf meiner Hut in meinem Benehmen, dem Ingenieur gegenüber, immer höflich und von gleichmäßiger Freundlichkeit, nie eine Spanne darüber; er wäre ein Narr, wenn [669] er aus diesem meinem Verhalten auch nur die leiseste Hoffnung schöpfen wollte.
,Aber,‘ höre ich Dich fragen, ,Kind, wo bleiben denn über all diesem Deine Reformpläne, Deine Ideen, Dich allmählich, nicht nur in die Maschinen-, nein, auch in die Menschenwelt, die Dich umgiebt, hineinzuleben, den Leuten, die Dir Deinen Reichtum schaffen helfen, näherzutreten?‘ – Geduld, verehrte Pflegemutter, Schwester, Freundin, Ratgeberin und Moralistin, es kommt alles! Und wenn dieser Brief ein wahres Aktenstück wird – ich schreibe schon den dritten Tag daran! – so ist niemand anderes schuld als Du mit Deinen vielen Fragen!
Also, ich hatte mir’s ausgedacht, ich wollte den Kindern der Fabrikleute, Maschinisten, Heizer, Monteure und so weiter, zu Pfingsten ein Fest im Freien geben. Bei meinen Herren Beamten war dieser Plan auf vielen Widerspruch gestoßen. Mir that es sehr leid, ich hatte die Idee so hübsch gefunden, war auch noch gar nicht willens, sie gleich aufzugeben. So habe ich mit Raimund Hagedorn darüber gesprochen, und der, wie das so seine Art ist, war ganz Enthusiasmus dafür, was mir natürlich wohlthat. Er sagte mir seine Hilfe zu, die Majorin gewannen wir auch noch, und nun setzten wir mit allem Eifer die Sache ins Werk. Ach, es that mir so wohl, einmal nichts von ‚Vernunft‘ und ‚Prinzip‘, von ‚Konsequenzen‘ und Bedenklichkeiten zu hören und einmal mit meinem Gelde schalten und walten zu können, ohne daß mir mißbilligende Moralisten auf die Finger sahen und mir die Hände festhielten!
Im Gartensaal, dessen Flügelthüren sämtlich zurückgeschlagen waren, wurden die langen, weißgedeckten Tafeln aufgestellt – nein, Maria, ich habe solche Gebirge von Pfannkuchen, Schüsseln und Schüsseln voll, solche gewaltige Massen von Kuchenschnitten und Zuckerbrezeln noch in meinem Leben nicht bei einander gesehen – und die Kaffeekessel, die hereingebracht wurden! Punkt drei Uhr traten meine Gäste an – vom halbwüchsigen Jungen, der schon einen ,Diener‘ riskierte, bis zum unsicher wackelnden Flachskopf, den der ,große‘ Bruder oder die ,große‘ Schwester an der Hand führte. Unsere Hausmädchen halfen, die Diener, Françoise, die erwachsenen Direktorstöchter, Vetter Hagedorn, die Majorin, ich – alle aber, daß ich die Wahrheit sage, mit freundlichen, lachenden Gesichtern, alle bemüht, es den kleinen Gästen heimisch zu machen, sie zum Zulangen zu ermuntern. Für die Kleinsten wurden gewaltige Töpfe voll frischer, süßer Milch herbeigeschleppt, und nun ging auf dem großen, freien Platz, der dicht beim Gartensaal liegt, die Bewirtung los. Sehr manierlich griffen die größeren Kinder zu, gar nicht gierig, sie sorgten sogar ganz verständig für ihre kleinen Geschwister. Sauber gekleidet und gekämmt waren sie alle, manche sogar zierlich und nett.
Ich bin, nachdem meine Kuchenberge verschwunden und die Kaffeekessel geleert waren, zwischen den Kindern umhergegangen und habe versucht, Bekanntschaft zu machen. Das war nicht leicht, und ich wüßte nicht, was ich ohne Raimund hätte anfangen sollen. Er hat eine Art, mit diesen Kindern umzugehen, eine Geschicklichkeit, ihren Ton zu treffen, eine Frische und Heiterkeit im Verkehr mit der kleinen Gesellschaft, daß es zum Staunen ist. Zu ihm haben sie alle Vertrauen, auch die schüchternen und wortkargen! Wir zogen nun zum Spielen auf die große Waldwiese, die unmittelbar an den Park stößt, hinaus und veranstalteten hier allerlei Belustigungen: Wettrennen, Sacklaufen, Topfschlagen, da mußte er überall helfen. Einige von den Müttern hatten sich eingefunden und sahen aus einer kleinen Entfernung zu, indem sie sich gegenseitig auf ihre Sprößlinge aufmerksam machten. Ich ging zu ihnen heran und bat sie freundlich, näher zu kommen; sie weigerten sich anfangs bescheiden, als ich aber betonte, sie könnten mir wirklich helfen, mischten sie sich unter die Kinder.
Später erschienen ein paar Musikanten, es wurde auf der Waldwiese getanzt, wobei mehr der gute Wille als die Geschicklichkeit zu bewundern war – dann neue Kuchengebirge, Butterbröte, Milch, Limonade, Honigkuchen zum Mitnehmen, und schließlich paarweises Abmarschieren der Gesellschaft unter Vorantritt der Musikanten. Ich versichere Dich, wir waren alle schachmatt, als das kleine Volk verschwunden war, aber die Genugthuung hatte ich wenigstens: gelungen war alles, und die Kinder sind froh und befriedigt mit ihren Schätzen heimgegangen.
Sieh. das war mein Anfang, mein erster Versuch, für die neue Welt, in die ich eingezogen bin, zu wirken, und ich denke immer, es ist kein schlechter Einfall von mir gewesen, daß ich just mit den Kindern begann. Dadurch habe ich mir viele Mütter gewonnen, und das ist für mich von großem Wert. – – –
Zwei Tage später. Ich habe den Brief liegen lassen müssen, weil ich inzwischen den ersten Schritt zur Ausführung des Planes, von dem ich Dir schrieb, gethan habe.
Vetter Hagedorn hatte sich von seinem Chef – das bin also ich! – einen dreitägigen Urlaub erbeten, um zum Musikfeste nach Stettin zu fahren, und ich hatte ihm denselben huldvollst bewilligt. Mit seinem ,direkten Chef‘, dem Direktor von der Oelmühle, hatte ich zuvor gesprochen, und dieser joviale ältere Herr legte dem Vorhaben seines neuen Buchhalters keine Schwierigkeiten in den Weg.
Mir war Raimunds Abwesenheit sehr willkommen. Ich wollte sie benutzen, seinen Vater kennenzulernen. Ich hatte mir das lange schon gewünscht und auch mit ihm darüber gesprochen. Aber er wollte es offenbar nicht haben. Nun, ich hatte mir die Idee in den Kopf gesetzt, es sollte dazu kommen, und kaum war vorgestern der Zug, der den Vetter nach Stettin bringen sollte, abgedampft, als ich nach Greifswald fuhr.
Einen ganz festen Plan hatte ich dabei noch gar nicht. Jedenfalls aber hoffte ich, auf diesem Wege meinem Ziel näher zu kommen.
[670] Ich fuhr ganz wohlgemut mit meinem Einspänner in den bildschönen Frühlingstag hinein und legte mir gar nichts von dem zurecht, was ich etwa zu dem alten Herrn sagen wollte. Das mußte alles der Augenblick mit sich bringen!
Wie der Wagen endlich in Greifswald vor einem graugestrichenen, etwas engbrüstigen Hause hält, wird mir doch etwas beklommen zu Mute – was soll ich denn eigentlich sagen? Nur: ,Hier bin ich und will Sie kennenlernen?‘
Eine freundliche, sehr gesprächige Frau in einer großen gestreiften Wirtschaftsschürze nimmt mich in dem kühlen, dämmerigen Hausflur in Empfang, und ich frage nach Herrn Hagedorn. Der sei vor knapp zehn Minuten ausgegangen, aber er müsse bald wiederkommen, und ob ich nicht unterdessen hinaufspazieren wolle?
Ich bin dann wirklich ,hinaufspaziert’, und die Gute schickte sich an, mich zu begleiten, wurde aber von ihrem Dienstmädchen abgerufen und mußte mich allein lassen, sehr zu ihrem Kummer, und sehr zu meiner Erleichterung!
Oben sah ich mich neugierig um. Zwei saubere helle Stübchen, die Dielen blank gescheuert, und die Lenzessonne schien durch schneeweiße Gardinen. In der Ecke des etwas größeren Vorderzimmers ein großer Bücherschrank, die Fächer alle von oben bis unten bestellt. Auf dem hohen Aufsatz des altmodischen, aber hübschen Schreibtisches, der beim rechten Fenster steht, ein paar aufgestellte Bilder in Rahmen, kleinere und größere, an der Wand dahinter wieder Bilder. Ich sehe genauer zu – ein entzückender Lockenkopf, ganz klein, auf dem Schoß einer schönen, vornehmen Frau – Raimund und seine Mutter! Hier wieder Raimund, um einige Jahre älter, im Sammethabit und Spitzenkragen, Raimund als halbwüchsiger Junge, Raimund als Student und so fort. Und da an der Wand zwischen vier, fünf andern Bildern, die mir fremd sind, sehe ich ein Gesicht, ein wohlbekanntes, ein schönes, geliebtes – meine Mutter, und sie blickt mich an, als wolle sie zu mir reden. Ach, Maria, wie mich das ergriff!
Wie dann mein Blick endlich die Bilder losläßt und über die Platte des Schreibtisches hinfliegt, bleibt er zufällig – nein, nein, Liebe, es war mehr als ein Zufall, ganz gewiß! – an einem offenen Brief haften, der zwischen Büchern und Papieren da liegt, wie eben aus der Hand geworfen; die Aufschrift lautet: Herrn Eberhard Hagedorn, Hochwohlgeboren, Greifswald, und der Poststempel ist Wien.
Wien! Es geht wie ein elektrischer Schlag durch mein Empfinden! Ich sage mir gleich darauf, das könne ein ganz gleichgültiges Schreiben sein, der alte Herr stehe sicher noch mit einigen Leuten dort in Verbindung: aber immer wieder packt es mich: und wenn es der einstige Geschäftsfreund wäre, der das Hagedornsche Vermögen verbracht hat? Ich drehe vorsichtig den Brief herum: Absender Leopold Steglhuber, Wien, Johannesgasse. Nun war ich so klug wie zuvor, der Name bewies mir gar nichts, Raimund hatte mir nicht gesagt, wie jener Geschäftsfreund hieß.
Du hast es des öfteren eine unehrenhafte Handlungsweise genannt, fremde Briefe zu lesen, Maria, und ich habe Dir beigestimmt! Ich hörte Deine Stimme auf einmal ganz deutlich: ,Thu’ das nicht, Alix, das ist nicht ehrenhaft! Geh’ den geraden Weg!‘ Aber ob mich der gerade Weg in diesem Fall zu meinem Ziel gebracht hätte – nein, nein, ich will auch nicht den jesuitischen Grundsatz aussprechen, daß der Zweck die Mittel heilige … ich that Unrecht, ich empfand es als solches, und die Hände zitterten mir vor Aufregung, aber gethan hab’ ich es! Verzeih’ mir und laß mich sehen, ob ich den Inhalt des Briefes aus dem Gedächtnis wiederherstellen kann!
,Es wird Sie wundern,‘ so etwa begann das Schreiben, ,einen Brief nach so langer Zeit von mir zu empfangen, und mein Name wird Ihnen keine angenehmen Erinnerungen erwecken. Sie waren damals, nachdem das große Unglück mit dem Verlust Ihres Geldes Sie betroffen, so gütig, mir zu schreiben, Sie trügen mir’s nicht nach, Sie wüßten, daß ich schwer gekämpft hätte, um den rollenden Stein aufzuhalten, daß ich jetzt selber aufs ärgste unter den eingetretenen Ereignissen leiden müßte, und daß Sie mich, trotz allem, dennoch für einen ehrlichen Mann hielten!
Herr Hagedorn, das kann und das werde ich Ihnen nie vergessen! Die hellen Thränen sind mir aus den Augen gestürzt, daß so der Mann schreiben konnte, den ich, wenn auch ohne Absicht, schwer, schwer geschädigt hatte! Und ich gelobte mir: kommst Du noch jemals in Deinem Leben wieder auf die Füße zu stehen, dem Mann gedenkst Du es!
,Und nun werden Sie,‘ so fuhr der brave Mann in seinem Brief etwa fort, ,sicher denken, ich hab’ halt einen guten Treffer gemacht, bin wieder obenauf und werde Ihnen gegenüber mein Wort einlösen. Leider – so weit sind wir noch nicht!
Ich hab’ hart gearbeitet, hoffentlich glauben Sie mir das, um wieder in die Höhe zu kommen, aber für einen, der ganz, ganz tief drunten sitzt, bis an Kopf und Hals belastet mit eigenen und fremden Verpflichtungen, ist das rasend schwer. Ich hab’ mich in Comptoiren herumgedrückt, hab’ Kommissionen übernommen, bin Agent gewesen, hab’ ein dutzendmal gedacht: es geht nicht, jetzt machst du ein Ende! und zehn dutzendmal: es muß gehen und du kommst doch durch!
Nun hab’ ich durch eine Kette von Umständen, die herzuzählen gar zu weitläufig sein würde, den Inhaber eines Geschäftshauses kennengelernt – ich lege Ihnen die Karte der Firma bei – der Name derselben hat in der Wiener Geschäftswelt, in unserer Branche, einen guten Klang. Der Inhaber hat mich lange in aller Stille beobachtet, Erkundigungen über mich eingezogen, mir dies und jenes übertragen, kleine Gewinnanteile zugewendet, endlich so viel Vertrauen zu mir gefaßt, daß er mich als Teilhaber in sein Geschäft hinein haben möchte. Für mich ein großer Glücksfall, so groß, daß ich kaum wagte, daran zu glauben! Aber eben, weil mein neuer Gönner solid ist, so ist er auch vorsichtig. Er verlangt Kaution von mir, fünftausend Gulden – erstaunlich wenig, wenn man die Verhältnisse kennt! – doch ich habe sie nicht, kann hier keine Christenseele darum bitten, da meine einstigen Freunde sich seit dem Unglück alle von mir zurückgezogen haben und die Leute, mit denen ich jetzt verkehre, mir teils nicht nahe genug stehen, um sie um ein Darlehen anzugehen, teils arme Teufel gleich mir sind.
Sie werden sagen, das sei eine schöne Taktik, erst einem Ehrenmann das Geld verbringen und dann, nach Jahren, noch um neues bitten. Aber Sie müssen – mein Gott, Sie müssen verstehen, wie dies von mir gemeint ist! Vor mir liegt eine Chance, eine, kann ich sagen, goldsichere Chance, wieder emporzukommen, und ich bin noch in guten Jahren und kann viel leisten …. Sie sind, das schwöre ich Ihnen, der erste, der teilhaben soll an meinem Gewinn. Sie wissen auch, solange ich es konnte, hab’ ich Ihnen Zinsen und Tantieme redlich und pünktlich gezahlt – und ich weiß, Sie glauben mir, wenn ich Ihnen mein Ehrenwort gebe: ich thu’ es wieder, ich trag’ Ihnen alle jetzigen und früheren Zinsen samt Kapital ehrlich wieder ab!
Wollen – – und können Sie mir helfen? Ich weiß nichts Näheres über Ihre Verhältnisse, weiß nicht, ob Sie sonst noch über Ressourcen verfügen, und seit Sie aus Wien verschwunden sind, hat mir niemand Auskunft über Sie zu erteilen vermocht. Ich sollte aber meinen, daß Sie, nach allem, was man über Ihre und Ihres Herrn Sohnes Lebensweise hier hörte, noch andere Hilfsquellen haben, die Ihnen zu Gebote stehen und Sie instand setzen, meine Bitte, meine inständige und dringliche Bitte zu erfüllen!
Nicht wahr, Sie mißtrauen mir nicht? Sie haben auch die richtige Beurteilung meiner Situation und der Wichtigkeit, die meine Bitte für uns beide hat? Ich kann es dreist wiederholen: für uns beide!! –
Wie ich Sie kenne und schätze, weiß ich, Sie werden mich nicht lange in peinvoller Ungewißheit lassen, sondern mir baldigst antworten und, falls es irgend in Ihrer Macht steht, einen günstigen Bescheid senden.‘
So etwa schloß der Brief, der mir für seinen Absender ein gewisses Vertrauen abgewann.
Wieder, Maria, haben mir die Hände gezittert, als ich das Schreiben an seine alte Stelle zurücklegte, aber diesmal war’s ein Zittern vor Freude.
Ich sah einen Ausweg für Raimund, sah ihn deutlich genug vor mir! Schon die Adresse dieses Mannes, seinen Namen erfahren zu haben, war mir von unendlichem Wert – wie hätte ich wohl ohne diesen Brief dazu gelangen sollen? Am liebsten hätt’ ich mich hier zur Stelle an Vater Hagedorns Schreibtisch gesetzt und Herrn Leopold Steglhubers Brief beantwortet. Das Läuten der Hausglocke unten brachte mich auf andere Gedanken. Ich horte Stimmen im Flur – die Wirtin sagte dem [671] Heimkehrenden wohl Bescheid, wer in seiner Behausung auf ihn warte! Die Treppenstufen ächzten unter einem bedächtigen, etwas schweren Tritt, dann öffnete sich die Thür, und in ihrem Rahmen stand ein mittelgroßer alter Herr mit leuchtend weißem Silberhaar und intensiv blauen Augen – ohne jede Aehnlichkeit mit seinem Sohn, aber mit einem so lieben, guten Gesicht, so treuherzig gewinnenden Ausdruck, daß ich in der ersten Minute Zutrauen zu ihm faßte.
Ich stellte mich vor, schalt ein wenig auf seinen Sohn, der unsere Bekanntschaft nicht hatte vermitteln wollen, und mein alter Herr schalt mit und begriff den ‚Jungen‘ gar nicht, ihm etwas so ‚Seltenes und Schönes‘ – wörtlich! – vorenthalten zu haben. Nun kam die Rede auf seine verstorbene Gattin und meine Mutter, und er fand, ich sähe beiden sehr ähnlich, holte die Bilder herbei und verglich sie aufmerksam mit mir. Und dann sprachen wir von Raimund und seiner herrlichen musikalischen Begabung – da legte es sich wie ein Flor über die guten blauen Augen, die Stimme wurde dem alten Herrn rauh und unsicher, und wie ich teilnehmend fragte, ob gar keine Aussicht auf seine weitere Ausbildung sei, schüttelte er den Kopf und sagte seufzend: ‚Keine – gar keine! Der Mensch muß leben, Baroneß, der junge, auch der alte!‘ Dazu ein unwillkürlicher halber Seitenblick nach dem Brief auf dem Schreibtisch.
Hätte der alte Herr mich beobachtet, er hätte es wohl gewahren müssen, daß ich verlegen aussah, aber dergleichen fiel ihm zum Glück nicht ein, er hing ein Weilchen seinen trüben Gedanken nach, dann raffte er sich auf und bat mich um Verzeihung, daß er sich nicht besser habe beherrschen können: der Gedanke an seines einzigen Sohnes verfehlten Beruf und an seine Zukunft überkomme ihn jedesmal wieder wie ein neues Unglück. Wäre ich schon vertrauter mit ihm gewesen, so hätte ich jetzt das Gespräch auf seine pekuniären Verhältnisse bringen können, und ich glaube, er wäre dann ganz von selbst auf den Brief zu sprechen gekommen. Aber nein, es war besser so; ich hätte ihn doch nicht ins Vertrauen ziehen können; seine Kinderseele würde ein Geheimnis vor seinem Sohn nicht lange zu hüten vermögen.
Ich habe ihn gebeten, nach Raimunds Rückkehr bald einmal mit diesem nach Josephsthal, wo es jetzt so hübsch sei, herauszukommen, und er hat freudig zugesagt. Sein Blick ging immer wieder an mir hinauf und hinab, mit einer ganz unverhohlenen Bewunderung, aber es war auch Wehmut dabei: er fand wohl immer mehr Aehnlichkeit zwischen seiner verstorbenen Gattin und mir, und das rührte und ergriff ihn. Von meiner Mutter sprach er mit großer Verehrung: sie sei eine seltene Frau gewesen, und das Freundschaftsband, das sie mit seiner Helene verknüpft habe, ein ungewöhnlich inniges und festes. Wie seltsam es sei, daß er und sein Sohn jetzt, nach so langen Jahren, das kleine Püppchen, zu dessen Taufe sie damals von Wien herübergekommen seien, als erwachsene Dame wiedergefunden hätten und in naher Verbindung mit ihr stünden. Seltsam … jawohl!! –
Wir trennten uns wie zwei alte Freunde. Dann überfuhr ich in meinem leichten Wagen nach Haus. So schnell die Fahrt ging, mir war sie kaum rasch genug; ich konnte die Zeit nicht erwarten, am Schreibtisch zu sitzen und mit Herrn Leopold Steglhuber zu reden, eingehend und verständig, wie die Gelegenheit es erforderte. Das habe ich wirklich gethan. Ich sagte dem Mann, ich hätte durch einen Zufall Kenntnis von seinem Schreiben an Herrn Hagedorn Senior gewonnen, und ich bäte ihn, unter Wahrung strengster, ehrenwortlicher Diskretion, die gewünschte Kaution von mir anzunehmen, da ich Zutrauen zu ihm hätte, vor allem aber wünschte, daß es ihm bald gelingen möge, seinen Verpflichtungen diesem Gläubiger gegenüber gerecht zu werden. Ich erklärte offen, die Verhältnisse der beiden Hagedorns, des Vaters wie des Sohnes, seien derart, daß sie lediglich auf den Verdienst des letzteren angewiesen seien, sozusagen von der Hand in den Mund lebten und nicht einen Kreuzer des Geldes, das er, Herr Steglhuber, ihnen zurückzuerstatten habe, entbehren könnten. Ich bat um postwendende Antwort, ich beschwor den Mann, gegen jedermann, namentlich gegen die beiden Hauptbeteiligten, über diese Angelegenheit zu schweigen, und ich glaube, mein Brief ist so gut ausgefallen, wie mir dergleichen selten gelingt. In vier Tagen spätestens kann die Antwort aus Wien da sein.
Und nun, Liebste, leb’ wohl! Es ist Abend geworden, wie
ich diesen Brief schließe – – ein wonniger, warmer, sonnenübergossener Abend! Der Mai ist zu Ende, aber die Blüten sind noch da und die Düfte und all die süßen Vogelstimmen! Ich schließe Dich an mein Herz, ich küsse Dich und die Kinder und grüße Deinen Mann aufs herzlichste! In treuer Liebe allezeit
Deine Alix.“
Frau Major Sperber saß mit ihrer Häkelarbeit und einem guten Buch in einer hübschen halbrunden Fliederlaube des Josephsthaler Parkes. Ihr Gesicht, welches in der Großstadtluft schmal und blaß geworden war, hatte sich schon ganz ersichtlich gerundet und frischere Farben bekommen. Sie machte sich, seitdem sie anfing alt zu werden, nichts mehr aus der Existenz in der Metropole, sie liebte das Landleben, gute Luft und Ruhe; das konnte sie hier alles aus erster Hand haben. Die eigentliche „Kolonie“ lag ein tüchtiges Stück vom Schloß entfernt, der ganze, weit ausgedehnte Park schob sich dazwischen, man hörte keinen Ton arbeitender Maschinen, sah keine Rauchwolken den Himmel verfinstern und roch keinen Dampf, wenn man nicht direkt nach den „Werken“ hinüberging. Diese interessierten aber die Majorin, die trotz ihrer Jahre nicht aufgehört hatte, strebsamen Geistes zu sein, lebhaft – besonders wenn Ingenieur Harnack die Damen begleitete. Er gefiel der Majorin, und da er dies merkte, so wollte er auch seinen Nutzen davon haben und hatte vor kurzem, als er Frau von Sperber allein traf, ihr, zwar in verblümter Rede, aber doch deutlich genug zu verstehen gegeben, wie es um ihn stand, und daß er der glücklichste Mensch unter der Sonne sein würde, wenn es ihm gelingen möchte, sich Alix’ Gunst zu erringen!
Die Majorin fühlte sich durch das Vertrauen des ihr sympathischen und anderen gegenüber so verschlossenen Mannes sehr geschmeichelt. Anfangs reserviert, war sie bald ganz Feuer und Flamme. Was sie thun könne, ihm die Wege zu ebnen, solle gewiß geschehen, mein Gott, Alix könne ja doch eigentlich nichts gegen ihn haben – ein so gut aussehender, gescheiter und tüchtiger Mann, die eigentliche Seele des ganzen Geschäftsbetriebs! Kurz, die Dame hatte das in diesem Punkt sehr schwache Selbstvertrauen des Ingenieurs bedeutend gehoben.
Wie sie aber jetzt so in der Fliederlaube saß und wieder über die Sache nachdachte, stiegen ihr doch einige Bedenken auf. Alix war liebenswürdig und freundlich zu ihr, vertraulich hatte sie sich aber bisher noch nicht gezeigt, und die Majorin war zu klug und erfahren, um sich dies Vertrauen erzwingen zu wollen. Allerdings hatte sie bei dem jungen Mädchen Anzeichen wahrgenommen, die sich recht wohl als aufkeimende Liebe deuten ließen; aber nichts berechtigte sie zu der Annahme, daß es der Oberingenieur war, dem dieses Gefühl galt. Doch wem sonst? Die Nachbarschaft hatte nach und nach Besuch gemacht, die Gräfin Versing mit ihren beiden Söhnen war schon mehrfach dagewesen, ein paar junge unverheiratete Gutsbesitzer, stattliche Männer, die sich erst kürzlich in der Gegend angekauft, hatten sich gewaltig für die „schöne Müllerin“ ins Zeug geworfen; Vetter Cecil war auch noch da und hatte entschieden etwas auf dem Herzen; der junge Hagedorn – nun, der war ja eigentlich nichts und hatte nichts, aber seine Persönlichkeit stach die andern, streng genommen, alle aus, auch spielte er wunderschön Klavier.
Die Majorin mußte lächeln. Nun war sie selbst so alt geworden, daß ihre eigenen Herzensangelegenheiten ihr keine unruhige Stunde mehr bereiteten, da nahm sie sich diejenigen anderer Leute zu Gemüt – so sind die Frauen! Und noch dazu war sie gar nicht auf sich selbst bedacht, wenn sie für Alix Pläne schmiedete und sie für die Ehe gewinnen wollte …. sobald die schöne Mühlenprinzessin heiratete, war es mit der angenehmen Stellung ihrer Hausdame zu Ende, und diese konnte wieder in das nervenaufreibende Getriebe der Großstadt zurückkehren. – – Vorläufig aber saß sie wohlgeborgen in Josephsthal – wozu sich vorzeitig Sorgen machen?
Unterdessen schritt Alix die Lindenallee herab. Ihr Schritt war rasch, trotz der Hitze, die um diese Stunde noch nichts von ihrer Intensität eingebüßt hatte, und die Bewegung, mit der sie während des Gehens die Uhr aus dem Gürtel zog [672] und darauf niederblickte, verriet offenbare Ungeduld und Hast. Es sah sie niemand, wie sie, in ihrem weißen, gestickten Kleide, unbedeckten Hauptes, nur einen großen weißseidenen Sonnenschirm über sich haltend, ohne Handschuhe, leichten Fußes daherkam, und nur die Streiflichter, welche die Sonne durch das dichte Blätterdach der stolzen Lindenwipfel sandte, huschten und tanzten um sie her. Schwache Klänge zitterten durch die warme, stille Luft herüber – es schlug sieben Uhr, und gleich darauf setzte, bald aus der Ferne, bald in der Nähe, helleres oder tieferes, hastigeres oder langsameres Glockenläuten ein – die Josephsthaler Werke machten Feierabend. Tiefatmend stand Alix still. Kam nicht dort, am Ende der Allee, ein kleiner dunkler Punkt auf sie zu? Sie erkannte den Briefboten, nickte vor sich hin und begann nun, langsam, wie ziellos und zufällig, weiterzuschlendern – man sollte ihr die Hast und Ungeduld nicht anmerken!
Der Briefbote war inzwischen nahe herangekommen, hatte die weißgekleidete Dame bemerkt und ehrerbietig zwei Finger an den Rand seiner Mütze gelegt. Alix nickte leichthin.
„Etwas für mich da, Weßler?“
„Ich glaube ja, gnädigste Baroneß! Wollen gleich mal nachsehen!“ Er schob die Klappe von seiner Ledertasche zurück und ließ die Briefe durch seine Finger laufen.
„Frau Major von Sperber – noch einmal – Mister Cecil Whitemore – Fräulein Klaas, Hausmeisterin auf Schloß Josephsthal – Baroneß Hofmann ,eigenhändig‘ aus Wien!“
„Schön, Weßler! Sie können mir den gleich hergeben. Die übrigen tragen Sie nur nach dem Schloß. Und hier, Weßler, bitte!“
„O, aber – gnädigste Baroneß! Vielen Dank!“
Alix setzte gemessenen Schrittes ihren Weg fort. Als sie ein Stück gegangen war, sah sie nach dem Boten zurück. Er war fort; die Allee machte dort eine leichte Wendung, und der Mann war ihren Blicken entzogen. Mit bebenden Fingern riß das junge Mädchen den Briefumschlag herunter – ihre Augen überflogen die Zeilen – ein sonniges Lächeln verklärte ihre Züge – gottlob, es ging nach Wunsch. – –
Eine halbe Stunde später gesellte sich Alix zu Frau v. Sperber im Garten. Sie war gesprächig und liebenswürdig.
Und noch strahlender wurde ihr Gesicht, als James, der Diener, an seine junge Herrin mit der Meldung herantrat, Herr Hagedorn sei von seiner Urlaubsreise zurückgekehrt und bitte um die Gunst, von Baroneß empfangen zu werden.
„Ich ließe bitten, James – ich ließe hierher bitten. Der Abend ist so wundervoll“ – damit wandte Alix sich an die Majorin – „es käme mir förmlich wie Sünde vor, jetzt im Zimmer zu sitzen. James, besorgen Sie eine Flasche Rüdesheimer!“
Die junge Herrin wies auf eine kleine Gruppe zierlicher Bambusmöbel, die unter einer gewaltigen Platane stand.
Ein wundervoller Abend in der That! Die Sonne schickte sich an, hinabzusinken. In strahlender Glorie von Gold und Purpur brannte der westliche Himmel. In Feuerfluten gebadet standen die Baumwipfel. Dort, wo die Bäume ein wenig auseinander traten, loderte es wie helle Feuersbrunst, der Kiesweg begann zu glitzern wie von tausend funkelnden Brillanten bestreut, ein großer blühender Magnolienstrauch, der neben der Platane stand, glühte auf wie in Rubinlicht gebadet. Jetzt traf eine der roten Flammen das weiße Kleid des jungen Mädchens, das bei dem Strauch stehengeblieben war, traf das rotbraune Tizianhaar und setzte so wunderbar getönte Lichter darauf, daß dieser Anblick eines Porträtmalers Entzücken und Verzweiflung gebildet hätte – denn wie sollte er wohl dies seltene Schauspiel wiedergeben?
Nun, Raimund Hagedorn war kein Maler, aber er war künstlerisch veranlagt, er hatte schönheitsdurstige Augen, eine empfängliche Seele, und was bei dem Bilde, das er hier vor sich sah, durch diese Seele ging, das war so heiß, so übermächtig, daß er die Augen niederschlug, als blende ihn so viel Strahlenpracht, und daß er die Hand, die sich ihm entgegenstreckte, wortlos an die Lippen zog.
Sie ist wirklich außerordentlich freundlich gegen ihn, sagte sich die erfahrene Majorin Sperber, schon allein dies Lächeln, mit dem sie ihn ansieht! Ich habe, solange ich Alix nun kenne, immer gedacht, sie sei zu stolz, um zu kokettieren, heute möchte ich fast in Versuchung kommen, mein Wort zurückzunehmen.
„Willkommen in Josephsthal!“ sagte Alix derweilen, und eine leise Befangenheit ließ ihre Stimme ein wenig unsicher klingen. „Hat Ihnen die Stettiner Reise wohlgethan?“
„Nein!“ sagte Raimund beinahe schroff, und seine Augen irrten wie hilflos seitwärts ab, als wollten sie das berückende Bild lieber gar nicht mehr sehen. „Es thut mir leid, das sagen zu müssen, es sieht auch undankbar aus, da Baroneß mir diesen Urlaub selbst so bereitwillig gestattet haben – aber Sie wollten doch wohl die Wahrheit hören?“
„Ganz sicher!“ entgegnete Alix befangen – sein Ton und sein Gesichtsausdruck hatten beide etwas so Gequältes, daß es sie ängstigte. „Ich bedaure nur, daß Sie Ihren Zweck nicht erreichten. Wollen Sie sich nicht setzen? Hier, neben Frau von Sperber – ich glaube, Sie haben dieselbe noch gar nicht bemerkt?“
„Verzeihung, meine gnädigste Frau!“ Hagedorn verneigte sich tief. „Ich konnte Sie in der That nicht gewahr werden, ich Wurde zu sehr geblendet!“
„Das wurdest du, armer Gesell, in des Worts verwegenster Bedeutung!“ dachte die Majorin mitfühlend, während sie ein paar freundliche Worte sagte. Sie ließ sich in den zunächststehenden Bambusstnhl nieder und deutete für Hagedorn auf einen andern neben Alix. Er zögerte sichtlich.
„Meine Zeit ist mir sehr knapp zugemessen, Baroneß; ich bin hauptsächlich im Auftrag meines Vaters hier, der mich auf der Station erwartete, um mir eine Mitteilung von Wichtigkeit zu machen, und der mich bat, Ihnen nochmals seinen wärmsten Dank für Ihren liebenswürdigen Besuch auszusprechen, den er sich in nicht zu ferner Zeit erlauben werde, zu erwidern.“
Das kam alles sehr formell heraus, ebenso wie auch die Anrede „Alexandra“ wieder dem feierlichen „Baroneß“ gewichen war. Es bedurfte einer neuen einladenden Bewegung des jungen Mädchens, ehe Raimund sich überhaupt setzte. Er sah unruhig und verstimmt aus, und über seinem ganzen Wesen lag etwas wie mühsam unterdrückte Opposition, die am liebsten laut Hinausrufen mochte: Mutet mir nicht länger dieses Komödienspiel zu! Ich will nicht mehr, und ich kann auch nicht mehr!
Nahe genug daran war er, dies wirklich zu sagen. Zwang war seiner Natur aufs tiefste verhaßt, und wie hatte er sich jahrelang zwingen müssen, seinen Neigungen zu entsagen, einen ihm unsympathischen Beruf auszuüben! Jetzt noch die Erfahrungen der letzten Tage und dies Gefühl für Alix, das ihn wie auf die Folterbank spannte, ihm wie zum Hohn das Schönste und Verlockendste dicht, dicht vor die Augen hielt, um ihm die völlige Aussichtslosigkeit seiner ganzen Lebenslage nur noch einschneidender zum Bewußtsein zu bringen!
Ahnte – wußte Alix dies? Sagte sie sich, daß die ganze Stettiner Reise nichts als ein Vorwand gewesen war, eine Art Flucht vor ihr, vor sich selbst, vor seiner eigenen übermächtigen und hoffnungslosen Leidenschaft? Daß er gewähnt hatte, dasjenige, was bisher am stärksten in seinem Leben gewesen war, die Musik, würde ihm vielleicht helfen, für ein paar Tage wenigstens die Leidenschaft zurückzudämmen, die so ganz von ihm Besitz ergriffen hatte?
Es war dem jungen Mädchen beklommen zu Sinn, trotz des Frohgefühls, das sie vor kaum einer halben Stunde noch erfüllt hatte, trotz des Briefes, der in ihrer Tasche knitterte. Sie war so glücklich gewesen über ihren Plan; im Hochgefühl des reichen, des verwöhnten Mädchens hatte sie „Schicksal spielen“, eines Menschen Lebensschiff mutig und geschickt über die Klippen hinwegleiten wollen …. jetzt kamen ihr Zweifel. War es auch recht gewesen? Würde auch alles glücken, und, wenn es glückte, würde Raimund auch nie den Zusammenhang erfahren? Und wenn er ihn dennoch erfuhr … konnte er sie nicht mißverstehen, konnte er ihre gute Absicht nicht verkennen, bei seinem empfindlichen Ehrgefühl sich gekränkt fühlen? Raimund Hagedorn war offenbar nicht der Mann, sich emporheben zu lassen: er wollte selbst etwas einzusetzen und zu bieten haben. Wie unbedeutend aber erschien ihm die Stellung, die er zur Not ausfüllte, die ihm und seinem Vater den Lebensunterhalt, dessen sie bedurften, gewährte, und die ihm von ihr besoldet wurde! Stachel genug für einen Mann, der trotz seines sorglosen Auftretens doch so viel Selbstachtung und Stolz besaß, um dies Dasein als eine Demütigung zu empfinden. Daß er es aber so empfand, [673] daß er dachte, wie er dachte, und ehrlich genug war, dies zu zeigen, eben das hob ihn in Alix’ Augen!
Die Majorin von Sperber sah deutlich genug den Zwang, der auf den beiden lag. Daß Alix die Bekanntschaft Hagedorns des Aelteren gemacht hatte, war ihr neu, und sie wunderte sich im stillen, warum das junge Mädchen ihr diesen Umstand verschwiegen habe.
Als der Wein kam, goß sie die Römer voll und lud zum Trinken ein. Der Rüdesheimer hatte eine köstliche Blume, und die Sonnenfunken tanzten in den Glaskelchen, aber die Miene, mit welcher Raimund Hagedorn sein Glas erhob und „das Wohl der Baroneß“ trank, blieb ernst, und Alix’ Dank war nicht weniger förmlich.
„Sie sind uns noch eine Erklärung schuldig, Herr Hagedorn,“ begann die Majorin von neuem, da die beiden wieder in Schweigen verfielen, „weshalb das Stettiner Musikfest Ihren Erwartungen nicht entsprochen hat!“
„Habe ich das gesagt, gnädige Frau?“ war Raimunds hastige Gegenfrage. „Ich meine, Baroneß hätte zu wissen gewünscht, ob mir die Stettiner Fahrt wohlgethan habe, da mußte ich, der Wahrheit gemäß, mit Nein antworten. Das Musikfest aber ist hieran ganz unschuldig, es fiel schön und gelungen aus, mir fehlte wohl diesmal die richtige Stimmung.“
Die Majorin sah verlegen drein, es that ihr leid, dies Thema angeschlagen zu haben. Sie suchte nach einem anderen, um das peinliche Schweigen zu brechen. „Wie schade,“ sagte sie nach einer Pause unsicher, „ich erinnere mich noch immer mit Vergnügen Ihres wunderschönen Spieles, damals auf unserem Fest. Haben Sie sich niemals als Komponist versucht?“
„Ein wenig. Ich habe als harmloser Dilettant einige Lieder komponiert, verschiedene Klavierstücke und sogar ein Streichquartett! Das Streichquartett hat einer meiner Wiener Bekannten ohne mein Wissen an Johannes Brahms gegeben, und ich besitze einen eigenhändigen, freundlichen und aufmunternden Brief von ihm, der mir sogar Erfolge verheißt, wenn mir ein paar Jahre ernsthaften Studiums vergönnt wären!“
„Aber das ist ja prächtig, ist ja wundervoll!“ Frau von Sperber hatte ihre Verlegenheit überwunden und war ganz bei der Sache. „Auf diese Anerkennung dürfen Sie mit Recht stolz sein! Das ist ja gewissermaßen schon eine sichere Gewähr für Ihre Zukunft! Alix, was sagen Sie dazu?“
„Ich teile Ihre Ansicht, liebe Frau von Sperber!“
In Alix wachten aufs neue Hoffnung und Freude auf; ach, ihr Plan mußte – mußte gelingen!
„Aber bitte, meine Damen, freundliche Ermunterung eines Anfängers, mehr nicht!“ Raimund zog ein kleines Bündel Papiere aus seiner Brusttasche.
„Die Stettiner Programme .... Baroneß erinnern sich vielleicht, daß ich versprechen mußte, sie mitzubringen!“
Jawohl, das junge Mädchen erinnerte sich dessen, und wie sie sich jetzt zu ihm herüberneigte, um Einsicht in die Blätter zu gewinnen, streifte sie mit dem Arm die Magnolie; der Strauch kam ins Beben, einzelne überreife Blüten zerfielen und streuten ihre weißrosigen Blätter über das gesenkte Haupt, über Nacken und Schultern, der feine, fast unmerkliche Duft ihres Haares wehte zu Raimund hinüber und steigerte seine Erregung ins beinahe unerträgliche.
„Und nun mögen Baroneß mir gütigst gestatten, mich zu beurlauben. Wenn die Damen diese Blätter einstweilen hier behalten wollen –“ Damit stand Raimund auf.
Die Majorin sah kopfschüttelnd zu ihm in die Höhe. Welch sonderbarer Mensch dieser Herr Hagedorn doch war!
In diesem Augenblicke erschien James, der in seiner lautlosen Manier um die Platane herumgekommen war, und in einiger Entfernung folgte ihm ein älterer Herr. Sich vor Alix [674] verneigend, meldete der Diener leise: „Herr Justizrat Ueberweg bittet um die Ehre, Baroneß – –“
„Sehr willkommen!“
Raimund Hagedorn hatte bereits eine Bewegung gemacht, seinen Hut zu ergreifen, zögerte nun aber und sah dem Rechtsanwalt mit offenbarer Spannung entgegen.
„Guten Abend, meine Herrschaften! Erschrecken Sie nicht, liebe Alix! Es ist nichts Bedenkliches, was mich diesmal herführt, es handelt sich um ein juristisches Gutachten, dessen Ihr Vetter Whitemore und der Direktor des Walzwerkes bedürfen. Die Herrschaften mögen ruhig ihre Sitzung bei diesem Rüdesheimer, der übrigens ein hervorragendes Bouquet hat, wieder aufnehmen, ich bin kein Spielverderber! Wie geht es Ihnen, Herr Hagedorn? Habe noch oft an Ihr prächtiges Klavierspiel an jenem Abend denken müssen! Wär’ ich ein Zauberer, ich versetzte Sie mit einem Schlag ans Dirigentenpult und auf den Klaviersessel –“
„Und dafür eine geeignetere Kraft auf meinen Comptoirstuhl, nicht so, Herr Justizrat?“ vollendete Raimund mit einem erzwungenen Lächeln.
„Das entzieht sich meiner Beurteilung,“ entgegnete Ueberweg gelassen und zog sich einen Stuhl herbei. „Danke, James! Das Wohl der Damen! Ein exquisiter Tropfen! Ja, ja, liebe Alix, Ihres Papas Weinkeller genießt nicht umsonst seinen Ruf. Ich hoffe sehr, Herr Hagedorn, daß ich Sie nicht vertreibe!“
Der junge Mann war noch immer unschlüssig stehen geblieben. „Im Gegenteil, Herr Doktor! Ich möchte gern die Gelegenheit benützen, Sie bei Ihrem Weggehen noch kurz zu konsultieren, falls Ihre Zeit es gestattet –“
Der Justizrat zog seine Uhr zu Rat.
„Ein Viertelstündchen darf ich schon an dieser einladenden Rüdesheimer Quelle verweilen,“ entgegnete er launig, „und wenn Sie uns bis dahin Gesellschaft leisten wollen, so kann es mir nur angenehm sein, wenn Sie mich dann begleiten. Daß es mir schwer werden wird, mich von hier so rasch loszureißen, bedarf wohl keiner Versicherung.“ Der Justizrat warf dabei einen sehr ausdrucksvollen Blick auf Alix.
„In diesem weißen Gewand und mit den Blumenblättern, die über Sie hingestreut sind – bitte, bitte, nicht fortnehmen, lassen Sie sie ja, wo sie sind! – bieten Sie einen Anblick, liebe junge Freundin, der zum Beispiel Ihren Verehrern, den beiden jungen Grafen Versing, Atem und Besinnung zugleich rauben würde. Ich war vorgestern dort, und wir haben eigentlich von nichts anderem als von Ihnen geredet!“
Alix hob den Kopf und hatte die Miene der „Diana von Versailles“.
„Wie außerordentlich schmeichelhaft für mich! Und beide Grafen sagen Sie? Sie werden doch nicht damit enden, die Tragödie der feindlichen Brüder aufzuführen!“
„Mir scheint,“ nahm die Majorin das Wort, „die jungen Herren bekommen außerordentlich oft Urlaub!“
„Das scheint mir auch!“ bestätigte der Justizrat trocken. „Sie müssen wohl zwingende Gründe dafür haben!“
„Waren Sie bei Versings zu Gast?“ fragte Frau von Sperber.
„O nein, meine gnädige Frau, ich hatte geschäftlich dort zu thun. Das bürgerliche Element“ – der Justizrat hob den Zeigefinger und zog die Brauen empor – „ist in diesem feudalen Hause nur dann zulässig, wenn es Jugend und Schönheit in die Wagschale zu werfen hat!“
„Sonst nichts?“ meinte Alix spöttisch. „Mir scheint, lieber Doktor, Sie hätten die Hauptsache vergessen!“
Raimund hatte schweigend sein Glas leer getrunken und auf Rede und Gegenrede gehört, während er dabei sichtlich seinen eigenen Gedanken nachging. Wie hochmütig sie aussehen konnte! Als armer Mann in untergeordneter Stellung auch nur den Blick zu einem solchen Mädchen zu erheben, ja, es war der helle Wahnsinn, und Raimund schwur sich’s zu, diesem Wahnsinn keine Macht mehr über sich zu gestatten! Dazwischen folterte ihn die Frage, ob er recht gethan hatte, hier zu bleiben, dem Justizrat seine Begleitung anzutragen – ob es nicht besser gewesen wäre, unter irgend einem Vorwand seinen Rückzug anzutreten, der ja schon vorbereitet gewesen war.
Inzwischen war die Sonne in ein Flammenmeer hinabgetaucht – noch aber schwammen die kleinen Wölkchen in Rosenglut. Die Nachtigallen, die am Tage in der Tiefe des Parkes verweilten, lockten jetzt in unmittelbarer Nähe, und Amsel und Drossel antworteten ihnen. Die glühenden Lichter auf Alix’ rotbraunem Haar waren erloschen, nur über das weiße Kleid zog sich hier und da ein blaßgoldener Reflex – der lichte, schöne Sommertag nahte seinem Ende. – Wieder zog der Rechtsanwalt seine Uhr.
„Höchste Zeit für mich!“ Er erhob sich sofort. „Gnädigste Frau, meine liebe Alix, ich habe die Ehre! Wie ist es, Herr Hagedorn, darf ich auf Ihre Gesellschaft rechnen?“
„Wenn Sie gestatten! Baroneß – ich empfehle mich!“
Ein Handkuß für beide Damen, so ceremoniell und flüchtig zugleich, daß kaum der Rand der Lippen die Hände streifte, eine tiefe Verbeugung hier wie dort, und der junge Mann schritt an der Seite des älteren der Gitterpforte zu.
[687]Nun, Herr Hagedorn,“ brach der Rechtsanwalt nach längerer Zeit das Schweigen und sah seinen jungen in sich gekehrten Begleiter aufmerksam von der Seite an, „Sie haben mir etwas mitzuteilen?“
Hagedorn biß sich in die Lippe und atmete schwer. „Allerdings, das hätte ich wohl!“ sagte er gedrückt.
„Also, bitte! Was ist es?“
Der junge Mann blickte über seine Schulter zurück. Das stolze, hochragende Gitterthor des Parkes lag bereits ein ganzes Stück hinter ihnen. Da der Rechtsanwalt den Weg zur Walzmühle einschlug, so mußten sie die Lindenallee kreuzen und kamen alsbald auf freies Terrain, eine Art Feldweg, der sich zwischen niedrigen Hügeln und Weizenbreiten hinwand. Zur Walzmühle war es noch etwa zwanzig Minuten zu gehen, man gewahrte sie von hier aus noch nicht, da sie mehr im Thal lag und mehrere Wegkrümmungen sich dazwischen schoben.
„Sind Sie, Herr Justizrat,“ begann Raimund stockend, „der – der Mordaffaire irgendwie nähergekommen?“
„N – – ein,“ erwiderte der Gefragte in gedehntem Ton, zugleich mit einer Miene, als bereite ihm die Frage Verlegenheit. „Das heißt, wir glaubten bereits vor einiger Zeit, eine Spur gefunden zu haben, aber das war leider ein Irrtum. Eine außerordentlich unfruchtbare Geschichte für mich, wie für meine Herren Kollegen! So sehr wir alle wünschten, in der Sache weiter zu kommen …. wie die Dinge liegen, ist verzweifelt wenig Aussicht dazu!“
„Und Sie können mir nicht andeuten,“ fragte Hagedorn, „welcher Art die Spur war, die Sie gefunden zu haben meinten?“
„Nein,“ erwiderte Ueberweg ernst, „das kann ich nicht wohl, da es eben nichts als eine Hypothese war, die ebensogut richtig wie falsch sein konnte. Sie jetzt nachträglich aussprechen, das hieße, einen vielleicht ganz unschuldigen Menschen verdächtigen, einen Menschen noch dazu, dessen Aufenthalt zur Zeit nicht hat ermittelt werden können, den man also gar nicht auf die Haltbarkeit oder Unhaltbarkeit dieses Verdachtes hin zu prüfen imstande war.“
„Und meinen Sie nun, Herr Justizrat,“ begann Hagedorn, nach einer Pause von neuem, „daß es die Pflicht eines Menschen ist, der zufällig ein Verdachtsmoment erfaßt hat, dieses der Justiz zu unterbreiten, auch wenn es kein Beweis genannt werden darf?“
„Ohne Zweifel hat der Betreffende diese Pflicht!“ Der Rechtsanwalt sprach sehr nachdrücklich und ruhig; er holte zugleich seine Cigarrentasche hervor und brannte sich eine Cigarre an, ein Verfahren, das sich seine näheren Bekannten sofort zu deuten gewußt hätten: er behauptete, bei der Cigarre besser zuhören und schärfer denken zu können.
Raimund beachtete das nicht, er lockerte mit der Rechten seinen Halskragen, wie wenn ihm derselbe plötzlich zu eng würde.
„Und doch weigerten Sie sich zuvor, dasselbe zu thun,“ sagte er endlich mit Anstrengung. „Sie meinten, es sei Ihnen unmöglich, einen vielleicht ganz unschuldigen Menschen zu verdächtigen.“
„So meine ich auch jetzt noch, ich muß dabei bleiben. Und wären Sie nicht in sichtlicher Erregung, Herr Hagedorn, so entginge Ihnen wohl nicht der gewaltige Unterschied in der Lage der Dinge: der Jurist hat andere Verpflichtungen als der Privatmann, welcher jedes Verdachtsmoment dem Juristen mitteilen soll, als Material, das die Justiz sich möglicherweise zunutze machen kann! Die Verantwortung des Juristen ist hundertmal größer als die des Privatmanns!“
„Sie haben recht!“ stieß Raimund abgebrochen hervor. „Wenn Sie aber wüßten, was der Entschluß mich kostet – bei meiner ganzen Naturanlage – und ich habe noch nie etwas Aehnliches in meinem Leben gethan! Es – sieht einer – Denunziation so verzweifelt ähnlich!“
Beschwichtigend legte ihm der Rechtsanwalt die Hand auf den Arm.
„Wohl kann ich mich in Ihre Lage versetzen – Sie kommen sich wie ein Angeber vor. Aber indem Sie der Justiz helfen, einen Schuldigen zu ergreifen, erweisen Sie nicht nur ihr, erweisen Sie gewissermaßen der ganzen Menschheit einen Dienst, denn sie darf mit Recht fordern, daß gemeingefährliche Elemente ausgesondert werden.“
„Und wenn es sich erweist, daß es der Schuldige gar nicht ist, daß ein Makel auf einen Menschen geworfen wird, ver vielleicht nur durch eine unglückliche Verkettung von Umständen bei der ganzen Sache beteiligt war?“
„Mein bester Herr Hagedorn, das Gericht geht bei dergleichen Dingen mit der äußersten Vorsicht zu Werke. Es müssen sich schon schwerbelastende Verdachtsmomente häufen, ehe es auch nur zur Untersuchungshaft kommt, welche freilich leider auch einen Unschuldigen einmal treffen kann.“
[688] „Es tritt noch ein Umstand hinzu,“ sagte Hagedorn gepreßt, „der mir die Angelegenheit doppelt peinlich macht. Ich – ich stehe persönlich mit – jemand gespannt, der ein nahes Interesse an der Sache haben und denken muß, dieser Umstand sei auf meine Handlungsweise nicht ohne Einfluß geblieben.“
Der Rechtsanwalt horchte auf und dampfte so heftig aus seiner Cigarre, daß gewaltige blaue Ringel in die stille, heitere Abendluft emporflatterten.
„Dies darf Sie gleichfalls nicht bestimmen, mit Ihren Mitteilungen zurückzuhalten!“ entgegnete er fest. „Sie können sich außerdem überzeugt halten, daß man sich der äußersten Vorsicht bedienen und Ihren Namen erst dann nennen wird, wenn dringende Notwendigkeit es gebietet!“
„Ich fürchte, sie wird es gebieten! Zur Sache also! Ich fuhr zum Musikfest nach Stettin – ich wollte, ich hätte es nicht gethan, aus mehr als einem Grunde! – und traf dort einen alten Bekannten, noch aus meiner Wiener Zeit. Wir hatten fast ein Jahr hindurch Pult an Pult in demselben Comptoir gearbeitet, und ich hatte den ehrenhaften, tüchtigen Menschen immer gern gehabt. Wir freuten uns beide sehr, alte Erinnerungen wurden aufgefrischt. Mein Bekannter – Wollheim ist sein Name – hat jetzt Stellung in Rostock in einem großen Bankgeschäft, nachdem er früher jahrelang im Westfälischen bei einer Fabrik Disponent gewesen ist. Wir fragten uns gegenseitig unsere Lebensschicksale ab. Wie ich ihm sagte, daß ich hier in der Kolonie Josephsthal sei, stutzte er und fing von dem Mord an – ich solle ihm doch ja sagen, was ich davon wüßte ....“
Raimund trocknete sich mit seinem Taschentuch die Stirn.
„Und Sie sagten ihm das,“ fiel Ueberweg ein, absichtlich in nüchternem, geschäftsmäßigem Ton sprechend.
„Ja, – ich erzählte es ihm – auch, wie die Sache mir nahegegangen, da ich doch mit Baron Hofmann verwandt und ihm zu Dank verpflichtet gewesen sei. Wollheim wollte nun genau wissen, was die Justiz herausgebracht, auf wen sie Verdacht gehabt und so weiter. Ich sagte ihm, was ich wußte, auch daß ein gewisser Kraßna, ein Pole, der kurze Zeit in den Werken gearbeitet habe, nach seiner wegen Aufwiegelung der Leute erfolgten Entlassung verhört, aber wegen Mangels an Beweisen und eines beigebrachten Alibis wieder freigegeben worden sei. Nun rückte er mit der Sprache heraus. Diesen Kraßna kenne er, derselbe sei auch in jenem westfälischen Fabrikort beschäftigt gewesen und habe dort einen guten Freund gehabt, mit dem er förmlich unzertrennlich gewesen sei. „Dieser Freund –“ Hagedorn stockte. „Dieser Freund,“ fuhr er dann mit Anstrengung fort, „ist ein jüngerer Bruder des hiesigen Oberingenieurs Harnack, ein begabter, aber sehr leichtsinniger Mensch, der keine gute Vergangenheit hat. Er hat damals, als sein Bruder die ausgezeichnet gut dotierte Stelle in Josephsthal bekam, den Chef der Werke, Baron Hofmann, brieflich ersucht, ihn, den jüngeren [689] Harnack, ebenfalls in einer der Mühlen zu beschäftigen, und für die Zukunft alles Gute versprochen. Der Baron, der sehr genau informiert war wie immer, wies ihn kurz ab und machte sogar die definitive Anstellung des älteren tüchtigen, ihm warm empfohlenen Bruders von der Bedingung abhängig, daß der jüngere Harnack nie die Kolonie Josephsthal betreten, nie sich in irgend welche persönliche Beziehung zu seinem Bruder setzen dürfe.
All dies hat der junge Harnack eines Abends dort in Westfalen in Gegenwart meines Bekannten und zweier oder dreier anderer ,Kollegen‘ in besonders animierter Stimmung selbst erzählt. Schon damals hat er Drohungen gegen den hochmütigen ‚Geldprotzen‘, den ,Tugendhelden‘, der anständigen Leuten gegenüber einen solchen Ton anzunehmen und sie schnöde zurückzuweisen wage, ausgestoßen: es sei noch nicht aller Tage Abend, und es würde eine Zeit kommen, da die Herren Fabrikanten und Kapitalisten ihren hohen Ton gewaltig herabstimmen werden. Die kleinste Pistolenmündung verrichte oft Wunderdinge! – Wollheim und die andern haben den jungen Menschen zu beschwichtigen gesucht und diese Drohungen für die hohlen Renommistereien eines stark angetrunkenen Prahlers genommen.
Bald darauf ist Harnack junior entlassen worden und unmittelbar danach auch Kraßna – die beiden haben sehr häufig geäußert, sie würden bei einander bleiben und wären Freunde fürs ganze Leben. Es hieß, der ältere Harnack, der schon verschiedentlich namhafte Opfer für seinen Bruder gebracht, habe diesem das Geld gegeben, nach Amerika hinüberzugehen und sich dort eine Zeit lang über Wasser zu halten. Kraßna kam damals nach Josephsthal, verschwand aber bald wieder, und nach seinen Reden hätte man annehmen sollen, er werde seinem Freund Harnack als treuer Intimus in die Neue Welt folgen – doch stellte es sich heraus, daß er eine Stelle in Mecklenburg angenommen hatte.“
Der Rechtsanwalt warf sein Cigarrenstümpfchen in hohem Bogen fort und zündete sich eine neue Cigarre an.
„Mein Freund Wollheim,“ fuhr Hagedorn fort, „hatte als eifriger Zeitungsleser, der er ist, die Josephsthaler Mordaffaire mit Interesse verfolgt, dann dasselbe, da keine Resultate erfolgten, allmählich fallen lassen. An die beiden Freunde, Harnack und Kraßna, mit denen er persönlich keine Beziehungen gehabt, dachte er gar nicht mehr; er hatte andere Dinge, die ihn beschäftigten. Da erhielt er von seiner einzigen Schwester, die an einen Kaufmann in Breslau verheiratet ist, einen Brief, in dem sie ihn bat, sich ihres jungen Schwagers, des Bruders ihres Mannes, anzunehmen. Der junge Mensch, ein Baubeflissener, hatte vor kurzem eine nicht unbedeutende Erbschaft angetreten; die Kontrolle im Hause des verheirateten Bruders sagte ihm nicht länger zu, er hatte beschlossen, zunächst für einige Zeit zu reisen, ,sich die Welt anzusehen‘, und seine Verwandten hatten den blutjungen, zum Leichtsinn neigenden Menschen nicht ohne Sorge von sich [690] gelassen. Die Sorge erwies sich als gerechtfertigt: er hatte in den ersten Wochen äußerst spärliche Nachrichten gegeben, dann blieben auch diese aus, angestellte Nachforschungen hatten keinen Erfolg, bis es mit einem Male hieß, er sei in Rostock gesehen worden, und zwar unter Verhältnissen, die mit Sicherheit darauf schließen ließen, er sei in sehr schlechte Gesellschaft geraten. Wollheims Schwester und deren Gatte beschworen nun meinen Freund, sein Möglichstes zu thun, den jungen Menschen zunächst aufzufinden, sodann ihn von den Schlingen, in die er geraten war, zu befreien, sei es auch mit Geldopfern, und womöglich den Seinigen wieder zuzuführen.
So kam es, daß Wollheim, einer der solidesten, nüchternsten Leute, die ich kenne, überdies ein schon älterer Mensch, für den gewisse Versuchungen gar nicht existieren, sich in Lokale begeben, unter Individuen mischen mußte, die er sehr viel lieber hätte meiden mögen. Nähere Schilderungen hätten weiter keinen Zweck – die Hauptsache für uns ist die, daß er den Gesuchten als treuen Kumpan, als Dritten im Bunde mit eben jenen beiden Freunden fand, von denen ich Ihnen schon sprach – Kraßna und Harnack junior.“
„Lebt der letztere jetzt in Rostock?“ fragte lebhaft Ueberweg und hielt seinen Schritt an – die Walzmühle lag in geringer Entfernung vor ihnen.
„Es scheint, daß er dort nur zeitweise ist. Er muß ein sehr unstetes Leben führen, bald hier, bald dort auftauchen, zuweilen auch unter fremdem Namen. In hiesiger Gegend wird er offenbar durch ein Liebesverhältnis mit einem Mädchen festgehalten, das mehrfach in seiner Gesellschaft gesehen worden ist. Meinem Bekannten ist sein Benehmen, namentlich auch sein großer Geldbesitz, verdächtig vorgekommen; er hat zwar keinen festen Anhalt gefunden, die Polizei in Anspruch zu nehmen, indessen –“
„Indessen,“ fiel der Rechtsanwalt ein, „verdient er sich schon dadurch unsern Dank, daß er uns nachweist, wo der Mann überhaupt zur Zeit ist. Denn wir haben ihn gesucht und suchen ihn noch in allen umliegenden Städten – in Stralsund, in Anclam, in Stargard, in Wismar, wo er überall gesehen worden ist, um in beinahe unbegreiflicher Weise alsbald wieder zu verschwinden. Selbst hier in der Kolonie Josephsthal ist er unlängst gewesen –“
„Unglaublich! Unmöglich!“
„Weder das eine, noch das andere! Sein Erscheinen hier wäre nur der beredteste Beweis dafür, wie sicher er sich fühlt, wie von jedem Verdacht ausgeschlossen. Und mehr als ein Verdacht kann auch vorläufig nicht gegen ihn geltend gemacht werden. Vor allen Dingen, wenn man einen Menschen verhören und überführen will, muß man ihn haben, und das gerade war es, woran bisher unsere Kunst scheiterte. Gestatten Sie mir jetzt noch ein paar Fragen, Herr Hagedorn: wann hat Ihr Freund Wollheim den jüngeren Harnack zum letztenmal gesehen?“
„Wir sind gestern und vorgestern des Abends zusammengewesen, Wollheim und ich, und er sagte, wenn ich mich recht entsinne, daß er noch ein paar Tage zuvor Harnack junior gesehen habe.“
„Ist ihm seine Wohnung in Rostock bekannt?“
„Nein, obgleich Wollheim mehrmals versucht hat, dies gesprächsweise zu erfahren. Er hat aber gehört, daß seine Kumpane ihn mit dem Namen Starke anredeten, während Kraßna ihn mit seinem Vornamen Reinhold oder Holdchen genannt hat.“
„Hat Ihr Freund kein weiteres Verdachtsmoment genannt als nur das eine, daß Harnack ihm auffallend viel Geld zu besitzen scheine?“
„Doch! Er werde unruhig, sobald das Gespräch auf Baron Hofmann und die Mordaffaire komme, oder sobald auch nur der Name des Barons in Verbindung mit dem seines Bruders genannt werde. Als Wollheim ihn fragte, warum er seinen Namen geändert habe, habe er erwidert, das thue er seines Bruders wegen, welcher jede seiner Handlungen überwachen wolle. So etwas werde lästig; außerdem sei der Herr Oberingenieur ein fürchterlich strebsamer und fleißiger Tugendbold, der ihm ewig dasselbe Lied vom Segen der Arbeit vorsinge – und da habe er keine Lust, einzustimmen, er brauche das nicht, seit er in Amerika so reich geworden. Auf meines Freundes Frage, wie lange oder vielmehr, wie kurze Zeit er denn drüben gewesen wäre und wie er es angefangen habe, in der kleinen Frist so viel Geld zu erobern, habe er lachend erwidert, das Rezept dazu könne er nicht jedem Beliebigen geben, der ihn danach frage. Dies alles, was ich Ihnen jetzt erzählte, hat sich im Verlauf von einigen Wochen abgespielt, während welcher Zeit der junge Harnack auch einmal acht Tage hindurch gar nicht in Rostock gewesen ist, wie er gesprächsweise geäußert hat. Wollheim wird ihn im ganzen vier- bis fünfmal gesehen haben. Ich habe Ihnen, Herr Justizrat, wort- und wahrheitsgetreu alles berichtet, was mein Wiener Bekannter mir gesagt hat. Er hat gezögert, der Rostocker Polizei irgend welche Anzeige zu machen, da er nur einen, ich möchte sagen, rein persönlichen, aus ihm selbst hervorgegangenen Verdacht hegt, den er mit Beweisen nicht belegen kann. Er vermag selbstverständlich auch in keiner Weise dafür einzustehen, daß man heute noch Reinhold Harnack, alias Starke, in Rostock findet; der Vogel kann längst wieder ausgeflogen sein. Nur als Wollheim hörte, ich lebte in Josephsthal und die Justiz suche heute noch ebenso eifrig und ebenso resultatlos nach dem Mörder des Baron Hofmann, wie sie vor fast vier Monaten gesucht habe – da hielt er es für seine Pflicht, mir die Idee, die er sich gebildet, mitzuteilen und mich zu beauftragen, falls ich sie für wichtig genug dafür hielte, sie dem Untersuchungsrichter oder dem Staatsanwalt, kurz, der ersten maßgebenden juristischen Persönlichkeit, die ich aufzufinden vermöchte, zu unterbreiten. Ich weiß nicht, ob Ihnen die gegebenen Winke nützen können, ob dieselben ein Resultat ergeben werden …. ich weiß nicht einmal, ob ich dies wünschen soll. Ich bin mit mir zu Rate gegangen seit gestern nacht – – ich habe nicht schlafen können, habe hin und her gedacht …. es ließ mir aber keine Ruhe! Darum habe ich mich überwunden und habe gesprochen!“
„Sie thaten recht daran!“ sagte der Rechtsanwalt fest und schüttelte dem jungen Mann kräftig die Hand. „Ich glaub’ es Ihnen gern, daß es Ihnen schwer fiel – Sie sehen wirklich ganz blaß aus. Und wenn Sie in diese Geschichte hineinverflochten werden –“
„Ist das unvermeidlich?“
„Doch wohl – schon wenn es sich darum handelt, festzustellen, wie wir zu Ihrem Freunde Wollheim gekommen sind, dessen wir entschieden als Zeugen bedürfen werden …. Wenn Sie also, wiederhole ich, in diese Sache verwickelt werden, so sagen Sie sich zu Ihrem Trost, daß die Vorsehung Sie zu ihrem Werkzeug ausersehen hat, den Schuldigen zu fassen.“
„Ein sehr schwacher Trost!“ sagte Raimund mit einem mühsamen Lächeln.
„Der einzige, den ich Ihnen geben kann.“ Der Justizrat sprach eilig, er war offenbar mit seinen Gedanken schon weit fort. „Haben Sie einstweilen Dank, Herr Hagedorn – Sie kehren wohl jetzt um?“
„Gewiß …. aber Sie? Sie wollten ja doch in die Walzmühle –“
„Kann ich fürs erste noch nicht! Habe noch etwas zu erledigen bei – bei – einem Arbeiter –“
„Arbeiter? Hat man auf einen von ihnen hier Verdacht?“
„Nein,“ entgegnete Ueberweg und lächelte ganz eigentümlich dazu, „auf diesen, den ich meine, hat man entschieden keinen Verdacht. Das wäre auch mehr wie kurios! Also adieu, und auf Wiedersehen!“
Raimund lüftete stumm den Hut und ging denselben Weg zurück, den er gekommen war.
Sie hatten im Gartensaal, dessen Thüren und Fenster geöffnet waren, ihr Abendesien eingenommen. Vier Personen, wie immer: Alix, die Majorin von Sperber, Françoise und Cecil Whitemore. Es war noch hell im Gartensaal, ein halbes Dämmern, das jeden Gegenstand deutlich genug erkennen ließ, allem aber eine weiche Kontur gab.
„Nein, lassen Sie das Anzünden!“ sagt Alix über die Schulter zu James, der die Glasschale mit duftenden Erdbeeren als Nachtisch aufsetzt und seine junge Herrin in diskretem Ton fragt, ob sie Beleuchtung wünsche. Dann thut sie mit dem silbernen Löffel einige Erdbeeren in ihr halbvolles Glas Rheinwein und sieht träumerisch zu, wie die winzigen [691] Perlen im Glase aufsteigen und sich um die kleinen roten Früchte ansammeln.
Schon während des Essens war Alix merkwürdig einsilbig gewesen; auch jetzt versinkt sie wieder in ihre Gedanken. Françoise telegraphiert über ihr erhobenes Weinglas mit den Augen sehr ausdrucksvoll zu der Majorin hinüber, diese erwidert das nicht, weil sie es unpassend findet und auch meint, Alix könnte es bemerken. Deswegen dürfte sie es ruhig thun – Alix hat für nichts Augen. Und Cecil Whitemore, der englische Vetter, was ist mit ihm? Sonst hat er sich allabendlich für verpflichtet gehalten, die Damen in seiner etwas schwerfälligen Weise zu unterhalten. Heute läßt er es ganz an dieser seiner Schuldigkeit fehlen. Er hat auch wenig und dies wenige mit einer abwesenden, zerstreuten Miene gegessen und es gar nicht gemerkt, daß die Majorin ein englisches Gericht, von dem er neulich beifällig gesprochen, ihm zu Ehren hat herrichten lassen. Da sitzt er steif aufgerichtet, starrt auf das Tischtuch, läßt den kleinen Teller mit den prachtvollen Erdbeeren unberührt vor sich stehen und füllt weder sein eigenes Glas, noch das der neben ihm sitzenden Frau von Sperber.
„Liebe Alix, Sie gestatten wohl, daß ich die Tafel aufhebe?“ klingt jetzt deren Stimme in das allgemeine Schweigen, und auf Alix’ hastiges: „Ich bitte!“ drückt sie den Gummiballon an der Hängelampe und winkt James, man könne abräumen.
Die vier Stühle werden gerückt, das übliche Händeschütteln wird getauscht; als Cecil die Rechte seiner Cousine faßt, sagt er: „Darf ich Sie auf eine Viertelstunde allein sprechen, Cousine?“
Alix blickt etwas erstaunt, sie nickt aber und deutet in den Park hinaus. „Wollen wir dorthin gehen?“ sagt sie, worauf er sich zustimmend verneigt.
Die beiden gehen miteinander die fünf flachen, breiten Stufen hinab, und hinter ihnen legt Françoise ihre Hand leicht auf den Arm der Majorin und flüstert: „Glauben Madame nicht, daß er jetzt um Mignonne werben wird?“ worauf diese sehr entschieden erwidert: „Nein, das glaube ich in keinem Fall!“
Cecil steuert auf die Gruppe von Bambusmöbeln unter der Platane zu, aber Alix sagt rasch: „Kommen Sie lieber hierher!“ Noch zwanzig, dreißig Schritte, und es steht eine Bank, aus ungeschälten Birkenstämmen zusammengefügt, am Wege; hier läßt Alix sich nieder und winkt dem englischen Vetter, an ihrer Seite Platz zu nehmen.
„Wenn Sie es gestatten, stehe ich lieber!“ sagt Cecil.
Beide schweigen eine ganze Weile. Alix wartet, daß er anfangen soll zu reden – wartet seelenruhig, ohne eine Spur von Erregung oder Neugier; ihr Herz thut nicht einen rascheren Schlag, wie sie so dasitzt, die Hände leicht übereinandergelegt, die Augen ruhig zu ihm emporgerichtet.
„Cousine,“ fängt Cecil endlich an, „ich habe Ihnen etwas mitzuteilen – etwas Wichtiges, was schon längst meine Pflicht gewesen wäre, Ihnen zu sagen, aber es war mir peinlich!“
„Und hat es jetzt aufgehört, Ihnen peinlich zu sein?“
„O nein, im Gegenteil! Aber einmal muß es sein, und ich habe heute die Bitte – nein, die Mahnung von London her erhalten, daß es endlich an der Zeit wäre, es zu thun!“
„Nun, so thun Sie es denn, Cecil!“
„Sie ahnen nicht, was es sein kann?“
„Vielleicht! Aber auf meine Ahnungen kommt es nicht weiter an. Sprechen Sie nur!“
„Ich habe Furcht, daß Sie böse werden könnten, daß Sie wünschen könnten, was ich nicht wünsche!“
„Sehr möglich, lieber Vetter, wir müssen es darauf ankommen lassen!“
Der Gentleman in Mr. Whitemore sträubte sich ganz entschieden dagegen, dies zu thun, aber es mußte ja wohl sein und mit raschem Entschluß stieß er endlich hervor: „Ihr Vater hat gewollt, wir sollten uns heiraten, Cousine!“
Da war es heraus, aber das war das schwerste noch nicht.
„Ich habe einen Brief von Onkel Hofmann vorgefunden, unter seinen Privatpapieren, einen an mich gerichteten Brief, der mir diesen Wunsch ausspricht.“ Cecil redete jetzt geläufig, die Kugel war im Rollen. „Diesem Brief ist die Bestimmung beigefügt, es solle mir, im Fall wir uns einigen könnten, eine Verbindung für das Leben zu schließen, die Führung und Leitung sämtlicher Werke von Josephsthal anheimfallen, und würde ich somit, da, wie Onkel Hofmann schreibt, ihm ein Sohn versagt geblieben ist, in die Rechte eines solchen eintreten. Weigern Sie sich, den Wunsch Ihres Vaters zu erfüllen, so fiele die Schneidemühle, meines Oheims Lieblingsschöpfung, laut Testament an mich; weigere ich mich, so bleibt Ihnen das Gesamteigentum Ihres Vaters ungeschmälert, nur darf ich demselben einen Verwalter nach eigener Wahl geben. Weigern wir uns beide, so bleibt es bei der letzten Bestimmung, doch muß meine Wahl von Ihnen bestätigt werden. Es steht zu vermuten, daß der an Sie gerichtete Brief, der sich gleichfalls im Privatnachlaß Ihres Vaters vorfand, Ihnen dieselben Wünsche ausgesprochen hat.“
„Dieselben Wünsche!“
„Und – Sie verzeihen, aber wir müssen es doch einmal durchsprechen! – wie denken Sie darüber?“
Alix wollte eine hochfahrende Antwort geben, aber als sie die Situation bedachte, kam ihr der Humor dieser ganzen Scene angesichts der unendlichen Verlegenheit des englischen Vetters zum Bewußtsein, und sie sagte, während es um ihre Lippen verräterisch bebte: „Sie scheinen ganz zu vergessen, Cecil, daß die erste Entscheidung bei Ihnen liegt.“
„Sie wünschen also, ich soll Ihnen, der Form wegen – einen Heiratsantrag machen?“
„,Der Form wegen‘ ist sehr hübsch und für mich sehr schmeichelhaft gesagt! Ich wünsche, daß Sie mir sagen, ob Sie mich heiraten wollen oder nicht.“
„Das soll ich durchaus mit Worten sagen?“
„Aber Vetter Cecil, verlangen Sie denn von mir, daß ich Ihnen einen Heiratsantrag machen soll?“
Der arme junge Mann war in großer Verlegenheit.
„Nein, das können Sie nicht!“ entgegnete er mit schwacher Stimme. „Aber – aber – – verzeihen Sie mir tausendmal! – ich kann es auch nicht!“
„Sie können es auch nicht?“
„Nein!“
„Das ist mir außerordentlich lieb; darf ich fragen: weshalb nicht?“
„Weil ich verlobt bin – seit beinahe einem halben Jahr – wenn auch noch nicht öffentlich.“ Cecil zog sein Taschentuch hervor und fuhr sich damit über die feuchte Stirn.
„Lassen Sie sich Glück wünschen, Vetter!“ sagte Alix herzlich und streckte ihm die Hand hin, die er nur zaghaft zu berühren wagte.
„Sie sind mir nicht böse, Cousine? Wirklich nicht?“
„Ich? Nicht im allergeringsten! Wie sollte ich auch?“
„Well – ich dachte, Sie könnten vielleicht anderer Meinung sein als ich!“
„Sie dürfen sich beruhigen,“ sagte sie mit feinem Lächeln. „Dachten Sie das im Ernst?“
„Ich weiß kaum mehr, was ich gedacht und gesagt habe, Cousine, ich bin zu sehr in Verwirrung! Ich fürchtete zuweilen, Sie könnten aus – aus kindlichem Gehorsam für den Wunsch Ihres Vaters –“
Alix schüttelte den Kopf.
„Bei aller Pietät für die Bestimmungen meines verstorbenen Vaters – diese Bestimmung hätte ich nur dann respektieren können, wenn mein Herz Ja und Amen dazu sagte, und das that es denn doch nicht. Ich sage nicht: verzeihen Sie meine Offenheit! Sie sind ja auch offen gegen mich gewesen, und ich finde, es ist in unserm Verhältnis geradezu eine Hauptbedingung, daß wir aufrichtig zu einander sprechen!“
„Ganz gewiß, Cousine! Ich – ich danke Ihnen! Ach, es ist mir eine solche Last von der Seele, seitdem ich weiß, daß auch Sie mich nicht wollen …. das heißt, ich schätze Sie sehr hoch, finde Sie sehr schön und begehrenswert, höchst geeignet, einen Mann, der Sie liebt und den Sie wieder lieben, glücklich zu machen –“
„Genug, genug!“ unterbrach Alix diese gewissenhafte Herzählung ihrer Vorzüge. „Ich erlasse Ihnen alles weitere! Uebrigens kann ich Ihnen die Versicherung geben, Cecil, daß ich keinen Augenblick um Ihretwillen in Sorge gewesen bin. Sie haben sich nie so benommen, daß ich denken konnte, Sie trügen [692] eine heimliche Liebe für mich im Herzen. Und nun erzählen Sie mir etwas von Ihrer Braut. Wann und wo lernten Sie sie kennen?“
„O, ich kenne sie schon seit ihrer Kindheit. Gwendolen ist ein prächtiges Mädchen, der Vater ist Geistlicher in Devonshire – und sie ist die zweite Tochter.“
„Und wann gedenken Sie zu heiraten?“
Cecil wurde aufs neue verlegen.
„Das, Cousine, wird von Ihnen abhängen!“
„Von mir?“ wiederholte Alix verwundert.
„Ich müßte, um Ihnen das zu erklären, von meinen Verhältnissen sprechen –“
„Darum bitte ich Sie! Möchten Sie sich zu diesem Behuf nicht endlich setzen?“
Der junge Engländer beantwortete diese Aufforderung mit einem ganz regelrechten Kompliment und ließ sich am äußersten Ende der Birkenbank nieder, so daß zwischen ihm und Alix ein beträchtlicher Raum frei blieb. Das junge Mädchen sah sich den wohlerzogenen jungen Herrn mit einem Lächeln an, das ein rückhaltloses Amüsement zur Schau trug – er sah das wohl, bezog es aber durchaus nicht auf seine Person.
„Als jüngerer Sohn,“ begann er, „werde ich, wie das in England so Sitte ist, gegen den älteren Bruder bedeutend verkürzt werden. Ihr Vater, Cousine, wußte das …. er sah aber auch, daß ich für das Fabrikwesen zugleich Neigung und Begabung hatte … ich darf sagen, wir haben gegenseitig Achtung voreinander empfunden. Weil er die nun hatte und sah, wie wenig günstig meine Aussichten in London waren, hat er sich Pläne gemacht und Zukunstsgedanken ausgesponnen, die mein Glück, zugleich aber auch das Gedeihen seiner Schöpfungen sowie das Lebensglück seiner einzigen Tochter in sich schlossen.“
„Ja,“ warf Alix mit Nachdruck ein, „Was Papa von seinem Standpunkt aus dafür hielt!“
„Ganz recht – was er dafür hielt! Er hat gedacht, ich würde seine Ideen und Pläne in seinem eigenen Sinne weiterführen –“
„Das würden Sie doch auch sicher thun!“
„Gewiß, wenn es in meine Macht gegeben wäre!“
„Aber das ist es doch! Ob Sie die Werke, die ganze Kolonie Josephsthal leiten wollen oder nicht, steht doch einzig bei Ihnen!“
„Einzig, keineswegs, Alexandra! Haben Sie die Bedingungen Ihres Vaters vergessen? Weigern Sie sich, so fällt mir die Schneidemühle zu, weigere ich mich, so bleibt Ihnen der Gesamtbesitz der Werke ungeschmälert, ich darf aber einen Verwalter nach eigener Wahl über die Kolonie setzen. Weigern wir uns beide – so –“
„So bleibt es bei der letzten Klausel; was ist da weiter zu sagen?“
„Es ist doch ein Nachsatz dabei! Ich darf den betreffenden Verwalter dann nicht frei nach eigener Wahl einsetzen, Sie müssen gleichfalls damit einverstanden sein!“
„So setze ich hierdurch Mr. Cecil Whitemore aus London zu meinem Verwalter ein, falls nämlich er keine Einwendungen dagegen erhebt!“
„Sie hätten nichts dagegen, Cousine, daß ich mich hier ganz ansässig mache, daß ich mir meine junge Frau hierher hole, daß ich meine ganze Zukunft und die meiner Familie auf die Josephsthaler Werke gründe?“
„Nicht das geringste, wie sollte ich denn? Im Gegenteil, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie es thäten. Ich stehe der großen Verantwortung, die der Besitz so ausgedehnter Betriebswerke auferlegt, hilflos gegenüber. Sie wissen am besten, wie meine sogenannten Geschäftskenntnisse beschaffen sind. Auf gut Glück müßte ich mir einen fremden Verwalter engagieren, auf gut Glück ihm die Zukunft der Werke, aller der Arbeiter, die mir unterstellt sind, in die Hand geben! Von Ihnen erwartete mein Vater für diese Zukunft das Beste, Sie wünschte er an der Spitze seines Lebenswerkes, wenn er einmal nicht mehr da war, zu sehen, und ich sollte zaudern, Sie zu bitten: kommen Sie an die Stelle, die Ihnen bestimmt war?“
Alix hatte so lebhaft, so bewegt, zugleich so freimütig gesprochen, daß ihr Feuer sogar diesen korrekten Gentleman mit fortriß.
„Lassen Sie mich Ihre Hand küssen, Cousine, und Ihnen danken! Sie verstehen es, die Sache so zu drehen, als thäte ich Ihnen einen speziellen Dienst, während doch mir eine weit größere Gabe zuteil wird. Ich bin nicht ohne Selbstbewußtsein! Ich weiß sehr wohl, was ich leiste, und daß es nichts Geringes ist, wenn ich Ihnen gelobe: ich will Ihres Vaters Lebensaufgabe in seinem Sinne fortzuführen bestrebt sein, solange ich mir selbst und Ihnen genüge.“
„Abgemacht!“ erwiderte Alix freundlich und reichte ihm die Hand. „Auf gute Freundschaft! Aber nun kommen Sie, Vetter Cecil, es ist spät geworden, die Majorin und Françoise werden sich über die Ausdehnung unseres Gespräches absonderliche Gedanken machen.“
Cecil hatte sich gleichfalls erhoben, zögerte aber, als hätte er noch etwas auf dem Herzen.
„Nun?“ Sie war ein wenig ungeduldig.
„O – es ist nur – da wir doch, wie Sie sagten, gute Freunde sind – und da ich es nicht bin, den Sie gewählt haben –“
„So meinen Sie, es müsse ein andrer sein?“ unterbrach sie ihn lächelnd.
„Es ist,“ fuhr er unbeirrt fort, „weil ich Jemand weiß, der Ihnen sehr, sehr zugethan – nein, das ist ein viel zu zahmes Wort – der glückselig wäre, wenn Sie ihm Ihre Hand reichen wollten! Er hat mir nie ein Wort davon gesagt, aber ich weiß, was ich weiß! Und wenn ich für ihn ein gutes Wort bei Ihnen einlegen könnte, Cousine – Sie – Sie können mir doch darum nicht böse sein – “
Alix hatte sich jählings umgewendet und war dem Schloß zugegangen. Jetzt wandte sie dem Engländer, im Weitergehen, ihr stolzes, vom Mondlicht weißbeschienenes Antlitz zu.
„Wollen Sie sich nicht damit begnügen, Vetter Cecil, Ihr eigenes Schicksal zu lenken und die Angelegenheiten guter Freunde auf sich beruhen zu lassen? Zumal wenn Sie nicht beauftragt sind!“
„Das bin ich freilich nicht. Ich dachte nur – ich möchte fragen, ob er, den ich meine, den auch Sie meinen – ob er vielleicht es einmal wagen dürfte, seine Zaghaftigkeit zu überwinden und die entscheidende Frage zu thun.“
„Ich segne diese seine Zaghaftigkeit,“ fiel ihm das junge [694] Mädchen beinahe heftig ins Wort, „und ich wünschte sehr, sie bliebe ihm weiter für alle Zeit erhalten!“
Damit nickte sie dem Vetter, das Haupt leicht über die Schulter zurückgewendet, einen Abschiedsgruß, nahm mit einer vornehmen Gebärde ihr weißes Kleid mit der Linken ein wenig auf und schritt in dem breiten Streifen silbernen Mondlichts dem Schlosse zu.
Der alte Hagedorn, Raimunds Vater, saß in seinem gemütlichen Wohnzimmer, in welchem Alix damals den verhängnisvollen Brief aus Wien gelesen hatte, und wartete auf seinen Sohn. Vor ihm lag ein zweiter Brief aus Wien, inhaltsschwerer, bedeutungsreicher noch als jener erste, und der alte Herr wünschte dringend, mit dem Sohn darüber persönlich Rücksprache nehmen zu können. Er wäre zu diesem Zweck gern nach Josephsthal hinübergefahren, allein sein Rheumatismus war bei dem kürzlich eingetretenen Witterungswechsel ziemlich heftig zum Vorschein gekommen, so daß der alte Mann mit dem linken Fuß kaum aufzutreten vermochte, trotz eines weichen Stoffschuhs und eines derben Stocks, dessen er sich beim Gehen als Stütze bediente. Aus diesem Grunde hatte er auch seinen beabsichtigten Besuch bei Alix, um den es ihm sehr zu thun war, vorläufig noch hinausschieben müssen.
Er dachte sehr oft an das junge Mädchen, es hatte ihm außerordentlich wohlgefallen, wegen seiner Schönheit sowohl als auch um der freimütigen Liebenswürdigkeit willen, mit der sie ihn, „den alten vergessenen Greifswalder Einsiedler“, wie er sich selbst zu nennen liebte, aufgesucht und behandelt hatte. In dem einförmigen Stillleben, das der alte Herr führte, hatte seine Phantasie, die allzeit geschäftig gewesen war, leider oft auf Kosten des nüchternen, praktischen Verstandes, so recht Muße, ihr Spiel zu treiben, und sie gefiel sich jetzt darin, goldene Fäden aus dieser seiner Zusammenkunft mit der Josephsthaler Erbin zu spinnen, Fäden, die aus dem unschönen, grauen Alltagsleben in die Zukunft hinüberreichten und sie mit einem verklärenden Schimmer umwoben!
Wer wollte es dem alten Herrn verdenken, wenn er dies that, wenn er in dieser Weise seines Sohnes gedachte, den er dazu geschaffen wähnte, im Sonnenschein zu wandeln, und den ein ungünstiges Geschick für immer in den Schatten bannen zu wollen schien.
Ein ungünstiges Geschick? Ach, war es nicht er selbst, der eigene Vater, gewesen, der die Hand dabei im Spiel gehabt hatte? Der sorglos die Verwaltung des Vermögens, das doch seines Sohnes Erbteil war, fremden Leuten anvertraut hatte, ohne jemals Erkundigungen einzuziehen, ob das Geld auch sicher stand? Der nun thatenlos zusehen mußte, wie sein Einziger, auf den ihm bestimmten Beruf verzichtend, sich abplagte, um sich und dem Vater das Leben zu fristen! Und er wußte es wohl, wie sehr sich im stillen der Sohn noch immer danach sehnte, dem von ihm so heißgeliebten Beruf zu leben. Gerade die ängstliche Art, mit der Raimund jedes Eingehen auf das Thema vermied oder abschnitt, war ihm dafür ein Beweis.
Aber Raimund war ein bildhübscher, intelligenter Mensch von liebenswürdigem Wesen und einnehmenden Manieren, er mußte den Frauen unbedingt gefallen, darauf gründete jetzt der alte Herr seine Zukunftsträume. Es war eine gewisse ursprüngliche Frische in seinem Wesen, die von seinem Blick, seinem Ton, seinem Lachen wohlthuend auf andere ausströmte. Er hatte viel vom Leben gesehen und auch vieles genossen, was sich ihm, dem damals reichen jungen Mann, bot, aber das war mit jener harmlosen Unbekümmertheit geschehen, die mehr entgegennimmt als selber bietet. In Raimunds Dasein, das wußte sein Vater ganz genau, hatte die Frau das entscheidende Wort noch nicht gesprochen. Würde jetzt dieser bedeutsame Abschnitt in Raimunds Leben eintreten? Wäre es bereits geschehen? Konnte er ein Mädchen, wie Alexandra von Hofmann eines war, sehen und kennenlernen, ohne es zu lieben? Freilich nicht ohne Bedenken und Zweifel hatte sich der alte Herr diesen Träumen hingeben können. Er kannte den Stolz seines Jungen, der es ihm in seiner abhängigen Stellung verbieten würde, um das reiche Mädchen zu werben!
Da brachte der gestern nachmittag aus Wien eingetrosfene Brief auch hierin Wandel. Er eröffnete eine Aussicht, daß vielleicht in nicht allzulanger Frist Raimund doch noch in seinen eigentlichen Beruf einlenken könne! Freilich war alles noch so ungewiß – und würde Raimund jetzt, mit fast achtundzwanzig Jahren, diese neue Bahn noch einschlagen wollen? Würde er nicht meinen, daß es zu spät dazu sei?
Ein neuer Schmerzanfall in dem kranken Fuß versetzte den alten Herrn in die Gegenwart zurück. Ein Seufzer entrang sich seiner Brust und er brachte das linke Bein in eine andere Lage. Sein Blick schweifte dabei zum Fenster hinaus. Was er da zu sehen bekam, war nichts Erfreuliches. Es hatte den ganzen vorhergegangenen Tag mit Regen gedroht; jetzt hing der Himmel seltsam schwer und niedrig über den Häusern, er hatte eine bleierne Färbung, nur im Westen türmten sich schiefergraue Wolkenballen übereinander. Es fing an zu regnen. Ein scharfer Wind fegte dann und wann in hohlen Stößen durch die Straßen und zauste die Wipfel der jenseits stehenden Ulmen, daß sie sich schüttelten, als ob es sie friere bis ins Mark hinein.
Da kam es plötzlich dort, wo die Bäume standen, mit heiterem Blinken wie ein Blitz heran, schoß an den letzten Ulmen vorbei, sauste um die Ecke in einer eleganten Kurve und hielt mit einem straffen Ruck dicht vor Herrn Hagedorns Thür. Raimund war es auf seinem Zweirad, das er ebenso geschickt meisterte wie früher seine Rassepferde.
Zwei Minuten später wurde ein elastischer Schritt draußen auf der Treppe hörbar, ein Schritt, der immer zwei Stufen der alten Stiege auf einmal nahm – nun ein rasches Pochen an der Thür ….
„Herein, nur schnell herein mit dir!“ Der alte Herr wollte sich erheben, um seinem Sohn entgegenzugehen, aber sein linkes Bein legte entschiedenen Protest gegen diese verwegene Absicht ein: er fühlte einen so plötzlichen schneidenden Schmerz bis in die Hüfte hinauf, daß er mit einem nur mühsam unterdrückten Jammerlaut auf seinen Stuhl zurücksank.
Der Sohn war schon neben ihm, schüttelte ihm herzhaft die Hand, klopfte ihm ermutigend auf die Achseln. „Was treibst du denn wieder für Zeug! Rheumatismus im Juni! Ich hab’ solchen Schreck bekommen, als ich das las –“
„Aber – aber Jungchen – Schreck! Was ist weiter dabei, wenn der alte Freund, der Rheumatismus, mir wieder mal eine Staatsvisite macht! Das ist ja nicht schlimm weiter, weißt du, wenn man sich ruhig hält – nur eben, daß man nicht gehen kann!“
„Gerade schlimm genug, in der schönsten Jahreszeit nicht gehen zu können!“
„Drum hat mir unser Herrgott zum Trost jetzt das schlechte Wetter geschickt, mein Jungchen! Aber nun geh’ mal vor allem an den bewußten Wandschrank und gieß dir ein Gläschen Marsala ein!“
„Ich bin doch nicht hergekommen, um dir dein bißchen Wein auszutrinken!“
„Jungchen, gehorch’ und mach’ mich nicht bös! Das schadet mir sehr bei meinem Rheumatismus!“
Das „Jungchen“ stand mit einem unterdrückten Seufzer auf, langte ein kleines Glas und eine Flasche aus dem Wandschrank, goß das Gläschen halbvoll und schlürfte mit einem „Dein Wohl!“ den Inhalt ein. „Darf ich dir nicht auch –?“
„Gott soll mich bewahren!“ Mit beiden Händen wehrte der Alte ab. „Ist ja Gift für den verdammten – – na, na, nicht fluchen, davon wird’s auch nicht besser! Also –“
„Ja, also!“ Der Sohn zog von neuem seinen Stuhl heran. „Was hat’s denn gegeben?“
„Reich’ mal den Brief da vom Schreibtisch herüber – so! Und nun lies ihn mir gefälligst vor!“
„Aber du wirst ihn doch entschieden selbst schon und vielleicht sogar mehr als einmal gelesen haben!“
„Stimmt! Hab’ ich auch! Schadet nichts! Möchte aber alles noch einmal aus deinem Munde hören. Also gehorch’ mir hübsch, Jungchen, und mach’ mich nicht ärgerlich! Das schadet mir sehr.“
„Leopold Steglhuber – – ah!“ machte Raimund, der zuerst nach der Unterschrift gesehen hatte. Dann begann er zu lesen.
„Sehr verehrter Herr Hagedorn! Als Ihr Brief kam, bin ich noch in derselben Stunde damit zu meinem neuen Prinzipal [695] gegangen und habe ihm gesagt: ,Das schreibt mir der Mann, der durch mich sein Vermögen verloren hat und den ich jetzt um die geforderte Kaution gebeten habe, weil ich glaubte, er hätte noch die Mittel dazu.‘ Mein Prinzipal hat Ihren Brief gelesen, Herr Hagedorn! Es war keine Indiskretion dabei, wenigstens habe ich es als solche nicht empfunden.
Und ein Segen, daß er ihn gelesen! Er hat zunächst nichts weiter gesagt, hat mir den Brief stumm zurückgegeben und dann, da eine Unterbrechung kam, bloß flüchtig die Worte hingeworfen: ,Morgen sprechen wir mehr darüber!‘ – Der andere Tag kam, ich ging zu ihm, resignierten Sinnes – was konnte er mir zu sagen haben? Daß er die Kaution verlangte, wenn er mir den wichtigen Posten in seinem Geschäft übertragen sollte, fand ich nur zu begreiflich, ja, selbstverständlich, aber geben konnte ich sie ihm leider nicht – – – also war die Sache zu Ende!
Es kam anders.
Mein Vorgesetzter eröffnete mir ganz trockenen, sachlichen Tones, es würde ihm lieb gewesen sein, die Kaution als Sicherheit zu haben, da ich aber außer stande sei, sie ihm zu bieten, so müsse er schon darauf verzichten. Als Kaution werde er meine bisherige musterhafte Führung – seine eigenen Worte! – annehmen und als Kapitaleinlage meine Ehrenhaftigkeit, meinen guten Willen und den Brief des Herrn Hagedorn aus Greifswald, der so viel Vertrauen bekunde, nach all dem Schweren, das er durch mein geschäftliches Unglück erfahren. Als mein Anfangsgehalt, das er mir auswarf, normierte er eine Ziffer, die meine Erwartungen weit überstieg, und verhieß mir auch Anteil am Reingewinn, der, wenn das Geschäft fortfährt, günstig zu gehen, gleichfalls eine hübsche Summe repräsentiert, jedenfalls die Bedürfnisse für meinen eigenen Lebensunterhalt, den bescheidenen eines kinderlosen Witwers, vollauf decken wird. Ich werde daher mein Gehalt sehr bald im vollen Umfang zur Tilgung meiner Schulden benutzen können. Mit Abschluß des Jahres läßt sich alles besser übersehen; ich werde mir alsdann erlauben, Ihnen ein festes Abkommen zu unterbreiten, nach welchem sich meine halbjährlichen Abzahlungen zu regeln hätten. Sollten Sie irgend welcher nicht gar zu großen Summe gleich bedürfen, so würde ich mich glücklich schätzen, Ihnen auch damit, ganz nach Ihrem Wunsch, zu Gebot stehen zu können. Eintausend bis zweitausend Gulden hätte ich jeden Tag disponibel, und würde es sich zur ganz besonderen Ehre rechnen, Ihnen damit die erste Zahlung zu leisten,
Ihr Ihnen stets dankbar ergebener
Leopold Steglhuber.“
„Nun,“ sagte der alte Herr, der gedankenvoll zugehört hatte, „findest du es nicht auch sehr ehrenhaft von dem Steglhuber, daß er so energisch bemüht ist, sein Verschulden wieder gut zu machen? Wenn auch noch nicht abzusehen ist, wie sich das alles abwickeln wird – aber, Jungchen, ja, was hast du denn?“
Raimund war aufgesprungen, stand, zu seiner ganzen stattlichen Größe aufgerichtet, vor dem Vater und dehnte seine breite Brust unter einem so tief herausgeholten Atemzug, als wälze er eine Bergeslast von seiner Seele.
„Und du fragst das noch? Begreifst nicht? Aber dies ist ja die Erlösung für mich – die Befreiung – die Zukunft – das Glück!“
„Ja – Kind, meinst du denn –“ begann der Alte zaghaft.
„Meinen, Vater? Aber hier haben wir ja die Gewähr – haben sie dicht vor Augen!“ Raimund faßte den Brief und hielt ihn mit beiden Händen. „Steglhuber wird fest und sicher angestellt mit jährlichem Gehalt und Gewinnanteil, er ist dir tief verpflichtet, diese Verpflichtungen drücken ihn, er setzt alles daran, um ihrer ledig zu werden – und Steglhuber ist ein Ehrenmann, war immer einer, wenn er auch das Unglück gehabt hat, unser Vermögen zu verlieren! Jetzt will er gut machen und kann es auch! Kann es! Und ich – und wir – nicht eine Stunde länger, als eine anständige Kündigungsfrist erfordert, bleib’ ich hier! Ich kann nicht! Endlich – endlich darf ich fort!“
„Ja, aber – aber, mein guter Sohn –“ der alte Mann vergaß wieder seinen kranken Fuß, wollte rasch aufstehen und sank mit einem Aufstöhnen zurück, „ich bitte dich um alles, sei auch nicht zu sanguinisch, sieh die Sache nicht in zu rosigem Licht! Wenn du dir eine andere Stelle –“
„Wer spricht davon?“ Raimund, der ruhelos im Zimmer hin und her gegangen war, stand neben dem Lehnsessel des Vaters wie angewurzelt still. „Eine andere Stelle? Die hätt’ ich mir längst verschaffen können – – aber sieh nur – versteh’ nur – das durfte ich doch nicht! Es hätte ausgesehen wie rabenschwarzer Undank, und es hätte ausgesehen, als fürchtete ich mich hier zu bleiben, als wollte ich die Flucht ergreifen – daher hieß es für mich, die Zähne zusammenbeißen und aushalten – – aber jetzt, Vater –“ es klang wie Jubel in seiner Stimme – „jetzt kann ich – – und werde ich gehen – meiner wahren Bestimmung entgegen!“
Hilflos und erschrocken hingen des Vaters Augen an dem strahlenden Gesicht. Es kam ihm in aller Schwere zum Bewußtsein, wie verhaßt dem Sohn sein jetziger Beruf sein mußte, wenn er den ersten Hoffnungsstrahl, der ihm winkte, schon als sichere Erlösung begrüßte. Daß Raimund ein tägliches Opfer brachte, hatte er sich oft gesagt; was ihn dieses Opfer gekostet, sah er erst heute.
„Jungchen, komm’, setz’ dich doch wieder! Sei nicht so aufgeregt! Sieh, es fällt mir entsetzlich schwer, dir irgend welche Illusionen zu nehmen – ich hab’ selbst immer welche gehabt und bin Zeit meines Lebens nichts als ein unpraktischer Träumer gewesen – das war mein Unglück! Darum aber meine ich jetzt, so auf das Ungewisse hin –“
„Aber du siehst doch, was der Mann schreibt, Vater! Hast es mit eigenen Augen schwarz auf weiß gelesen und eben jetzt von mir dir vorlesen lassen: er hat zweitausend Gulden disponibel! Zweitausend Gulden – das sind über dreitausend Mark in unserem Gelde – und das ist nur der Anfang! Steglhuber zahlt fortan regelmäßig, vergiß das nicht!“
„Und wenn er es nicht kann? Wenn er seine Einnahmen, sein Können überschätzt hat – oder – oder – wenn er stirbt?“
„Sterben? Ach, er denkt nicht dran!“ Raimund wehrte diesen Gedanken mit einer raschen Handbewegung von sich ab, gleichsam wie eine zudringliche Fliege. „Jetzt, wo sich ihm eine neue Bahn öffnet, wo er gutmachen kann …. Vater, kannst du’s denn nicht fassen, was es für mich heißt, meine Kunst, meine Musik zurückzuerobern?“
Mit beiden Händen faßte er die Schultern des Vaters, rüttelte ihn sanft, sah ihm mit den in reinstem Blau glänzenden Augen nahe ins Gesicht, wollte wieder anheben zu sprechen und konnte es nicht.
Auch der alte Mann suchte umsonst nach Worten. Raimunds Erregung und Freude hatten auch ihn gepackt, rissen ihn mit fort, er sah ihn im Geist schon lorbeergekrönt, von einem enthusiastischen Publikum umjubelt, in Ehren und Würden, sein Blick trübte sich, und er mußte sich mehrmals räuspern. Der Hals war ihm wie zugeschnürt.
„Noch ist es nicht zu spät!“ begann Raimund von neuem, als ihm die Stimme wieder gehorchte. „Früher hab’ ich das zuweilen gedacht, aber es ist Unsinn gewesen. Ich hab’ manchmal gedacht, meine Spannkraft sei dahin, sei mir abhanden gekommen in dieser stickigen, nüchternen Comptoirluft, jetzt denk’ ich das nicht mehr! Achtundzwanzig Jahre! Ist das zu spät für einen Menschen, der voll Talent steckt – alle haben sie mir’s doch zugestanden! – der voll brennenden Eifers und voll unermüdlichen guten Willens ist …. zu spät, einen neuen Beruf zu ergreifen – vielmehr zu seinem ursprünglichen Beruf zurückzukehren?“
„Aber du,“ stammelte zaghaft der Alte, „du wirst mich doch nicht etwa hier allein lassen wollen?“
„Hier lassen? dich? Mein bestes Besitztum? Bitt’ mir den nichtswürdigen Gedanken ab auf der Stelle! Wie in aller Welt kannst du nur darauf kommen?“
„Wär’ ja nichts so Unrechtes, Kind,“ gab verlegen der Vater zurück. „Aber weißt du, eine Trennung auf lange, eine weite Entfernung von meinem Einzigen …. ich glaub’ nicht, daß ich es aushielte. Man kann ja nicht wissen, wie lange der liebe Gott mich alten Knaben noch am Leben läßt –“
„Jetzt hörst du aber auf! Du und ich, wir gehören zu einander und bleiben beisammen. Ich bitte dich also, zunächst an Herrn Steglhuber zu schreiben, und zwar die lautere Wahrheit: ich wünschte meine Carriere zu ändern und wäre ihm außerordentlich dankbar, wenn er seinen Verpflichtungen uns gegenüber soviel wie irgend möglich nachkäme! Die von ihm bezeichnete [696] Summe möge er, sobald er könne, schicken. Bin ich im Besitz derselben, so reiche ich hier sofort meine Kündigung ein und betreibe die einleitenden Schritte für meine Uebersiedelung nach Frankfurt. Das Nähere besprechen wir noch!“
„Ja – gut – schön!“ brachte der alte Mann stotternd hervor, und seiner wieder ratlos gewordenen Miene war es nicht anzumerken, daß er in seinem Innern wirklich alles gut und schön fand. „Aber nun, Raimund – Jungchen – – was wird deine – deine Cousine, die Baroneß meine ich, deine Prinzipalin zu diesem Entschluß und zu deiner Kündigung sagen?“
„Vermutlich mancherlei, Vater. Sie wird meinen Entschluß gutheißen und meine Kündigung verstehen, wenn sie imstande ist, sich einigermaßen in meine Lage zu versetzen; und das traue ich ihr zu –“
„Und die Trennung von hier – von – von – allem fiele dir gar nicht schwer?“
„Von der Kolonie Josephsthal? Da ich dich, mein bestes Eigentum, mit mir nehme? So viel für die ganze Kolonie!“ Raimund that, als ob er eine Flaumfeder von seinem Rockärmel bliese.
„Ich meinte ja nur, ob dir denn die Trennung von Alexandra von Hofmann nicht schwer fällt?“
„Davon reden wir lieber ein andermal – oder – oder – vielleicht auch gar nicht. Es giebt Dinge, Vater – genug davon! Laß uns nur erst den Brief nach Wien schreiben und die erste Anzahlung in Händen haben, damit ich hier kündigen kann! Und jetzt werde ich leider schon wieder zurück müssen, Papa!“ Raimund, die Hände in den Taschen seines hellen Sakko, wiegte sich ungeduldig auf den Hacken hin und her.
„Jetzt? Mitten in dem Unwetter?“
„Ach, das ist ja nur ein Sprühregen! Sieh, die Sonne will schon mit Gewalt hindurch!“
Ein wunderhübsches Schauspiel! Während es noch vom Himmel feinen, staubartigen Regen herab schüttete, bekamen die losen Wolkenmassen, die dort über den Ulmen hingen, helle Ränder, ließen endgültig die Sonne durch und woben eine buntleuchtende Strahlenbrücke, die über die ganze Stadt reichte, so weit der Blick trug …. den schönsten Regenbogen, dessen zartgetöntes Abbild sich westwärts in die Wolken malte.
Vater und Sohn hatten schweigend das farbige Wunder entstehen sehen und waren jetzt in stummes Anschauen verloren. Der ältere Hagedorn sah verklärten Auges zum Himmel empor, wo es zwischen den Wolkenfetzen blau und verheißungsvoll zu schimmern begann. Konnte dies nicht ein Bild ihrer Zukunft sein? Kam nun endlich, nach Sturm und Regen und Ungemach, die Sonne in ihr Leben?
„Also wirklich schon fort, Raimund?“ Er fühlte seines Sohnes Hand auf seiner Schulter.
„Ja, Vater, es ist Zeit für mich. Ich will da mitten in den Regenbogen hineinfahren – dort, wo er hinter den Bäumen die Erde berührt – siehst du’s?“
„Schalksnarr, der du bist! Hör’ nur das eine noch!“ Der alte Herr faßte einen Rockknopf des Sohnes und hielt ihn daran fest. „Du sagtest vorhin, wenn du dich um eine neue Stelle bemüht hättest, das würde ausgesehen haben, als fürchtetest du dich davor, hier zu bleiben, als wolltest du die Flucht ergreifen. Darf ich fragen, wovor?“
Raimund sah mit einem sehr zweifelhaften Gesicht auf seinen Vater nieder und wollte sacht dessen Hand von seinem Rockknopf losringen, aber der Alte hielt fest.
„Vor wem wolltest du fliehen?“ fragte er eindringlich.
„Hab’ ich das wirklich gesagt?“ gab Raimund in unsicherem Ton zurück.
„Wahr und wahrhaftig!“
„Dann ist’s erst recht Zeit, daß ich gehe! Zerbrich dir nicht weiter den Kopf, Vater, und laß los! Aus dem Rockknopf drehst du’s doch nicht heraus! Also du schreibst nach Wien und läßt mich’s wissen, sobald die Antwort da ist – per Telephon.“
„Und wie wird es mit meinem versprochenen Besuch bei Baroneß Hofmann?“
„Ja, dazu mußt du doch zunächst zwei gesunde Füße haben!“
„Freilich, das muß ich!“ Hagedorn senior seufzte.
„Wird alles werden, immer Kopf hoch, und hübsch die Einreibung brauchen, die Doktor Petri das letzte Mal verschrieben hat, die half ja! Gute Besserung, Väterchen! Hübsch stillgesessen! Mich brauchst du doch am Ende nicht hinauszukomplimentieren!“
Ein freundliches Nicken, ein Händedruck, ein Lächeln, noch lag ein Abglanz von Verlegenheit auf dem hübschen sorglosen Gesicht – die Treppe knarrte unter dem raschen Tritt – die Hausthür kreischte unten in ihren Angeln – – der alte Mann am Fenster bog sich vor ….
Da war er .... grüßte noch einmal mit Hut und Hand nach oben, faßte die Lenkstange, saß auf – und nun, wie der Pfeil von der Sehne fliegt, sauste das Zweirad blitzend und funkelnd dahin .... gerade mitten in den Regenbogen hinein!
[730]In der Kolonie Josephsthal ging alles im gewohnten Gleise, und die Erinnerung an den geheimnisvollen Mord fing nach und nach an, zu verblassen, wenn auch ab und zu jemand die Frage aufwarf: „Aber wer kann es denn gethan haben?“
Da schwirrte plötzlich ein Gerücht umher, wie durch die Luft kam es geflogen: die Justiz habe eine neue Spur des im Februar verübten Verbrechens entdeckt und sei mit allem Eifer dabei, dieselbe zu verfolgen. Zugleich verschwand der Arbeiter Neubert, der schon zweimal Urlaub erbeten und erhalten hatte, um seine in Mecklenburg wohnende kranke Mutter zu besuchen, von neuem ganz plötzlich und ließ tagelang nichts von sich hören.
Ob da nicht etwas dahinter steckte? Grüblerische Köpfe – und es gab auch solche in der Arbeiterkolonie Josephsthal – fingen an, über diesen Neubert nachzudenken. Ein fideler Kumpan war er gewesen, ein Spaßvogel, wie die Kolonie noch nie einen aufzuweisen gehabt hatte. Sie hatten ihn eigentlich alle gut leiden können, die Kameraden, den fixen kleinen Kerl mit dem bartlosen Knabengesicht und der pfiffig treuherzigen Miene, der sie so gut zu unterhalten verstand. Aber, wie der „Berliner“ zu reden wußte, so wußte er auch andere zum Reden zu bringen und dann sehr aufmerksam zuzuhören. Am häufigsten hatte er das Gespräch auf den verstorbenen Baron gelenkt; wer zu dessen nächster Umgebung gehört hätte, mit wem er wohl am vertrautesten gewesen sei, wer denn die Drohbriefe geschrieben haben könne, und wer das wohl in Erfahrung gebracht haben möge, daß der Baron gerade an jenem achtzehnten Februar eine so große Geldsumme bei sich gehabt habe, um sie an einen der Direktoren auszuzahlen – diese Fragen hatte er immer wieder aufs neue aufgeworfen. Auch für den Monteur Kraßna hatte er besonderes Interesse gezeigt, der für eine kurze Zeit in der Kolonie Josephsthal gearbeitet hatte, bis ihn Baron Hofmann wegen seiner aufreizenden Wühlereien entließ. Die Gefragten hatten nur selten bestimmt zu antworten gewußt, aber sie hatten ihre Mutmaßungen gehabt, der eine diese, der andere jene. Der „Berliner“ hatte da ganz besonders scharf hingehorcht. Dazu kam sein häufiges Verschwinden – dreimal schon Urlaub in so kurzer Zeit, und immer bloß, um die kranke Mutter zu besuchen! Andere Leute hatten auch kranke Mütter, aber die Herren Direktoren würden sie schön angesehen haben, wenn sie so oft um Urlaub nachgesucht hätten! Der „Berliner“ bekam ihn jedesmal unbeanstandet – hm! – Nun er fort war, nun die Leute nicht mehr sein lustiges, harmloses Gesicht sahen, sein frohes Lachen hörten, kam es ihnen nicht mehr so recht geheuer vor mit dem fidelen Kameraden – einer hatte im Gespräch die Bemerkung fallen lassen: „Am Ende haben sie uns den bloß hergeschickt, um uns auszuhorchen, denn, wenn man’s sich recht überdenkt – – ausgehorcht hat er uns doch!“ Das fiel wie der Funke in ein Pulverfaß. Die Mehrzahl war freilich darüber einig: „Was aushorchen! Wir haben nichts Böses gethan, unser Gewissen ist rein, keiner kann uns was anhaben!“ Viele aber waren doch da, die das Verfahren des „Berliners“ eine Niederträchtigkeit nannten, die sie ihm gehörig eintränken wollten, wenn er sich wieder zeigen würde.
– – Vorläufig zeigte er sich nicht! –
Daß etwas in der Luft schwebte, war aber ganz sicher. Warum standen die Direktoren, die Ingenieure, die Buchhalter und Kassierer so oft jetzt in kleinen Gruppen beisammen und sprachen mit gedämpften Stimmen und wichtigen Mienen aufeinander ein, um, sobald die Arbeiter in ihre Nähe kamen, kurz abzubrechen und ganz unbefangen zu thun, was ihnen schlecht gelang? Weshalb thaten die Monteure, die Obermaschinisten geheimnisvoll, als wüßten sie allerlei, hielten es aber für ihre heilige Pflicht, zu schweigen? Kein Zweifel, die Justiz hatte eine neue Spur gefunden oder eine alte aufgenommen, und das wollte man den Arbeitern möglichst verheimlichen – ein Verfahren, das die Arbeiter offenbar übelnahmen. Ein paar von ihnen, die sich auf die Beobachter hinausspielten – sie waren es auch gewesen, die die Geschichte mit dem „Berliner“ nicht für geheuer hielten – hatten herausgefunden, daß die „Herren“, womit alle höheren Beamten der Kolonie Josephsthal schlechthin gemeint waren, ihre kleinen vertraulichen Konferenzen jedesmal erst dann hielten, wenn der Oberingenieur Harnack noch nicht gekommen oder wenn er wieder gegangen war.
Ingenieur Harnack war nie besonders gut gestimmt erschienen, hatte nie einen Freund in den Werken gehabt, stand immer isoliert und war bei den Leuten seiner Wortkargheit und Unfreundlichkeit wegen besonders unbeliebt. Den „Schwarzen“ nannten sie ihn, und sein Erscheinen war allemal das Signal, daß etwaige Scherze oder sorglose Unterhaltungen der Leute verstummten und jeder von ihnen doppelt emsig bei seiner Arbeit [731] war. Nicht einmal der „Engländer“, der doch jetzt Herr über die ganzen Werke war und alles zu bestimmen hatte, war den Arbeitern so unbehaglich wie der „Schwarze“. Sie machten sich wohl gelegentlich ein bißchen lustig über Mr. Whitemores geschniegelten Anzug, seine steife englische Würde, aber seine Gegenwart fiel ihnen doch nicht so „auf den Magen“, wie sie das nannten. Harnacks beständig finstere, unfrohe Miene, der brütende Ausdruck seiner dunklen Augen war den Leuten unbehaglich, und seine Manier, jeden Befehl, jede Anordnung nur mit einzelnen hervorgestoßenen Worten zu erlassen, die Betreffenden nie dabei anzusehen und jeden kleinsten Fehler, jede leiseste Abweichung von seinen Verfügungen aufs strengste zu rügen, alles dies trug nicht dazu bei, die Abneigung der Arbeiter zu mildern. Oberingenieur Harnack war die unpopulärste Person der gesamten Werke, und alle wären froh gewesen, wenn man ihm hätte etwas „am Zeug flicken“ können, was seine bevorzugte Stellung erschüttert oder gar aufgehoben haben würde. Davon war aber keine Rede, er war hochbegabt und tüchtig für zehn, das mußten ihm selbst seine vielen Feinde lassen.
Daß Jngenieur Harnack einen jüngeren Bruder hatte, der nichts taugte, hatten einige schon früher in Erfahrung gebracht und es selbstverständlich den Kameraden mitgeteilt, so daß es wie ein Lauffeuer herum gewesen war. Die Leute waren schadenfroh genug gewesen, diesen Familienschatten dem unbeliebten Vorgesetzten von Herzen zu gönnen: es war ihm sehr gesund, daß er es an seinem eigenen Leibe erfuhr, wie es thut, Kummer und Schande zu erleben.
Nach Josephsthal, das wußten die Eingeweihten, durfte dieser jüngere Harnack nicht kommen, wenigstens nicht zu Baron Hofmanns Lebzeiten – der verstand keinen Spaß in Bezug auf zweifelhafte Redlichkeit und schlechten Lebenswandel! Einmal war das Gerücht aufgetaucht, der junge Mensch wäre flüchtig in der Kolonie gesehen worden; da es aber fast zugleich hieß, der Oberingenieur habe Urlaub erbeten, um seinen Bruder von Hamburg auf Nimmerwiedersehen nach Amerika zu spedieren, so glaubte man, die Betreffenden, die ihn hier gesehen haben wollten, müßten sich geirrt haben, und das Gerücht schlief alsbald wieder ein. Doch neuerdings war auch dieses wieder neu aufgelebt. Vielsagende Worte, die von einzelnen aufgefangen wurden, wie „Nur angeblich nach Amerika gegangen“ – „Bruder keine Ahnung gehabt“, wurden auf den Bruder Harnacks bezogen. Ein Arbeiter von der Walzmühle wollte sogar Genaueres aus einem Gespräche erlauscht haben, das vor kurzer Zeit Justizrat Ueberweg mit Herrn Hagedorn auf offner Straße geführt hätte, wobei wiederholt von Harnack dem jüngeren die Rede war. Die Herren wären so erregt gewesen, daß sie sein Vorübergehen gar nicht gemerkt hätten. –
Es war Feierabend. Die großen Glocken in den verschiedenen „Werken“ hatten ihre Schuldigkeit gethan und den ermüdeten Arbeitern verkündet, daß es für heute genug sei an Fleiß und Anstrengung. Die immer gern gehörten Glockenstimmen wurden heute mit besonderer Freude begrüßt, denn es war ein überaus schwerer Tag gewesen. Drückende Schwüle lagerte draußen, die Sonne sengte unbarmherzig, die Hitze war in die Fabrikräume gedrungen und machte den Aufenthalt sowohl in denjenigen Sälen, wo die großen Dampfmaschinen in Thätigkeit waren, als auch in denen, wo mit riesigen Mengen grob- oder feingemahlenen Mehles hantiert werden mußte, beinahe unerträglich. Ein paar schwächliche blutarme Frauen waren von Schwindel befallen worden und mußten die Arbeit einstweilen aussetzen – – auch die robusten und die größeren Mädchen, die schon zur Fabrikarbeit zugelassen wurden, klagten über Flimmern vor den Augen und Stechen in den Schläfen. Große Kübel mit Wasser standen in den Gängen bereit, aber das häufige Waschen wollte nichts helfen – im Gegenteil, es vermehrte nur noch die Glut!
Jetzt strömten die ermatteten Scharen in hellen Haufen ins Freie. Die von der Schneidemühle thaten es am langsamsten und verdrossensten. Sie hatten die Kunde zugetragen bekommen – man erfuhr immer alles in der Kolonie Josephsthal! – daß das Personal von der Walzmühle wie von der Oelmühle heute lange Pausen während der Arbeitszeit hatte machen, später als sonst nach Tisch hatte anfangen dürfen; die betreffenden Direktoren hatten das so verfügt. In der Schneidemühle, wo Oberingenieur Harnack regierender Herr war, hatten es die Leute nicht so gut gehabt. Wenn es möglich war, daß der Ingenieur sich noch finsterer, unzugänglicher und strenger zeigte als sonst, so war es an diesem Tage der Fall gewesen. Kaum ein Wort fiel von seinen Lippen, aber sein wachsames Auge lag unausgesetzt auf den Leuten, ließ sie gleichsam nicht los, er selbst stand mitten im glühenden Dampf und betäubenden Lärm neben der großen Treibmaschine, die Hitze schien ihm nichts anzuhaben, und der unerbittliche Zug um seinen Mund, die tief eingegrabene Falte auf seiner Stirn sprach deutlicher als Worte: Was ich kann und leiste, das müßt ihr ebenfalls können! Ich halte aus und arbeite, thut ihr desgleichen! – – – Sie thaten es, die in Schweiß gebadeten, abgespannten Menschen, aber jetzt, da es Feierabend war, kam die lange unterdrückte Entrüstung zum Ausbruch, und Worte, wie „Nichtswürdige Schinderei“ – „Nicht gefallen lassen“ – „Beim Engländer beschweren“ fielen hageldicht von den Lippen der mühsam atmenden, keuchenden Leute, die begierig die Luft im Freien einsogen, ohne doch besondere Erquickung zu spüren, denn es war auch jetzt noch drückend heiß. Ein schwüler Brodem lastete über der Landschaft, kein Blatt rührte sich, die Sonne stand in einem Dunstkreise von stechendem Gelb, darunter baute es sich auf wie ein schieferblauer Wall. Vielleicht kam zur Nacht ein Gewitter!
Ingenieur Harnack verließ als der letzte die Schneidemühle. Die Maschinen waren abgestellt, er machte, wie gewöhnlich, die Runde, um sich zu überzeugen, daß alles in Ordnung war.
Indem er aus dem gewaltigen, langhingestreckten Gebäude hinaustrat, schweifte sein finsterer Blick über die Leute, die in größeren und kleineren Gruppen in bereits ziemlich beträchtlicher Entfernung vor ihm hergingen, und es war, als wüßte er genau, was und über wen sie jetzt sprachen, denn sein Mund verzog sich verächtlich und seine niederhängende Linke ballte sich. Aber nicht den Arbeitern allein galt dieser düstere Blick, diese geballte Faust. Etwas anderes noch war es, was in der Seele dieses Mannes vorging, ihn diese letzten Stunden hindurch schwer bedrückt hatte, etwas, wofür er sich Gewißheit zu verschaffen trachten mußte, Gewißheit – und käme hinterher, was da kommen wollte!
Absichtlich zögernd und langsam, um den vor ihm herschlendernden Arbeitern einen weiten Vorsprung zu lassen, ging der Ingenieur weiter die Dorfstraße entlang und schlug dann einen Querweg ein, der zu der Häusergruppe führte, in welcher Hagedorn seine Wohnung hatte.
Es war ein ganzes Stück bis dorthin zu gehen. Harnack aber war derartig in seine Gedanken versunken, daß ihm der Weg viel kürzer als sonst erschien, und er stutzte, als plötzlich die Klänge eines Klaviers an sein Ohr trafen. Er war an dem Hause, in welchem sein alter Widerpart wohnte. Die Fenster im Erdgeschoß standen offen. Der durchsichtige Store war beiseite geschoben, man konnte von draußen ungehindert in das mäßig große Zimmer hineinblicken. Der Flügel war quer gegen das breite Fenster gestellt, auf Kosten der übrigen Möbel und der Symmetrie des Zimmers – man sah, das Pianoforte hatte hier die erste Rolle, und alles andere war Nebensache.
Raimund Hagedorn, in einem leichten Rock von heller Bastseide, Blusenhemd und Tennisgürtel, spielte ganz selbstvergessen, aller Hitze zum Trotz.
Der Oberingenieur zog hastig die Thürglocke, und ihr greller, profaner Mißton ließ den Spieler aufspringen, wie wenn ihn eine Kugel getroffen hätte. In seinen blauen Augen wetterleuchtete es zornig über den „Kunstbanausen“, der nicht einmal hatte warten können, bis der Satz beendet war. Mit raschen Schritten ging Raimund vom Klavier fort, zur offenstehenden Stubenthür hinaus und durch den schmalen Korridor. Er riß den Flügel der Hausthür mit Heftigkeit zurück und sah dem unwillkommenen Störenfried mit einer Miene ins Gesicht, die deutlich genug von seinen Empfindungen Zeugnis ablegte.
„Herr Oberingenieur Harnack!“ stieß er erstaunt heraus. „Was verschafft mir die – das –“
Raimund stockte. Denn er empfand diesen Besuch, gerade diesen, weder als eine Ehre, noch als ein Vergnügen, und es widerstrebte ihm, auch eine dieser landläufigen Redensarten, die niemand wörtlich nimmt, die längst zur hohlen Formel herabgesnnken sind, hier in Anwendung zu bringen. Er vollendete daher den begonnenen Satz damit, daß er mit einer einladenden Handbewegung zum Zimmer hin sagte: „Darf ich Sie ersuchen, näher zu treten?“
[732] Der andere verbeugte sich mit äußerster Knappheit und trat ein. Es sah nicht sehr ordentlich in dem Zimmer aus, aber heiter und freundlich, und das Ganze hatte einen künstlerischen Anstrich. Auf dem Fensterbrett stand ein reichblühender weißer Rosenstock, rechts und links daneben auf den Dielen erhoben sich üppige, mit rosigen, mandelduftenden Blüten übersäte Oleanderbüsche in großen Kübeln; ein Kelchglas mit abgeschnittenen Blumen schmückte den Schreibtisch, auf dem allerlei Photographien in Moraständern und Makartrahmen umherstanden. Die ganze dunkle Platte des Flügels war mit gebundenen und ungebundenen Notenheften bedeckt; beschriebene Notenblätter, über die ein Stift quergelegt war, lagen dazwischen, ganze Stöße von Noten waren unter dem Klavier aufgeschichtet. Von den Wänden sahen überall größere und kleinere Büsten berühmter Tonkünstler herab: der bedeutende Beethovenkopf mit der Löwenmähne, das scharfgeschnittene Profil Chopins, die schlichten Züge Schumanns und Schuberts, und Mozarts sonniges Antlitz. In einem kleinen Käfig aus Weidenruten, wie ihn die Kinder flechten, hüpfte eine Schwarzamsel umher, die jetzt, da das Klavier verstummt war, sich verpflichtet glaubte, die Stille zu unterbrechen, und ein paar volle melodische Locktöne zum besten gab.
Der Blick des Eintretenden überflog den lichten, sonnendurchfluteten Raum, der ein so ganz anderes Gepräge trug wie seine eigene nüchterne, peinlich geordnete Häuslichkeit. Was er hier sah, schien ihm Spielerei und Firlefanz, nichts weiter – und auch die Bücher dort hinten im Glasschrank mochten den Geschmack ihres Eigentümers widerspiegeln und nichts von dem enthalten, was eines ernststrebenden Mannes würdig war.
Die blauen und die dunklen Augen tauchten ineinander und maßen sich, wie vor dem Kampf. Diese beiden Männer, so grundverschieden in ihrem ganzen Typus wie in ihrer Lebensauffassung, waren einander von der ersten Stunde ihrer Bekanntschaft unsympathisch gewesen, und sie hatten beide kein Hehl daraus gemacht.
Raimund wies stumm auf einen in seiner Nähe stehenden Stuhl. Harnack lehnte den Sitz ab und blieb stehen.
„Ich bin zu Ihnen gekommen,“ brach er endlich das Schweigen, „um Sie zu fragen, ob es wahr ist, daß Sie bei Gericht eine Anzeige gegen meinen Bruder erstattet haben, der zufolge man ihn wegen Mordverdachtes in Haft genommen hat.“
Raimund zuckte zusammen.
„Wer hat Ihnen das gesagt?“ fragte er nach einer Pause mit bedeckter Stimme.
Harnack warf den Kopf hoch.
„Darauf kommt es nicht an; die Thatsache genügt wohl. Ist sie wahr?“
In dem offenen Gesicht des jungen Mannes malte sich Schreck und Mitleid. Wenn dieser Mann seinen Bruder liebte – und sie hatten ihm gesagt, daß er dies that! – welches mußten seine Empfindungen sein gegenüber demjenigen, der ihn der Justiz auslieferte, ihn ihr wenigstens verdächtig machte? Hätte er schweigen sollen? Aber der Justizrat hatte ihm ausdrücklich gesagt, daß man ohnehin auf den jüngeren Harnack Verdacht geschöpft hatte, daß man ihn seit geraumer Zeit suchte – er hatte nichts weiter gethan als den Ort angegeben, wo der Gesuchte mutmaßlich zu finden sei. Und Ueberweg hatte ihm so dringlich seine Verpflichtung dazu klargemacht.
„Ist es wahr?“ wiederholte der Ingenieur mit harter Stimme.
„Ja!“ entgegnete Raimund fest, und ehe noch der andere weiterzusprechen vermochte, setzte er hastig, sich fast im Sprechen überstürzend, hinzu: „Hören Sie mich! Ich kenne Ihren Bruder nicht, habe ihn nie gesehen, ich habe nicht den geringsten persönlichen Verdacht gegen ihn. Aber dieser Verdacht ist von verschiedenen Seiten gehegt worden, auch die Justiz hatte ihn bereits gefaßt. Der Ermordete war mein Oheim, sein Tod ließ mich nicht gleichgültig, der Fingerzeig wurde mir gegeben, der Auftrag mir erteilt – was blieb mir zu thun übrig, wenn ich mein Gewissen –“
Er kam nicht weiter.
„Ihr Gewissen?“ Harnack stieß es hart und höhnisch hervor. „Mußten Sie sich gerade bei dieser Gelegenheit darauf besinnen?“
„Was wollen Sie damit sagen?“
„Daß ich Sie für einen feigen Denunzianten halte – weiter nichts!“
Raimund war sehr bleich geworden, seine Augen blitzten gleich geschliffenem Stahl.
„Ich nehme Rücksicht auf Ihre Gefühle als Bruder. Aber gehen Sie nicht zu weit! Wählen Sie Ihre Ausdrücke besser! Es ist mir wahrlich nicht leicht geworden, zu sagen was ich wußte – ich habe mit mir gerungen –“
Der Ingenieur ließ ein heiseres spöttisches Lachen hören.
„Ihr Ringen hat zu einem guten Resultat geführt! Man hat meinen Bruder in Untersuchungshaft genommen, auf Ihre Denunziation hin – meinen Bruder, der unschuldig ist – unschuldig sein muß, denn er war zur Zeit des Mordes in Amerika!“
„Wenn sich das nachweisen läßt, ist seine Unschuld klar am Tage, und er wird sofort aus der Haft entlassen!“
„Für sein ganzes Leben mit einem Makel behaftet, durch einen – Schurken!“
Raimunds Rechte zuckte empor und umspannte die Hand, die sich zum Schlag gegen ihn erhob, mit starkem Griff um den Knöchel.
„Nun ist’s genug! Auf diesen Schimpf giebt’s nur eine Antwort. Doch nicht hier – – “
Mit ganz leiser, tiefer Stimme hat er gesprochen, aus seinem Gesicht ist jeder Blutstropfen gewichen, eine eigentümliche wilde Schönheit liegt über den entfärbten Zügen. Seine Rechte hält noch immer die Hand des Ingenieurs umspannt und drückt sie nieder.
„Gut denn!“ sagt Harnack und sieht unter den zusammenstoßenden Brauen hervor finster auf seinen Gegner. „Lassen Sie mich los! – Wann? Und wo?“
Raimund zieht seine Hand zurück und zuckt die Achseln.
„Es ist mir alles gleich. Bestimmen Sie!“
„Bei den Kesseltannen? Früh um fünf Uhr – und morgen?“
„Meinetwegen!“
„Ich werde Ihnen noch heute abend jemand schicken –“
„Auch Sie hören noch von mir im Lauf dieses Abends!“
Es wird kein weiteres Wort, kein Abschiedsgruß mehr zwischen ihnen gewechselt. Draußen fällt die Thür ins Schloß, Raimund ist allein. Er schüttelt ein klein wenig den Kopf, dreht sich um und schließt mechanisch die Klappe der Klaviatur. Die letzten Takte des Schumannschen Intermezzos, das er gespielt, klingen in ihm nach – – und ihm ist, als wäre es vor Tagen gewesen, daß er das gespielt. Sein Blick streift über die Büsten an den Wänden – goldene Sonnenstrahlen umspielen Beethovens Titanenhaupt, küssen Mozarts jugendfroh lächelnden, weichen Mund. Sie tanzen auch über die auf dem Piano hingestreuten Notenhefte hin, auf den losen Blättern, über denen der Stift sorglos hingeworfen liegt, wie eben aus der Hand gelegt – seine neueste Komposition, mehr als zur Hälfte vollendet, „Frühlingsphantasie“ hatte er sie genannt – und wie sie ihm leicht und schön und mühelos entstanden war nach der letzten Unterredung mit seinem Vater! Die hatte jene ganze Mißstimmung, die ihm sein Bekenntnis dem Justizrat gegenüber geschaffen, fast ganz beseitigt – er hatte wieder komponieren können – nein, komponieren müssen, die Harmonien drängten sich ihm förmlich auf, es sang und klang in ihm – war doch in sein Leben seit Jahren zum erstenmal wieder ein Hoffnungsschimmer gefallen, der ihm zeigte, es könne doch noch eine Zukunft für ihn geben, und dieser Hoffnungsstrahl war ihm entglommen, bald, nachdem er das Weib gefunden hatte, das er liebte!
Wie grenzenlos er sie liebte und für sich ersehnte, das durchschauerte ihn jetzt wieder, da alle Fibern in ihm angespannt waren, jeder Nerv wie unter dem Hochdruck seiner Gefühle in ihm erzitterte. Er sah sie vor sich – zum Greifen deutlich! – aber nicht nur das schöne, stolze Gesicht, die schlanke Gestalt, die sein Staunen, sein Entzücken gewesen war, schon beim erstenmal, da er sie sah – auch ihr Lächeln, ihr Zustimmen oder Abwehren, das rasche Verständnis in ihren Augen, die warme Anteilnahme – alles, was ihm von ihrer Seele sprach. – – – Eine Zukunft in seiner Kunst – und dies Mädchen! Wohl war es Vermessenheit von ihm gewesen, das zu denken, denn noch lag sein neuer Beruf und das, was er in ihm schaffen, leisten wollte, wie hinter einem Schleier, der lockt, verheißt, aber immer noch verhüllt! Gesetzt auch, sie empfand mehr für ihn als freundschaftliche Zuneigung …. durfte er vor sie, die gefeierte Schönheit, die verwöhnte Erbin, hintreten und sagen: „Ich glaube [733] jetzt an meine Zukunft und an meinen guten Stern. Ich will hingehen und aus all meinen Kräften versuchen, mir einen Namen, eine Stellung zu schaffen. Willst du auf mich warten, bis ich mir beides errungen habe? Hast du mich lieb genug dazu?“
Wohl war’s ein Wagnis, aber in dem Rausch, der über ihn gekommen war, in der Schaffensfreudigkeit und Siegeszuversicht, die ihm in allen Adern pochte, hätte er es unternommen, hätte er die Würfel geworfen um sein Lebensglück ....
Jetzt aber –
Er war vielleicht in zehn Stunden schon ein toter Mann! Harnack würde ihn sicher nicht schonen! Er witterte in ihm einen Nebenbuhler um Alix’ Gunst, er sah in ihm den Ankläger und Verderber des Bruders, und er hatte von Anbeginn an schon eine tiefgehende Antipathie gegen ihn gefaßt! Es half nichts, um den Gedanken vorsichtig herumzugehen, er war immer wieder da: Raimund Hagedorn – es geht um dein Leben!! –
Und dazu schien die Sonne draußen so herrlich, und wie die glühende Hitze allgemach ein wenig nachließ, kam wohliges Genießen über alle Kreatur. „Leben!“ zwitscherten die Schwalben, die in Schraubenwindungen hin und her schossen und blitzschnell unter den Dachfirst des Hausdaches schlüpften. „Leben!“ flötete die kleine Amsel im Käfig, wie sie von Sprosse zu Sprosse sprang und ihr Köpfchen dem Licht zukehrte. „Leben!“ säuselten die Blätter der Bäume, die jenseit des Weges ihren Wipfel in der Abendsonnenglut wiegten, und „Leben!“ jauchzten die Stimmen der spielenden Kinder fernher vom Dorf. Und er hatte das Leben immer geliebt – als kleines Kind schon, das sich jubelnd ohne Veranlassung daheim im Garten in Wien ins hohe Gras warf – als Knabe, der in unbändiger Lust tobte und sprang – als junger Mensch, der mitten in dem leisen Grauen, das seine tollkühnen Reiterkunststücke ihm erregten, deutlich genug die aufquellende Daseinslust empfand, die ihn gerade solche waghalsigen Unternehmungen geflissentlich suchen ließ – als Mann, der trotz einer aufgezwungenen Arbeit immer noch unzählige Augenblicke aufflackernder Begeisterung, selbstvergessenen Genusses gekannt hatte, denen freilich zu leicht nur der Schmerz sich gesellte. Sie waren nicht ausgeblieben, die Stunden, in denen Raimund sich voll Groll gesagt hatte, daß Nichtsein für ihn bester wäre als Sein, daß er diese Existenz nur wie eine Schuld ansehe, die er seinem alten Vater abtragen müsse – dennoch rang sich Jugend und Genußfähigkeit immer von neuem in ihm empor, und namentlich die Freuden, die er seiner Musik verdankte, tönten wie glockenrein gestimmte Accorde in seinem Innern wieder.
Er stand immer noch am Schreibtisch neben dem geöffneten Fenster, hielt selbstvergessen das Bild seiner Mutter in der Hand und horchte auf die Töne, die das Leben ihm zurief!
– – – Zuletzt raffte er sich zusammen – er mußte handeln.
Eine Zeit lang kramte er zwischen Papieren umher, zerriß viele und schichtete die Fetzchen zu einem Stoß zusammen, um den er ein großes Zeitungsblatt schlug, und ging damit vorsichtig zum Kaminofen. Er legte das Papier in die sorgfältig gefegte Oeffnung und setzte es mit einem Zündholz in Brand. Gedankenvoll sah er zu, wie die rasch auflodernde Flamme um sich griff und die Blätter bis zu einem Häufchen grauschwarzer Asche verzehrte.
Hierauf ging er zum Schreibtisch zurück, legte sich weißes Papier zurecht, und nach wenigen Minuten flog seine Feder im schnellsten Tempo darüber hin.
Alix war vor ihrer Uebersiedlung nach Josephsthal keine Frühaufsteherin gewesen. Hier aber führte sie ein ungleich ruhigeres, regelmäßigeres Leben. Hatte sie auch häufig Besuch aus der Nachbarschaft, so fuhr derselbe, mit Rücksicht darauf, daß das junge Mädchen noch in Trauer war und dem offiziellen Verkehr ihr Haus noch nicht geöffnet hatte, meistens gegen zehn oder elf Uhr abends davon, für Alix sonst eine sehr frühe Stunde. Jetzt hatte sie sich’s angewöhnt, zeitig zu Bett zu gehen, und die natürliche [734] Folge davon war, daß sie früher aufwachte und, halb gegen ihren Willen, den Reiz der Morgenstunden kennenlernte. Freilich nicht der allerfrühesten Morgenstunden, aber auch das wollte sie jetzt zuweilen thun. Die Majorin hatte ihr erklärt, so alt sie geworden sei, habe sie, die Großstädterin, noch nie einen Sonnenaufgang mit angesehen, und nun hatten beide Damen beschlossen, sich einmal dies herrliche Schauspiel zu gönnen.
James hatte Befehl erhalten, die Damen zeitig zu wecken, wenn der nächste schönes Wetter verheißende Tag anbräche. Zweimal hatte der vortreffliche Diener das nicht können, denn am Montag regnete es in der Nacht, und am Dienstag sah das Wetter zweifelhaft aus. Heute, Mittwoch, war der Horizont ganz klar, ein kaum merkbarer Wind fächelte in den Zweigen, das Wetterglas war gestiegen.
Françoise hatte es sich nicht nehmen lassen, dabei zu sein, obschon sie Naturschauspielen keinen besonderen Wert beizulegen vermochte – schöne Läden und elegant geputzte Menschen waren ihr lieber. Indessen, wenn Mignonne sich diese Marotte in den Kopf gesetzt hatte, mußte Françoise sie mitmachen.
Innerlich ziemlich schlechter Laune, mit sehr kleinen, verschlafen blinzelnden Augen, erschien Françoise im Gartensaal und war nicht wenig erstaunt, Alix daselbst schon vorzufinden, und zwar vollständig frisiert und im Reitkostüm.
„Ah, Sie wollen reiten?“
„Gewiß! Ich will im Anschluß an den genossenen Sonnenaufgang einen Ritt durch den Wald unternehmen!“ sagte das junge Mädchen in resolutem Ton. „Nun bitt’ ich mir aber eine freundliche Miene aus!“ fügte sie gutlaunig hinzu. „Wir bekommen einen herrlichen Tag, und James wird uns noch eine Tasse Kaffee servieren, ehe wir zum Birkenhügel gehen!“
Frau von Sperber, welche jetzt, von James mit den Kaffeetassen begleitet, erschien, war gleichfalls erstaunt über Alix’ Toilette.
„Gehen Sie ruhig, nach gehabtem Naturgenuß, wieder zu Bett, liebe Frau von Sperber,“ bat das junge Mädchen, „nur gönnen Sie mir meinen Waldritt.“
„In Gottes Namen, liebste Alix. Falls Sie nur nicht von mir verlangen, daß ich mich auch zu Roß schwinge und mit Ihnen reite, gönne ich Ihnen alles und jedes. Eine Bedingung freilich hab’ ich dabei: Sie dürfen nicht ohne Begleitung in den Wald!“
„Wenn ich ,Rebell‘ mit mir nehme –“
„‚Rebell‘ ist ein sehr starker und sehr treuer Hund, aber durchaus kein genügender Schutz. Wenn Sie nicht James mithaben wollen, so muß es der Groom sein. Sie müssen mir schon erlauben, Sie daran zu erinnern, daß ich hier die Stelle einer Mutter einnehme – – wenigstens, was Fragen wie diese betrifft. Glauben Sie, daß Ihre Mutter Ihnen diesen einsamen Ritt durch den Wald, unmittelbar nach Sonnenaufgang, gestattet hätte?“
„Nein!“ erwiderte Alix unmutig. „Wenn es sein muß ...“
Frau von Sperber sagte kein Wort weiter. Alix erschien ihr unbegreiflicher als je! Hatte denn die Erinnerung an das Ende ihres Vaters alle Schrecken für sie verloren? Sie drängte den peinlichen Gedanken zurück, goß anscheinend heiter den Kaffee aus der zierlichen Silberkanne in die Tassen, bot den Zucker herum, sprach von der erfrischenden Morgenluft und daß es doch kein Gewitter in dieser Nacht gegeben habe, so drückend es gestern gewesen.
Man sah nach der Uhr, fand, daß es gleich Zeit sei, und beeilte sich mit dem Trinken, um rechtzeitig beim Birkenhügel zu sein. Alix ließ sich von James das flache Reithütchen, die langen weichen Lederhandschuhe und die Reitpeitsche reichen, während sie ihr Kleid zum Gang durch den Park hochzog. „Rebell“ wurde hereinbeordert und sprang wie toll an seiner Herrin empor.
Als Alix dem zurückbleibenden James, halb über die Schulter zurückgewendet, im Gehen zurief: „Also an der kleinen Pforte soll der Groom mit ,Primrose‘ und dem Braunen auf mich warten!“ sagte Frau von Sperber wiederum nichts, aber ein freundliches, warmes Licht kam in ihre klugen Augen, die beifällig auf Alix sahen.
Draußen webte ein zartes, weißliches Licht um die Baumstämme. Verschlafene Vogellaute tönten hier und da aus dem Blätterdach, aber noch saßen die kleinen Sänger zusammengeduckt im Gezweig und rührten sich nicht.
Keiner von den drei Dahinwandelnden sprach. Einmal während des Gehens neigte sich die Majorin über ein Blumenbeet und brach eine köstliche, halb erblühte weiße Moosrose, neben der noch ein paar Knospen waren, sowie grüne, herbduftende Blätter. Der Tau lag in dicken Perlen darauf. Die alte Dame hielt das Sträußchen einen Augenblick von sich zurück, wie um sich an dem lieblichen Anblick zu erfreuen, und steckte es dann ohne weiteres zwischen zwei Knöpfe des Reitkleides an Alix’ Brust, Was diese lächelnd geschehen ließ.
Françoise wollte zu reden beginnen – ihre Herrin gab ihr einen bittenden Wink mit den Augen, sie möge es lieber unterlassen. Wozu denn immer sprechen? Es war so viel schöner, in sich selbst hineinzuhorchen und zu staunen! Und jetzt war man beim Birkenhügel angelangt. Alix selbst hatte diesen schönen, hochgelegenen Platz entdeckt, einige Bäume fällen, eine kleine Laube herrichten und die Aussicht frei legen lassen; sie war sehr stolz auf diese That und konnte es sein, denn der Blick von hier war überraschend schön. Der Birkenhügel beherrschte den Fluß, der sich hier verengte, so daß man das jenseitige Ufer bequem übersehen konnte. Es waren nur die neuerbauten Arbeiterhäuser zu erblicken; die Fabrikschlote wurden durch eine Krümmung des Flusses dem Auge entzogen. Rechts dehnte sich eine mäßig hohe Hügelkette in anmutigen Wellenlinien hin, zur Linken schloß dunkler Waldbestand, der sich in weitem Bogen herumzog, das Rundbild ab.
Schon färbte sich’s glühend rot im Osten. Kein Wölkchen, so weit das Auge reichte – nur in langhingezogenen sanften Linien die Streifen, die den Osten umsäumten. Diese begannen jetzt eine seltsame purpurbläuliche Farbe anzunehmen, während unmittelbar über dem Horizont in wunderlich abgeplatteter Form der obere Rand der Sonne hervorsah – Helios fuhr in seinem goldenen Wagen herauf! Und wie sich die Sonne mehr und mehr hob und zu strahlen begann, da goß sich ein Meer von rotem Licht über Wald und Berge und Häuser und spiegelte sich – ein entzückender Anblick – im ruhig gleitenden Fluß.
Frau von Sperber, ganz hingenommen von dem prächtigen Schauspiel der aufgehenden Sonne, kann doch nicht umhin, rasch und verstohlen immer wieder auf Alix zu blicken. So schön und so bewegt! Ein mitfühlender Seufzer hebt die Brust der alten Dame. Ach, es ist doch etwas Köstliches um Jugend und um Liebe! Gott wolle alles zum besten lenken!
Françoise hat es auch recht schön gefunden, was sie da gesehen hat, aber nun hat sie es satt – überdies blendet sie all die Farbenpracht. Auch daß so viel Nässe von den Zweigen auf sie herniedertropft, findet sie nicht gerade angenehm; wenn man jetzt heimginge und sich wieder zu Bett legte! Aber Mignonne steht wie verzaubert da und rührt sich nicht!
„Rebell“ denkt ähnlich wie die Französin. Müde ist er zwar nicht, und von Ruhe will er nichts wissen – im Gegenteil! Aber dies stumme Ausharren wird ihm unerträglich. Er hat sich dem gebieterischen „Nieder – nieder! Süll sein!“ seiner jungen Herrin bisher gefügt, hat seinen großen, schönen Kopf auf die Vorderpfoten platt hingelegt und mit einem blinzelnden Blick den Sonnenaufgang über sich ergehen lassen. Nun aber ist’s genug! Er beginnt sich zu dehnen, gähnt gewaltig, springt mit einem entschlossenen Ruck auf und bellt zweimal in kurzen, auffordernden Lauten mit seiner groben Bruststimme.
„Ja – ja!“ sagt Alix, wie aus tiefen Gedanken heraus. „Man muß sich losreißen – der Groom wird mit den Pferden schon warten. Also Adieu, liebe Frau von Sperber – war’s nicht wunderschön? Und du, Françoise, kriech’ nur schleunigst wieder in dein Lager zurück, du siehst polizeiwidrig müde und verschlafen aus. Komm, ,Rebell‘!“ Sie nimmt den Hund, der freudig vorausspringen will, beim Halsband, nickt den Zurückbleibenden zu und steigt den Hügel hinab.
An der kleinen Pforte wartet der Groom. Er reitet denselben Lichtbraunen, den Raimund Hagedorn damals bei seinem Spazierritt mit der schönen Cousine hatte; jetzt ist der Mensch wie ein Blitz aus dem Sattel und führt „Primrose“ vor, die ihre Nüstern bläht und den Kopf aufwirft, zum Zeichen, daß ihr der Gedanke an den bevorstehenden Ausflug behagt.
Im Nu ist Alix oben; sie setzt sich zurecht und ordnet die Zügel, während „Rebell“, jetzt unbehindert, mit großen Sprüngen Roß und Reiterin umkreist und dazu bellt, daß es weithin schallt.
„Wir nehmen zunächst im Bogen herum flaches Land, und dann erst links hinüber in den Wald,“ spricht Alix über die Schulter zurück zum Groom. „‚Primrose‘ ist unruhig, und ich [735] will ihr etwas Bewegung verschaffen. Allez, toll’ dich aus!“
Das läßt sich die arabische Schimmelstute nicht zweimal gesagt sein; sie macht noch ein paar verwegene Kapriolen, die ihr einen leichten Peitschenhieb eintragen – jetzt, wie der Pfeil von der Sehne, ist sie davon, sie soll und sie will „sich austollen“. Gestreckte Carriere! In Gottes Namen!
Schon rückt die dunkle Linie des Waldes näher – jetzt ein Stück Landstraße, breit, gut gehalten und ganz unbelebt. Wiederum freier Weg – wie wonnig! Der Graben, der hinüberführt, ist nur ein Kinderspiel. Alix hebt sich ein wenig im Sattel, die Peitsche ist unnütz! „Primrose“ weiß ganz genau, was man von ihr erwartet, sie streckt sich und trägt die Reiterin im Flug hinüber. Alix muß an Raimund und seine Rennen denken. Ob er zufrieden mit ihr wäre, wenn er sie jetzt sähe?
Aufatmend hält sie endlich still am Saume des Waldes, der morgenkühl, mit tiefen bläulichen Schatten überspielt, vor ihr liegt. Sie wendet sich im Sattel und blickt nach dem Groom, der dort hinten am Horizont wie ein Pünktchen erscheint. Ja, ja, der Hellbraune ist ein ganz wackeres Tier, aber mit ihrem Vollblut hält er den Vergleich nicht aus.
„Sehr schön gegangen, ,Primrose‘, sehr schön!“ Alix klopft den schlanken, glatten Hals, beugt sich zu „Rebell“ nieder, der sich eifersüchtig herandrängt: „Und du auch – ja, du auch! Ihr seid beide brav – ich kann stolz sein auf euch!“
Jetzt kann der Groom sie schon erkennen – er soll nur wissen, wo sie bleibt. Alix liebt es nicht, wenn er ihr auf dem Fuß folgt, und das weiß er auch gut genug; wenn er nur die Richtung kennt, welche die Baroneß genommen hat, und ihrem etwaigen Ruf erreichbar ist!
Langsam reitet Alix unter den hier dichtgedrängt stehenden Bäumen hin. Die Schimmelstute hebt vorsichtig die zierlichen Hufe; der Boden ist weich von vermodertem Laube, das hier seit Jahren lagert und dicke Schichten gebildet hat. Niederhängende Tannenzweige bedrohen Alix’ Gesicht und greifen nach ihrem Hut. Altersschwache Fichten mit langen, eisgrauen Bärten von wirrem Moosgeflecht neigen sich vornüber, als drohten sie jeden Augenblick zu stürzen, knorrige Eichen stehen dazwischen. Am Stamme der einen, dicht vor Alix, läuft ein Eichkätzchen blitzgeschwind empor, bleibt in gesicherter Höhe hängen, die rotbraunen, haarigen Pfötchen um einen Ast geklammert, und blickt neugierig auf die fremden Eindringlinge nieder. Das junge Mädchen sieht deutlich seine schwarzen Aeuglein von spöttischer Freude glänzen. Husch! Da ist es im Wipfel!
Weiter, „Primrose“, – es muß sich doch zuletzt ein wenig lichten!
Sehr allmählich geschieht das! Hier muß selten oder nie ein Mensch gehen, es ist ganz, ganz einsam, und das Laubholz, das nun wieder vorherrscht, bildet ein Dach, so dicht, daß man kaum den Himmel durchleuchten sieht und den Raubvogel, der droben im Aether seine Kreise zieht und seinen schrillen Schrei ausstößt, nicht entdecken kann. Ein Kuckuck ruft ganz in der Nähe unermüdlich, und träumerisch klingt es im stillen Wald!
Ein Rascheln in den Büschen – näher – ganz nahe – sieh da, ein kleiner Junge, neunjährig etwa, barfüßig, mit Hemd, kurzer Hose und grauem Tragband angethan, einen weißen Spankorb in der braunen Hand, kommt zwischen den Haselnußsträuchern zum Vorschein, und sein Gesicht will Alix bekannt erscheinen. Er fährt zusammen, als er Roß und Reiterin und Hund, die lautlos herangekommen sind, plötzlich vor sich sieht. Der Schreck geht ihm so in die Glieder, daß ihm sein Körbchen, das halb voll Erdbeeren ist, aus der Hand fällt, die Augen sich angstvoll weiten und das kleine gebräunte Gesicht ganz fahl wird.
„Erschrick doch nicht so, Junge!“ sagt Alix freundlich und nickt ihm zu. „Es ist ja nichts Böses, daß du Erdbeeren im Wald gesammelt hast, und zur Schule kommst du doch noch zeitig genug; es ist noch früh! Kennst du mich? Weißt du, wer ich bin?“
Es brauchte Zeit, bis er die Frage verstand. Endlich nickte er.
„Nun? Wie heiß’ ich denn?“
„Die gnä’ – die gnä’ Baroneß vom – vom Schloß!“
„Nun also! Ist das etwas so Schreckliches? Bist du nicht auch bei meinem Kinderfest dabei gewesen?“
Ein heftiges Nicken, aber immer noch dieser verstörte Blick.
„Wie heißest du?“
„Paul – Paul Semmling!“
„Aha!“ Alix weiß nun, warum ihr just dieser Junge so bekannt erscheint. Das ist derselbe Schlingel, den damals Raimund Hagedorn dicht vor seinem Zweirad vom Weg aufgehoben und so derb am Kragen zurechtgeschüttelt hat! Mit einem ganz neuen Interesse sieht das junge Mädchen in das verzagte, braune Kindergesicht. „Ich thu’ dir wirklich nichts, Junge!“ redet sie ihm zu. „Heb’ dein Körbchen auf und lauf’, wenn du willst. Hast du vielleicht Angst vor meinem Pferd oder vor dem Hund? Du schüttelst den Kopf. Ja, vor wem in aller Welt fürchtest du dich sonst so sehr? Doch nicht vor mir?“
„N – – nein!“ ermannt sich Paul Semmling endlich, hervorzustottern. „Vor Baroneß fürcht’ ich mich gar nich!“
„Schön! Sehr lobenswert! Aber du siehst ganz erschrocken aus, ich sehe es ja! Was hat denn das zu bedeuten?“
Der Junge schaut aus seinen runden, weitoffenen Augen wiederum hilflos zu ihr auf, ehe er antwortet.
„Da – dort – haben zwei auf sich geschossen!“ sagt er endlich. „Und das hab’ ich gesehen!“
„Was hast du gesehen?“ ruft Alix so heftig, daß „Primrose“ unruhig wird und „Rebell“ zu knurren beginnt.
„Zwei – zwei – von unsern Herren – hier – hier im Wald – und noch ’n paar andere waren ’bei. Und die schossen auf sich – mit – mit zwei solche Pistolen, und das hab’ ich gesehen und hab’ es gehört, wie ich – wie ich Erdbeeren holen ging aus ’m Schlag, wo die Kesseltannen sind.“
Alix zügelt ihr Pferd mit ungeduldiger Hand und ruft „Rebell“ ein herrisches „Ruhig!“ zu, dann sagt sie mit stockender Stimme: „Weißt du, Junge, wer die Herren gewesen sind, die da – die mit Pistolen geschossen haben? Kennst du sie bei Namen?“
„Ja!“ sagt Paul Semmling ohne Zögern. „Kennen thu’ ich sie alle beide. Und der eine von ihnen, wie zum zweitenmal würd’ geschossen – der eine von ihnen, der fiel um!“
„Und wer war das?“ fragt Alix mit Anstrengung.
„Das ist der Herr Hagedorn gewesen, wo früher bei der Schneidemühl’ war und ist jetzt bei der Oelmühl’ – und ich kenn’ ihn – und er hat mir manchmal was gegeben. Und der fiel um – aber der andere blieb ganz steif stehen!“
„Wer – wer war der andere?“
„Der Herr Oberingenienr Harnack.“
Eine Pause. Durch die Zweige der Buchen und Ahornbäume rieselt das Sonnengold, kein Wind bebt in den Zweigen: es ist, als hielte der schöne grüne Wald in Schrecken den Atem an. In die tiefe Stille hinein tönt plötzlich der Ruf des Kuckucks, ganz nahe und so dringend, wie wenn er warnen wollte.
„Ist es weit von hier?“ fragt Alix tonlos.
Der Junge zeigt mit der Hand rückwärts in den Wald hinein, als ob damit alles gesagt sei.
„Ob es weit von hier entfernt ist, will ich wissen!“
„Wo die Kesseltannen sind.“
Sie zieht zornig die Brauen zusammen und schwingt sich gewandt vom Sattel. Die Schimmelstute am Zügel haltend, späht sie angestrengt den Weg zurück, den sie gekommen ist. Es schimmert etwas zwischen den Bäumen in ziemlicher Entfernung.
„Tommy!“ ruft sie laut in den Wald hinein.
„Gnädige Baroneß!“ klingt es schwach zurück.
„Hierher!“
Das Etwas zwischen den Tannen und Buchen dort hinten bewegt sich, wird deutlicher, kommt näher. Mit der Gewandtheit einer Schlange windet sich der Groom, der den Lichtbraunen meisterlich lenkt, durch das Dickicht vorwärts. Jetzt ist er gleich heran.
„Absitzen, Tommy, und ,Primrose‘ und Ihr Pferd langsam mir nachführen – immer so, daß Sie mich sehen können …. und warten, bis ich rufe!“
„Zu Befehl, gnä’ Baroneß!“
„Komm’ jetzt, Junge!“
Paul Semmling in seinem primitiven Anzug, mit den nackten Füßen, gleitet aalglatt voran – Alix rafft mit der einen Hand ihr Reitkleid, das fortwährend vom Gestrüpp festgehalten wird, und hält mit der andern den Hund, der ungeduldig vorwärtsstürzen will, am Halsband. Sie setzt zum Reden an – wagt es noch nicht – findet die Worte nicht – zuletzt doch:
„War denn kein Arzt zur Stelle?“
[736] „Ja!“ nickt Paul Semmling wichtig. „Unser Doktor war da!“
„Doktor Petri? Und was – was that er?“
„Er kniete sich bei ’n Herrn Hagedorn auf die Erde, und dann riß er ’m den Schlips auf und oben die West’ und das Hemd – und dann hat er ’n behorcht, ob er noch Leben hat!“
„Und – und – fand er noch Leben?“
„Weiß nich! Der Herr Hagedorn lag man so da, ganz für tot, und regt und rippt sich auch kein bißchen. Und die Augen waren ihm ganz zu.“
Alix fragt nichts weiter. Sie stößt ungeduldig die herabhängenden Zweige beiseite und zerrt den Hund am Halsband zurück, aber das geschieht ganz mechanisch. Sie ist kaum fünf Minuten gegangen, und doch ist es ihr, als ginge sie schon stundenlang durch den Wald, Raimund Hagedorn zu suchen, der im Duell gefallen ist, und als wüßte sie es schon seit Tagen, daß er einen Zweikampf gehabt mit Ingenieur Harnack.
Vor ihnen liegt eine ziemlich steile Anhöhe, von dunklem, dichtem Tannenbestand umsäumt. Der Junge klimmt wie eine Gemse da hinauf. Alix ist es einmal, als höre sie Stimmengemurmel.
„Ist es hier?“
„Ja. Das sind ja doch die Kesseltannen!“
Wenn man sich in die Höhe gearbeitet hat, steht man in Wahrheit vor einem regelrecht gebildeten Kessel, den rund herum hohe und meist schön gewachsene Tannen umziehen. Den Boden dieses sogenannten Kessels bildet eine hübsche blumige Waldwiese; das Gras wächst üppig darauf und ist reich mit Blumen durchwirkt.
Zwei Männergestalten sind von oben in dem „Kessel“ zu erblicken. Die eine liegt auf den Knieen und hantiert am Boden, die zweite steht in gebückter Haltung daneben.
Alix wird es schwindlig, ihr ist, als drehten sich die Kesseltannen in einem wilden Reigen um sie her, als käme die Waldwiese ihr entgegen. Sie beißt die Zähne zusammen und steigt mit wankenden Knieen den Abhang hinunter.
Natürlich bemerken die beiden Herren, die ihr den Rücken wenden, ihr Nahen auf dem weichen Waldboden nicht. Auch dann nicht, als sie dicht neben dem Knieenden steht und auf die regungslose Gestalt, die er in den Armen hält, heruntersieht.
„Doktor Petri!“ sagt Alix’ Stimme, die seltsam verändert klingt, leise.
Der Kopf des Arztes fährt überrascht herum – seine Hände lassen den hilflosen Mann nicht los.
„Baroneß – Hofmann! Wie kommen Sie denn hierher?“
Alix winkt nur mit der Hand ab, zum Zeichen, daß dies ja ganz gleichgültig sei. Sie beachtet es auch nicht, daß der gebückt stehende Herr sich hastig emporrichtet und sie ehrerbietig grüßt.
„Ist Gefahr da? Lebensgefahr?“
„Das kann ich Ihnen jetzt nicht sagen,“ antwortet Doktor Petri. „Ich habe mich damit begnügen müssen, die Wunde möglichst sorgsam zu verbinden, ich kann hier den Sitz der Kugel nicht feststellen und sie nicht ohne die nötigen Hilfsmittel und Vorkehrungen entfernen. Eine leichte Wunde ist es wohl keinesfalls – er hat eine tiefe Ohnmacht. Herr Amelung, Herrn Harnacks Sekundant, ist zum Wagen gegangen, Polster und Decken, sowie ein paar Stangen zu holen, damit wir ihn bequemer tragen können. Er muß bald zurück sein. Unterdessen habe ich unserm Verwundeten den Verband angelegt, und Herr Lieboldt, der ihm als Sekundant diente, hat mich dabei unterstützt!“
Der junge Techniker verneigte sich abermals tief vor Alix und erhielt ein zerstreutes Kopfnicken zum Dank.
„Und wo ist sein –“ sie hatte sagen wollen „sein Mörder“, unterdrückte das Wort aber noch rechtzeitig, „wo ist der – andere?“
Doktor Petri hob ein wenig die Schultern. „Natürlich fortgegangen. Dieser Anblick mußte ihm doch recht peinlich sein!“
Alix sah, ohne zu antworten, auf das sonst so lebensvolle, bewegliche Gesicht nieder. Wie aus Marmor gemeißelt war es anzusehen, die edlen, feinen Linien zeichneten sich scharf ab, das lockige Haar lag wirr über die Stirn gebreitet.
Alix fühlte die aufquellenden Thränen kommen und wandte sich hastig ab.
„Baroneß sollten lieber nicht hier bleiben und dies mit ansehen,“ sagte Doktor Petri mitleidig. „Zu helfen giebt es vorläufig nichts –“
Das junge Mädchen schüttelte nur den Kopf; sprechen konnte es nicht. Der Ruf des Kuckucks klang abermals durch die Waldesstille. Sollte er Antwort geben, wenn man ihn fragte, wie lange der wunde Mann, der hier am Boden lag, noch zu leben hätte? – „Mein Groom ist hier in der Nähe mit den Pferden!“ brachte sie endlich mühsam hervor. „Ich hatte einen Frühritt durch den Wald unternommen. Wenn er sich irgendwie nützlich machen kann –“
„Gewiß! Er kann uns helfen, den Patienten zu tragen. Je mehr Hände dabei zufassen, um so mehr wird der Transport erleichtert.“
„Lauf’ hin, Junge, und hol’ den Reitknecht hierher!“ gebot Alix dem dicht hinter ihr stehenden Paul Semmling, der mit weitgeöffneten Augen die seltsamen Vorgänge verfolgte. „Du weißt, wo er steht. Er soll hierherkommen, so rasch er kann!“
Der Arzt blickte dem lautlos davonhuschenden Barfüßler mißbilligend nach.
„Wir haben ungewöhnlich viel Publikum!“ sagte er halblaut. „Die Geschichte wird in der Kolonie herum sein, ehe zwei Stunden vergehen. Na, schließlich ist es einerlei. Ein Geheimnis kann solch’ ein Duell niemals bleiben!“
Sie kamen fast gleichzeitig von verschiedenen Seiten an – Ingenieur Amelung mit seiner Last und der Groom. Doktor Petri traf sofort geschäftig seine Anordnungen. Die Stangen wurden zusammengebunden und große Tannenzweige von den zunächststehenden Bäumen darübergelegt. Sie legten alle mit Hand an, die drei Herren und Tommy, als sie den Bewußtlosen vorsichtig auf die improvisierte Tragbahre hoben und mit Kissen aus dem Wagen stützten.
Langsam setzte sich der kleine traurige Zug in Bewegung. Alix führte die beiden Pferde am Zügel nach. „Rebell“, der mit leisen Klagelauten die Tragbahre umkreiste, legte sich von Zeit zu Zeit platt auf den Boden und stieß ein langgezogenes Winseln aus.
Einmal hatte Alix Doktor Petri leise gefragt: „Wohin wollen Sie ihn bringen?“ und auf seine Antwort „Nach dem Josephsthaler Krankenhause“ hatte sie rasch und noch leiser, so daß nur der Arzt es verstand, erwidert: „Ich wünsche, daß er nach dem Schloß gebracht wird!“ Doktor Petri hatte nichts darauf gesagt, nur von der Seite einen Blick auf das Gesicht des jungen Mädchens geworfen. Da war dies Gesicht plötzlich tief errötet. –
Durch Sonnenschein und Waldesduft trugen sie ihn, der beides so sehr geliebt. Die kleinen Vögel flatterten immer mit, als wollten sie ihm das Geleit geben, und als sie an der Grenze des Waldes angelangt waren, wo der Wagen sie erwartete, hörten sie immer noch den Ruf des Kuckucks zu sich herübertönen.
[756]
Seit zwei Tagen war die ganze Physiognomie des Josephsthaler Schlosses völlig verändert. Die elektrischen Glocken waren zum größten Teil abgestellt, die Diener huschten auf noch leiseren Sohlen als sonst, die Thüren gingen geräuschlos in ihren Angeln, zwei barmherzige Schwestern aus Greifswald waren häufig auf den Gängen und Treppen anzutreffen, Aerzte kamen und gingen, ein alter Herr mit schneeweißem Haar und traurigen blauen Augen schlich beständig, wie ein ruheloser Geist, von Zimmer zu Zimmer, von Stiege zu Stiege, um immer wieder an eine verschlossene Thüre zurückzukehren – Kübel mit Eis und Kompressen von Leinen oder Wundwatte mit Jodoform wurden umhergetragen ... es war wie in den schauerlichen Sterbetagen des Barons von Hofmann: das Schloß war in ein Krankenhaus umgewandelt.
Wenn der junge Mann, der da auf seinem Sterbebette lag – für Françoise stand es fest, daß er sterben mußte! – auch sehr hübsch war und die Baroneß ihn ihren Vetter und den alten Herrn „Onkel Eberhard“ nannte ... mon Dieu, die Thatsache stand doch fest: er war Buchhalter in der Oelmühle und bezog jährlich so und so viel Gehalt aus Alix’ Tasche! – Françoise wagte natürlich nicht, zu Mignonne direkt etwas zu äußern. Aber ihre ganze Persönlichkeit war in diesen Tagen nichts als ein lebensgroßer Protest. Zehnmal des Tages lief sie zu Frau von Sperber: „Ich kann nicht schweigen, ich muß mir mein Herz erleichtern! O, Madame, ich beschwöre Sie, sagen Sie mir Ihre wahre Meinung: billigen Sie dies? Finden Sie es richtig, daß eine unverheiratete, vornehme junge Dame einen jungen unverheirateten Herrn in ihr Haus aufnimmt und ihn da verpflegen läßt, als sei er ein Prinz?“
Die Majorin konnte nicht umhin, wenngleich in etwas veränderten Wendungen, allemal dieselbe Antwort zu geben: „Liebe Françoise, ich kann nichts Unpassendes dabei finden. Die Baroneß ist, obgleich jung an Jahren, doch klug genug, um zu wissen, was sie thut, und die Konsequenzen ihrer Handlungsweise zu tragen. Sie steht auch nicht allein und ohne mütterlichen Rat und Schutz, wofür wäre ich denn da? Hätte Alix, die über so viel Mittel und helfende Hände verfügt, den jungen Mann hilflos im Walde in seinem Blute liegen sehen und nach Hause reiten und gemütlich frühstücken sollen, als wenn nichts geschehen wäre?“
„Nein, aber sie konnte ihn ins Josephsthaler Krankenhaus bringen lassen und, wenn sie schon ein übriges thun wollte, für eine gute Verpflegung dort sorgen.“
Dann seufzte die Französin; und Frau von Sperber seufzte auch, wenngleich aus andern Gründen.
[758] Sie konnte das Gesicht nicht vergessen, mit welchem Alix an jenem Schreckensmorgen vor sie hingetreten war und ihr gesagt hatte: „Es ist ein Unglück geschehen; ein Duell hat stattgefunden, und ein Schwerverwundeter wird hierher nach dem Schloß gebracht, auf meinen speziellen Wunsch. Ich bin rasch vorausgeritten, sowie wir aus dem Walde heraus waren, um es Ihnen zu sagen. Wir werden alle Vorkehrungen treffen, Pflegerinnen aus Greifswald kommen lassen, und, nicht wahr, liebe Frau von Sperber“ – hier hatte Alix plötzlich beide Arme um den Hals der Dame geschlungen – „Sie werden uns mit Ihrer Erfahrung, Ihrem Rat zur Seite stehen – um meinetwillen?“
Da hatte die Majorin das junge Mädchen zum erstenmal mit mütterlicher Innigkeit ans Herz gedrückt und mit gerührter Stimme alles zu thun versprochen, was in ihren Kräften stand, denn in jenem Augenblick hatte sie Alix’ Geheimnis erraten; sie wußte, den Mann, welchen sie jetzt unter das Dach ihres Hauses führte, diesen Mann mußte Alexandra von Hofmann lieben!
Sie waren einander um vieles näher gekommen in diesen beiden Tagen, die zwei Frauen. Frau von Sperber, die lange ihren leidenden Mann gepflegt, wußte im Krankenzimmer gut Bescheid und ordnete alles Erforderliche mit Ruhe und Umsicht an. Sie war im Zimmer, als Doktor Petri die Kugel herauszog, sie machte, ehe die barmherzigen Schwestern aus Greifswald eintrafen, den Assistenten des Arztes, that alle Handreichungen, scheute vor nichts zurück und erntete Doktor Petris höchste Anerkennung. Sie brachte Alix von dem Verlauf der wichtigen Untersuchung Bescheid, duldete nicht, daß das junge Mädchen die Krankenstube in diesen entscheidenden Stunden betrat, und beruhigte den alten Vater Hagedorn, der zugleich mit den Pflegerinnen, auf Alix’ Benachrichtigung, von Greifswald herübergekommen war.
Der alte Herr hatte völlig den Kopf verloren. Die Schreckensnachricht hatte ihn ganz unvorbereitet getroffen und ihn total daniedergeworfen. Er wollte beständig im Krankenzimmer bei seinem „Jungchen“ sein, gebärdete sich daselbst aber ganz fassungslos, begann zu weinen, behauptete, den Anblick nicht ertragen zu können, und lief davon, um nach zehn Minuten mit geröteten Augen auf den Fußspitzen wieder heranzuschleichen, Besserung zu geloben und, kaum wieder zu dem Kranken gelassen, dieselbe Scene zu wiederholen. Doktor Petri sowie der aus Greifswald herbeitelegraphierte Arzt hatten Frau von Sperber bereits dringend ersucht, die Anwesenheit des alten Herrn im Krankenzimmer zu verhindern – er würde seinen Sohn, wenn er zur Besinnung käme, unnütz aufregen.
Aber Raimund Hagedorn kam noch immer nicht zur Besinnung. Er hatte hohes Wundfieber, erkannte niemand von seiner Umgebung und phantasierte ohne Aufhören. Meistens war es die Musik, mit der er sich beschäftigte. Bald komponierte er, erbat stürmisch Notenpapier und Stift, um alle musikalischen Ideen, die ihn bedrängten, niederzuschreiben – bald wieder glaubte er sich am Dirigentenpult und studierte dem Orchester eine seiner Kompositionen ein … Dann hatte er seinen Aerger mit dem Orchester, das seine Intentionen nicht verstand, seine musikalischen Ideen nicht so herausbrachte, wie es wünschenswert, nein, notwendig erschien.
Hoch sprang der fieberglühende Mann im Bett empor, daß der Eisbeutel herumflog und der Verband sich lockerte. Die Pflegerinnen konnten ihn nicht halten, sie mußten sich männliche Hilfe herbeiholen. Der alte Herr Hagedorn war unbrauchbar und Frau von Sperber ließ James rufen, um den Delirierenden nötigenfalls im Bett festzuhalten. – Am Morgen des dritten Tages ging Alix mit dem alten Herrn Hagedorn im Park auf und nieder. Die Nacht war sehr unruhig gewesen, die Schlafmittel hatten sich als wirkungslos erwiesen. Die Pflegerinnen konstatierten ein neues Steigen der Temperatur, und Doktor Petri, der ganz früh dagewesen war, hatte sich sehr besorgt geäußert. Er habe den Fall wohl gleich für ernst, aber nicht im entferntesten für so schwer angesehen; wenn das mit dem Fieber weiter fortginge, so …
Er hatte nicht zu Ende gesprochen, aber man denkt sich alles Weitere, wenn die Aerzte sich derartig äußern.
Der alte Herr war selbstverständlich nicht dabei gewesen, als Doktor Petri diesen Ausspruch that, aber die besorgten Mienen und ausweichenden Antworten der Majorin, sowie der Pflegerinnen ließen ihn leicht erraten, daß es nicht gut stand.
„Daß Doktor Petri dies entsetzliche Fieber gar nicht zum Stillstand oder wenigstens zum Sinken bringen kann,“ sagte Hagedorn senior endlich nach langem Schweigen und richtete seine guten Augen mit einem hilflosen Ausdruck auf das junge Mädchen.
„Lieber Onkel Eberhard, wir müssen es abwarten. Doktor Petri kommt in einigen Stunden wieder. Er giebt sich die denkbarste Mühe!“
„Meinen Sie wirklich? Das heißt – – nein, – das wollte ich eigentlich gar nicht sagen, – wie soll ich dazu kommen, einen Zweifel aussprechen zu wollen, wo ich nichts als Sorgfalt und Güte sehe!! Ach, Kind, Sie sind so gut und nachsichtig, zwanzigmal am Tag frage ich Sie dasselbe, ich weiß es recht gut, und nie sind Sie ungeduldig, immer finden Sie noch ein beruhigendes Wort, einen Trost für mich! Aber Sie müssen auch bedenken: er ist mein Einziger! Wenn ich mir vorstelle, er sollte vor mir hingehen, und ich alter Mann bliebe allein und verlassen übrig –“
„Onkel Eberhard, bitte bitte!“
Ihre zitternde Hand legt sich auf die seine, aber der alte Mann ist zu erregt, er bricht ratlos in Thränen aus.
„Sie sind jung, Kind, und stehen an der Schwelle des Lebens, Sie können das nicht so verstehen!“ stammelt er fassungslos. „Ich aber – mit mir ist’s vorbei, wenn mein Raimund nicht mehr da ist!“
Jawohl, sie ist jung, steht an der Schwelle des Lebens, und dies Leben hat ihr vieles geschenkt, was Tausenden versagt blieb: Schönheit, Reichtum, Gesundheit und Intelligenz! Aber doch finden seine Worte ein Echo in ihrer Seele, und sie spricht dieselben im stillen nach: „Mit mir ist’s vorbei, wenn mein Raimund nicht mehr da ist!“
Sie meint das in anderem Sinn als der alte Mann, der wohl denkt, er werde daran sterben. Alix ist nicht exaltiert, nicht überschwenglich genug angelegt, um überzeugt zu sein, sein Tod werde den ihrigen nach sich ziehen. Es stirbt sich nicht so leicht, wenn man kaum zwanzig Jahr alt und gesund an Leib und Seele ist! Sie denkt nur für sich: mit dem Besten und Schönsten in mir ist es vorbei, wenn er mir stirbt, denn ich weiß: das Schönste in meinem ganzen Leben bisher war und wird ferner sein diese meine erste, starke und heiße junge Liebe!
Das muß sie in sich verschließen, während sie neben dem alten Mann steht und ihn weinen sieht. Zum hundertstenmal wohl in diesen schweren Tagen ringt sich das bange Stoßgebet aus ihrer Seele los: „Schone, mein Gott, dies Leben!“ und unmittelbar hinterher schleicht der Zweifel und fragt: „Wird es geschehen? Wird es?“ – – –
Aus einer Seitenallee kommt James und bringt die Postsachen. Alix hat schnell aus den ihr überreichten Briefen einen mit dem Blick herausgesondert, dessen Handschrift sie wie ihre eigene kennt, einen Brief, der den Poststempel einer kleinen Ortschaft in Südtirol trägt. Maria hat in letzter Zeit nur Postkarten an Alix geschrieben, da ihre bevorstehende Reise ihr wenig freie Zeit gönnte. Nun endlich dieser Brief!
„Gehen Sie, Herzenskind, und lesen Sie in Ruhe!“ sagt der alte Herr neben Alix. „Ich werde Sie gewiß nicht stören!“
„Sie bleiben hier in der Nähe, ja, Onkel Eberhard?“ fragt das junge Mädchen liebevoll. „Sie werden nicht ins Schloß gehen und versuchen, ins Krankenzimmer zu kommen, sondern hier draußen in der schönen frischen Luft bleiben und ein wenig auf und nieder gehen, bis ich mit meiner Lektüre fertig bin?“
„Ich werde gehorsam sein!“ erwidert er mit einem trüben Lächeln.
Sie nickt ihm freundlich zu und zieht sich mit ihrem Brief auf ein halbrundes Bänkchen zurück, das von einer schönen Esche mit tiefhängenden Zweigen überschattet wird.
„Dies ist meine erste freie Stunde, geliebte Alix. Die neue kleine Sommerresidenz ist eingerichtet, wegen Bedienung und Essen alles Nötige verabredet, mein Mann hat auf mein Zureden mit seinem Kollegen Herter, der zum Glück auch hierher gekommen ist, einen Spaziergang unternommen, die Kinder spielen draußen mit zwei niedlichen jungen Kätzchen, die sie hier [759] vorgefunden, und ich sitze in der hübschen, rebenübersponnenen Laube, die zu unserer Wohnung gehört, und führe das aus, wozu mein Herz mich schon lange, lange trieb: ich rede mit Dir, mein Liebling!
Daß sich Werner beinahe ganz und Elschen noch lange nicht vollständig erholt hat, sagten Dir meine Karten. Die Aerzte sind ja zufrieden und behaupten, man dürfe nach einer lebensgefährlichen Krankheit nicht mehr verlangen; ich aber meine, ein Kind, noch dazu ein bis dahin immer so gesundes, kräftiges Kind, wie unser Töchterchen es war, das müßte sich weit rascher erholen. Werner ist rührend gut und rücksichtsvoll gegen die kleine Schwester; er zankt nie mehr mit ihr, giebt fast immer nach, spielt geduldig Puppen mit ihr und benimmt sich wie ein kleiner Ritter ihr gegenüber. Von Dir reden beide Kinder täglich und machen damit die Tradition, daß alle Kinder treulose, leicht vergeßliche Geschöpfe sind, zu schanden. Du hättest ihnen gar nicht so schöne Sachen schicken dürfen, um sie an Dich zu erinnern, das geschieht ohnehin! Sie haben sich aber beide unendlich gefreut und werden Dir nächstens schriftlich danken.
Mein Mann ist tüchtig überarbeitet, und die Ferienruhe wird ihm sicher gut thun. Ich selbst habe die Bücher bestimmt, die in die Sommerfrische mitgenommen wurden, lauter belletristische Sachen, nur ein paar populärwissenschaftliche Werke darunter. Er soll seinen Geist ausspannen. Daß sein Kollege Herter hier ist, freut mich von Herzen. Mein Mann hat ihn sehr gern, Herter ist viel jünger als er, sehr heiter und humoristisch angelegt, gut Freund mit den Kindern und ein leidenschaftlicher Tourist – da muß mein Mann mit, er mag wollen oder nicht, und das ist ihm sehr dienlich!
Ich selbst bin gesund; meine Stimmung ist die beste, wenn es meinen Lieben gut geht. Ich wollte, Du könntest unser reizendes Häuschen sehen, im gefälligsten Villenstil erbaut, mit der Rückseite gegen die Berge gekehrt, die sehr imposant und schön sind, von Bäumen umstanden, von grünem Gelände umgeben, und der Garten mit der Laube so gut gehalten! Die Wirtin ist eine sehr behäbige, freundliche Frau, die auch ihre kleine Landwirtschaft hat und uns die köstlichste Milch, die frischesten Eier liefert. Das Dorf ist langhingestreckt, sehr groß und entschieden wohlhabend, die Häuser sind alle geräumig, nicht ohne Geschmack und Zierlichkeit gebaut, die Kirche könnte jeder Mittelstadt zum Schmuck gereichen, sie enthält wunderschöne Schnitzereien und sogar einige künstlerisch wertvolle Gemälde.
Da hast Du den Rahmen, der uns umschließt, Liebste – da hast Du das Bild selbst, das Du so gut kennst, zu dem Du so ganz gehörst, und dem Du doch fehlst … ach, mir, mir vor allen andern!
Ich kann nicht ohne Sorge an Dich denken, mein Kind – meine liebste Freundin! Du bist umgeben von Menschen, die ich samt und sonders nicht kenne, und Du glaubst es nicht, wie mich das oft nachdenklich und traurig stimmt. Ich sähe so gern in Deine Umgebung hinein, ich tauschte so gern mein Urteil mit dem Deinen aus, wüßte so gern, wie alle, die meine Alix mir so lebhaft schildert, sich zu ihr stellen, mit welchen Augen sie meine frühere Pflegetochter ansehen.
Dein letzter ausführlicher Brief – denn die Karten zählen nicht mit, das sage auch ich! – hat mir viel zu denken gegeben. Es hat mir vieles darin sehr gefallen, und ich habe das meiste aus vollem Herzen gebilligt. Immer bist Du, und das söhnt mich mit manchem, was ich nicht gutheißen kann, wieder aus, ganz Du selbst, unbeeinflußt durch andere. – Wenn ich warnen, eingreifen wollte, kam ich überdies oft schon zu spät, und Du tratest mir hochgemutet mit dem Spruch entgegen: ‚Ich hab’s gewagt und will des End’s erwarten!‘ Im Geist sehe ich das stolze Leuchten Deiner Augen dazu und spreche, wie ich so oft früher sprach: ‚Möge sich alles zum besten wenden!‘
Auch jetzt käme Rat und Warnung wohl zu spät, wäre selbst dann zu spät gekommen, wenn ich Deinen lieben Brief hätte umgehend beantworten können! Mein Herz, Du hast Schicksal spielen wollen, Du willst helfen, und ich müßte Dich nicht so genau kennen, wenn ich nicht wüßte: Deine Absicht ist die beste! Aber ach, das Leben führt unsere guten Absichten nicht immer so hinaus, wie wir es uns denken! Wir legen die Lose sorgsam und nach bestem Ermessen … aber eine gewaltige Hand kommt und wirft sie durcheinander und rüttelt alles um und um, daß wir uns, staunend, schmerzlich fragen: ist dies dasselbe noch, was Du gewollt? Hast Du das beabsichtigt, was jetzt entstanden ist?
Kind, kein Mensch, vor allem kein Mann hat es gern, wenn jemand anders, wenn zumal eine Frau für ihn Schicksal spielen will. Er begehrt, wenn er ein rechter Mann ist, sein Lebensschiff selbst zu lenken – – ja, er wird der Hand, die unbefugt zum Steuer greift, zürnen, und wenn sie noch so geschickt sein Schiff über Untiefen und Klippen hinwegbringt! – Du wirst sagen: er darf es ja nicht erfahren! Alix, ich weiß es, Deine Erlebnisse sind nicht die meinigen, und wir beide sehen, trotz aller Freundschaft und Liebe zu einander, die Welt und die Menschen doch vielfach mit andern Augen an, aber ich bitte Dich, traue hierin meiner Erfahrung, meinen reiferen Jahren: einmal kommt immer die Zeit, da der Betreffende erfährt, was geschehen ist, indessen – und hier liegt das Bedenklichste – selten oder nie erfährt er es so, wie es wirklich gemeint war, wie es sich in Wahrheit zugetragen hat. Es schieben sich Menschen, neue Verhältnisse dazwischen, es vergeht die Zeit, andere Gesichtspunkte greifen Platz, die ganze Begebenheit bekommt ein verändertes Aussehen!
Was ich Dir rate, zu thun? Was ich an Deiner Stelle thäte?! Du weißt es wohl selbst schon, willst Du es aber dennoch schwarz auf weiß lesen, so sei es drum: fasse einen raschen, einen mutigen Entschluß, wie schwer er Dir immer fallen mag – tritt vor ihn hin, und sag’ ihm: das und das hab’ ich für Dich gethan, in dem und dem Sinn gethan – nun entscheide Du, nimm an oder verwirf! Und wie er entscheidet, so, mein geliebtes Kind, fallen die Würfel über Dein Leben, das fühle, das weiß ich! Was ich empfinde, indem ich Dir das schreibe, läßt sich mit Worten nicht sagen. Um meine eigene Tochter, wenn sie schon erwachsen wäre, könnt’ ich nicht mehr zittern und bangen, ich könnte sie nicht inniger lieben als Dich, nicht stolzer auf sie sein, als ich es auf Dich bin! Und gerade um dieses meines Stolzes willen, Liebling, bekenne, was Du thatest, es wird Dich nicht gereuen! Du hast mir oft gesagt, Du fühltest Dich ,geborgen‘ bei mir! Nun, Kind, in gewissem Sinn warst Du das auch, geborgen in meiner Liebe! Nun hab’ ich Dich hergeben müssen, nun schaukelt Dein Lebensschiff, dem sichern Hafen entführt, auf hoher See, und ich stehe am Strand und sehe es mit an, das Herz voller Liebe und voller Sorge!
Auch erfüllt eine Notiz, die ich heute in der Zeitung las, meine Seele mit Bangigkeit. Es heißt darin, die Justiz habe in Bezug auf den seiner Zeit so viel Aufsehen erregenden Josephsthaler Mord eine neue Spur gefunden, die aller Wahrscheinlichkeit nach zum Ziel führen werde und die allgemeine Aufmerksamkeit wiederum auf diese bis dahin in undurchdringliches Dunkel gehüllte That lenken dürfte. Es war nur eine kurze Notiz, aber sie versetzte mich in begreifliche Aufregung. Wenn man auf die richtige Fährte gelangt und die ganze Sache von neuem aufrührt, so stehen Dir, mein Liebstes, auch in dieser Hinsicht schwere Tage bevor.
Sei tapfer, meine Alix, sei mutig und stark! Das Schicksal hat Dir nicht umsonst diesen offenen, furchtlosen Sinn, dieses unbestechliche Rechtsbewußtsein mit in die Wiege gelegt! Sei ehrlich und gerecht gegen Deine Umgebung, aber sei es auch gegen Dich selbst und vergiß nie, was Du Deinem eigenen Ich schuldig bist. Die erste Pflicht, die wir in diesem Leben haben, ist die, daß wir mit Ehren bestehen können vor uns selbst!
Treu immerdar Deine Maria!“
Die Hand, die den Brief gehalten, sank in den Schoß, die Augen des Mädchens irrten ziellos ins Weite.
Freilich hatte sie recht, die gute und kluge Freundin: die Verhältnisse verschoben sich von einem Tag zum andern und nahmen neue Gestalt an: was gestern noch geboten schien, war heute eine Unmöglichkeit, was heute unausdenkbar war, vollzog sich morgen mit der größten Einfachheit!
Wäre alles geblieben wie es früher war, stände Raimund Hagedorn jetzt, in diesem Augenblick, frisch und lebensvoll vor Alix … impulsiv, wie sie einmal war, hätte sie wahrscheinlich den Mut gefunden, Marias Bitte zu willfahren. Denn oft schon [760] hatte sie in der kurzen Zeit, die ihrem „Vorsehungspielen“ gefolgt war, quälende Zweifel empfunden, ob sie recht gethan. Das Gute hatte sie gewollt, das stand fest; ob es auch das Richtige war, schien ihr fraglich, besonders fraglich seit jenem Abend nach Raimunds Rückkehr aus Stettin.
Ja, jetzt mit einem raschen Entschluß das selbstgesponnene Gewebe zerreißen, offen und frei sprechen können! „Ich hab’ es gethan um deinetwillen, um dich deinem dir vom Schicksal vorgezeichneten Beruf zurückzugeben. Verzeih’ mir, daß ich es eigenmächtig that, und nimm das an, was mir kein Opfer ist, unterdrücke einmal deinen Mannesstolz, deinem Beruf, deiner Zukunft zuliebe!“ In der raschen und starken Aufwallung, die Marias Brief ihr gebracht, in dem Bestreben, deren schönes Zutrauen in sie und ihr Können zu rechtfertigen, da hätte Alix es vermocht! – – – Aber nun! Dort hinter den herabgelassenen lichten Fenstervorhängen – Alix entfernte sich nie weit vom Schlosse! rangen sie beide, das starke Leben und der starke Tod, um ihre Beute! Wer würde Sieger bleiben? Wer konnte sagen, ob das Bekenntnis, das sich nur mit schwerem Entschluß von Alix’ Lippen ringen konnte, jemals durfte gesprochen werden? –
Ein Schauer ging über sie hin mitten in Sommersonne und Blumenpracht, der Schauer, den Jugend und prangende Lebensfülle empfindet, wenn der Odem der Vergänglichkeit kalt über sie hinstreift. Gott, mein Gott, nur nicht ihn sterben lassen!
Der alte Hagedorn, der von Zeit zu Zeit vorsichtig nach dem jungen Mädchen hinübergespäht hat, sieht jetzt, daß sie mit ihrer Lektüre zu Ende ist. Es fällt ihm auf, wie traurig sie vor sich hin blickt, und im Nu ist er an ihrer Seite.
„Doch keine schlimmen Nachrichten, mein liebstes Kind?“
„Nein, gottlob, nicht!“ Sie bemüht sich, zu lächeln, steht auf und legt ihren Arm in den seinen. „Kommen Sie, Onkel Eberhard, wir promenieren noch ein Stückchen!“
„Ja, gewiß, es ist so gütig von Ihnen – nur – nur – Sie müssen nicht böse sein“ – der alte Herr sieht sie ängstlich und bekümmert an – „es ist doch schon so sehr lange, seit wir draußen sind und nicht wissen, wie – wie es ihm geht! Ich will ja gar nicht hinein zu ihm,“ setzt er hastig hinzu, „Sie – Sie können mit mir kommen, sich überzeugen, daß ich das nicht will – bloß leise an der Thür fragen, wie es steht – ob es nicht ein ganz klein wenig besser inzwischen geworden ist!“
Alix erwidert nichts und schlägt ohne weiteres den Weg nach dem Schloß ein. Ach, wie soll während einer guten Stunde der Zustand des Kranken sich geändert, wohl gar gebessert haben? Wie sanguinisch der alte Herr ist in all seiner Angst! Alix wünscht, sie könnte ebenso sein, aber ihr liegt das Herz schwer in der Brust, und es ahnt ihr nichts Gutes.
In der großen Halle herrscht wohlthuende Kühle. Das strenge, schöne Antlitz der bronzenen „Industrie“ sieht auf die Eintretenden von seiner Höhe herab wie damals an jenem traurigen Februarabend, da Alix, nach zehnjähriger Abwesenheit, ihren Einzug gehalten hatte in ihr Vaterhaus. An der Thür des Krankenzimmers nimmt Schwester Euphrosyne, die jüngere der beiden Pflegerinnen, sie in Empfang. Sie ist freundlicher, zugänglicher als ihre Kollegin, hat großes Mitleid mit der Seelenangst des alten Vaters und läßt dies auch merken, besonders, wenn die andere Schwester nicht zugegen ist.
Alix will durch die Thürspalte mit ihr flüstern, aber Euphrosyne wirft einen Blick auf den alten Mann und sagt leise: „Wollen Sie nicht ein wenig hereinkommen, alle beide? Der Zustand ist derselbe, der Kranke ahnt nichts von Ihrer Anwesenheit. – Sie können auf meine Verantwortung nähertreten!“
Der Vater läßt sich das nicht zweimal sagen, drückt der jungen Pflegerin dankbar die Rechte, geht auf den Fußspitzen zum Krankenlager und zieht seine Begleiterin an der Hand mit sich.
„Aber, bitte, nicht anreden, Herr Hagedorn!“ warnt Schwester Euphrosyne leise. „Auch nicht antworten, wenn Sie denken, er spricht mit Ihnen!“
„Nein, nein!“ murmelt der alte Mann. „Ich will ihn bloß still ansehen!“
Raimund liegt unbeweglich, nur die Hand greift und zuckt zuweilen oder sein Kopf schiebt sich ein wenig auf dem Kissen hin und her, wie wenn er etwas suchen wolle. Die Augen sind halb geschlossen, und die Lippen flüstern beständig.
„Das weiße Kleid – das weiße Kleid! Ja, das zieh’ an – und dann soll wieder der Magnolienstrauch im Abendwind zittern und soll dich mit seinen weißen Blüten überschütten …. aber du darfst nicht wissen, daß ich davon träume! Und weiße Moosrosen stecke wieder an die Brust wie die, die du mir gegeben – immer fühl’ ich den Duft – aber wo sind sie hingekommen – die weißen Moosrosen? Und wo – wo bist du hingekommen – du selbst?“
Ganz rasch und eintönig, wie etwas Eingelerntes, flüstert Raimund das vor sich hin, zuweilen verwischt sich ein Wort. Jetzt wendet er den Kopf von neuem auf dem Kissen und scheint zu horchen, ob denn keine Antwort kommt.
Er hat noch nie von Alix gesprochen, wenn sie bei ihm war – – – stets nur von Musik. In ihr zieht sich das Herz zusammen und thut dann bange, laute Schläge. Der alte Vater und die Pflegerin wissen nicht, können nicht wissen, was und wen er meint mit seinen Worten …. sie natürlich versteht, weiß, was der Magnolienstrauch zu bedeuten hat und das weiße Kleid und die Moosrosen! Die hatte sie im Walde, als sie den Verwundeten langsam vor ihr hertrugen, zufällig noch an ihrer Brust entdeckt, wo Frau von Sperber sie ihr in aller Morgenfrühe befestigt, und sie hatte sie losgenestelt und auf die Decke gelegt, die sie über den Schwerverletzten gebreitet hatten. Zuweilen hatten sich seine Augen halb geöffnet gehabt, es war ein verständnisloser Blick gewesen, der seine Umgebung streifte, und Doktor Petri hatte gesagt, er sei ganz ohne Bewußtsein .... aber er mußte doch Alix für einen Augenblick erkannt und die weißen Moosrosen gesehen haben.
„Keiner kann mir das sagen als nur mein Herz! Aber das hat zu rasch zu schlagen – kann nicht folgen – auch nicht im Takt – gar kein Takt! Aber wenn ich dich finde – weißt du noch: ,Am stillen Herd, – in Winterszeit‘ – da fing es an! Sing’ mir einmal nach!“
Und er fängt an zu summen: „Am stillen Herd, – in Winterszeit –“
Alix erträgt das nicht mehr; sie winkt mit der Hand, sie wolle gehen, man möge sich nicht um sie bekümmern, und verläßt das Gemach.
Doch lange bleibt sie nicht in ihrem Zimmer, in das sie sich geflüchtet hat, sich selbst überlassen. Die Majorin klopft, und als sie Einlaß erhält, sagt sie, indem sie mit der Hand über des Mädchens Haar streicht: „Möchten Sie nicht in Ihren kleinen Salon kommen, sobald es Ihnen möglich ist? Justizrat Ueberweg ist da und möchte Sie gern sprechen!“
Alix erhebt sich stumm, haucht rasch in ihr Tuch und drückt es gegen die Augen.
„Meine liebe Alix,“ – der Justizrat kam ihr mit herzlicher Bewegung entgegen – „ich bin der Ueberbringer wichtiger Nachrichten. Doch zunächst … wie geht es unserem Kranken?“
„Ich fürchte, nicht gut!“
„O, nicht so kleinmütig! Kopf hoch, liebe Alix! Hagedorn ist jung und kerngesund – ein Körper wie von Eisen, sagt Petri selbst! Er wird es durchsetzen, und ich werde ihm noch dankbar seine Künstlerhand schütteln dürfen. Warum ich komme: es sind noch keinerlei Gerüchte über diesen – diesen Harnack bisher zu Ihnen gedrungen, nicht wahr?“
„Ueber den älteren oder den jüngeren Bruder?“
„Den Junior, liebes Kind, den Junior! Was den älteren betrifft, so geht er ja einstweilen auf freiem Fuß einher: ich meine den Verhafteten. Dieser hatte eine schlecht geheilte Schnittwunde in der linken Hand, innerhalb der Fläche: ich weiß nicht, ob man Ihnen davon gesprochen hat; jedenfalls hat der junge Mensch die Sache gar nicht beachtet und nichts dafür gethan. Wohl aber alles dagegen. Er hat ein Leben geführt, wie man jetzt erfahren hat – nun, das gehört nicht hierher – jedenfalls hat seine starke Neigung zum Alkohol die Wunde sehr verschlimmert. Sie hat so böse ausgesehen, daß man ihm sofort nach seiner Verhaftung durch Korty den Arzt ins Untersuchungsgefängnis geschickt hat. Der hat strenge Verhaltungsmaßregeln [762] gegeben. Sei es nun, daß er aus Widerspenstigkeit oder aus Leichtsinn die ihm verschriebenen Arzneimittel nicht gebraucht hat … die Geschichte hat eine bedenkliche Wendung genommen. Der Mann ist aufgebraucht, er hat schlechte Säfte, verdorbenes Blut, und dazu kommt noch, daß er, wie vorauszusehen war, jetzt, nach der ganz plötzlichen Entziehung des Alkohols, gänzlich niederbricht. Der künstliche Ansporn, der ihn immer noch gewaltsam in die Höhe riß, besteht nicht mehr; nun sinkt der Organismus in sich zusammen.“
„Und hat er in dieser Verfassung nun etwas gestanden?“
„Nichts. Er behauptet, zur Zeit des Mordes noch in Amerika gewesen zu sein. Er will dort von Ort zu Ort gegangen sein, sich nirgends lange aufgehalten und sein Geld in Columbia binnen zwei oder drei Abenden durch großes Glück im Spiel gewonnen haben. Zurückgekehrt nach Deutschland will er erst Ende März sein. Es handelt sich nun darum, etwaige Zeugen aufzutreiben, die ihn um die Mitte des Februar oder überhaupt nur innerhalb dieses Monats in Deutschland, vielleicht speziell in unserer Provinz, gesehen haben, oder darum, ihm ein unumwundenes Geständnis zu entreißen. Auf dies letztere macht sein Zustand in der That Hoffnung. Die Zerrüttung seines Körpers schwächt auch seinen Willen und seine Geistesverfassung. Zuweilen hat er sich schon in Widersprüche verwickelt, die er freilich selbst gleich hinterher entdeckte und gutzumachen trachtete … aber scharfe Kreuzverhöre ermüden und verwirren ihn leicht – und wer wollte es der Justiz verdenken, wenn sie sich einen solchen Umstand zunutze macht?“
„Hat er sich während seiner Haft jemals irgendwie über seinen Bruder geäußert?“ fragte Alix zögernd.
„Er weigert sich entschieden, ihn zu sehen, behauptet, das habe keinen Zweck; Ingenieur Harnack werde sich schämen, einen Bruder zu haben, der wegen eines Mordverdachtes in Untersuchungshaft sitze. Er möge nur ruhig fortfahren, Maschinen zu konstruieren und Berechnungen anzustellen, die den Kapitalisten das Geld scheffelweise zuführen.
Ich möchte nur wissen,“ fuhr Ueberweg nachdenklich mit zusammengezogenen Brauen fort, „weshalb Harnack, ich meine jetzt den Ingenieur, solchen Haß auf Hagedorn geworfen hat, um ihm gleich ans Leben zu gehen! Gut haben ja die beiden nie miteinander gestanden, wie die Direktoren der verschiedenen Mühlen einstimmig versichern – aber diese Antipathie muß doch einen bedenklichen Höhepunkt erreicht haben, wenn es bis zu einem Duell mit so scharfen Bedingungen kommen konnte. Ob es nur der Groll darüber war, daß Hagedorn der Justiz den Aufenthaltsort des jüngeren Harnack entdeckt hat, der den älteren Bruder zu seiner Herausforderung bestimmte?“
Alix verfärbte sich leicht und gab eine ausweichende Antwort. Sie glaubte die Ursache dieses verschärften Hasses zu durchschauen – sie durfte nur an den Blick zurückdenken, mit dem der Ingenieur damals den eintretenden Hagedorn gemessen hatte, als er mit ihm bei Alix zusammentraf. Harnack hatte ihm das Feld räumen müssen, er sah, mit dem Scharfblick der Eifersucht, einen Nebenbuhler in diesem neu entdeckten Vetter, und Alix’ Spazierritte und häufige Zusammenkünfte mit demselben waren ihm sicher nicht verborgen geblieben. Dazu nun noch Hagedorns „Denunziation“, wie der Ingenieur es nannte ... und das Maß war voll! –
„Ich kann es vor Gott und der Welt bezeugen,“ fuhr der Rechtsanwalt lebhaft fort, „wie schwer dem jungen Hagedorn das wurde, was er für seine Pflicht hielt und auch halten mußte: ich meine, dem Gericht die Anzeige von dem zu erstatten, was er in Stettin über den jüngeren Harnack vernommen hatte. Er hat sich gesträubt bis zuletzt, und ich bin überzeugt, hätte ich damals nur eine unvorsichtige, vorschnelle Aeußerung gethan oder wäre ich heftig in ihn gedrungen: er würde sich noch im entscheidenden Augenblick anders besonnen und die ganze Geschichte für sich behalten haben. Für all die Quälerei hat er jetzt zum Lohn eine Kugel zwischen die Rippen gejagt bekommen, so daß es zweifelhaft ist, ob er mit dem Leben davon kommt. Empörend!“
In diesem Augenblick sahen die beiden durch das geöffnete Fenster des kleinen Salons, das den Blick über die Ausfahrt gewährte, einen leichten, kleinen Einspännerwagen in vollem Trabe anfahren und vor dem Schloßportal halten.
„Doktor Petri!“ sagten beide wie aus einem Munde und erhoben sich gleichzeitig.
„Wenn Sie gestatten, liebe Alix, gehe ich mit Ihnen und warte ab, bis Petri mit seiner Krankenvisite fertig ist. Ich möchte auch gern wissen, wie es um den prächtigen Menschen steht, den ich förmlich ins Herz geschlossen habe.“
Das junge Mädchen nickte zustimmend, und ein warmer Blick ihrer schönen Augen fiel auf den Justizrat, als sie an seiner Seite das Zimmer verließ. – Der Arzt traf die Majorin oben an der Treppe und begab sich mit ihr zusammen in das Krankenzimmer. Es dauerte ziemlich lange, bis er wieder im Vestibül erschien, begleitet von dem alten Hagedorn, über dessen gutes Gesicht ein zaghafter Hoffnungsschimmer gebreitet lag.
„Herr Doktor?“ – Alix sah den Ausdruck in den Zügen des alten Mannes, es wollte heiß aufwallen in ihrem Herzen; doch unterdrückte sie diese Regung mit aller Macht. Sie wagte es noch nicht, zu hoffen! –
Doktor Petri reichte ihr die Hand und hielt ihre feine Rechte fest mit dem kräftigen Druck, der eine so gute Zuversicht giebt.
„Ich finde, wir haben einen kleinen Schritt zur Besserung in diesen letzten Stunden gethan,“ sagte er und nickte dem Justizrat zu, den er jetzt erst entdeckte, „freilich ist’s nur ein bescheidener, kleiner Schritt, aber man lernt, mit wenigem zufrieden sein! Ich hoffe, der Greifswalder Kollege wird meine Aussage bestätigen, denn mir allein glaubt ja der skeptische Papa nicht. Nein, nein, alter Herr, keine Widerrede! Sie glauben, ich mache Ihnen Wind vor, aber lassen Sie sich sagen“ – Doktor Petris lächelndes Gesicht wurde plötzlich ernst – „daß ich dies am Krankenbett für ein schweres Unrecht ansehen würde. Für den weiteren Verlauf kann ich nicht einstehen – die augenblickliche Besserung ist da!“
„Aber – aber,“ warf der alte Hagedorn verschüchtert dazwischen, „er hat niemand erkannt, als wir zuvor bei ihm im Zimmer waren! Und was hat er alles zusammengeredet: von weißen Damenkleidern, und von Moosrosen und blühenden Magnolien –“
„Na, das sind wenigstens angenehme Phantasien! Gönnen Sie die doch Ihrem Sohn!“
Aus Doktor Petris jovialem Ton und dem schelmisch zwinkernden Blick seiner Augen merkte Alix am deutlichsten, daß es besser mit dem Patienten stand – tief, tief und zitternd holte sie Atem. Hoffnung und Leben – hielten sie aufs neue ihren Einzug ins Josephsthaler Schloß?
Voll gespannter Aufmerksamkeit hatte Alix den Brief überflogen, der ihr von James soeben überbracht worden war; jetzt steckte sie ihn in das Couvert zurück, ein seltsames Gemisch von Bestürzung und Freude war in ihr. Es war ihr unsagbar schwer geworden, an Steglhuber die Bitte zu richten, fortan mit offenen Karten zu spielen und den alten Herrn Hagedorn in das Geheimnis einzuweihen, das sie bisher über ihre Hilfe hatte gewahrt wissen wollen. Aber sie hatte sich überwunden, Maria zuliebe, die ihr so beschwörend geschrieben, und sie hatte das Gelübde gethan, diesen Schritt zu unternehmen, wenn Raimund Hagedorn genesen sollte.
Und jetzt war er so gut wie genesen.
Aber nun schrieb ihr Steglhuber, die Geschäfte gingen so flott, daß er gut imstande sei, aus eigenen Mitteln die verabredeten regelmäßigen Zahlungen zu leisten. Hatte es jetzt noch einen Sinn, dem alten Hagedorn, und durch ihn dem Sohn, ein Geständnis zu machen, das ihr so namenlos schwer geworden war und das doch nun vielleicht so aussah, als wolle sie den Dank einernten von Vater und Sohn – oder – oder – als … Sie konnte das „oder“ nicht zu Ende denken, der Herzschlag setzte ihr darüber aus.
Sie sprang empor: wenn sie noch versuchte, es rückgängig zu machen, wenn sie depeschierte: „Brief nicht absenden. Noch warten!“ – Doch hieß es nicht in Steglhubers Schreiben: „Noch in dieser Stunde teile ich dem alten Herrn Hagedorn den wahren Sachverhalt mit.“ Und dieser wollte in einer knappen Stunde nach Greifswald fahren, um seine Miete zu bezahlen und sich einige Sachen zu holen! Der Brief würde nach Greifswald gerichtet sein; der alte Herr würde ihn also noch heute erhalten!
[763] Nun, sei es denn, sei es! Etwas von fatalistischem Trotz kam über Alix. Sie hatte das Gute, das Rechte gewollt in beiden Fällen – an ihm, an Raimund war es nun, das zu durchschauen, sie zu verstehen! Daß er eine große Leidenschaft für sie empfand, wußte Alix. Blind und thöricht hätte sie sein müssen, es nicht zu wissen. Ob seine Liebe aber auf einem tieferen Verständnis ihres Wesens begründet war, dafür hatte ihr das Leben noch keine Beweise gegeben.
Seit sie an Raimunds Krankenlager gestanden, seit sie in Todesangst um sein Leben gezittert, seit sie mit heißen Thränen des Glücks Gott in der Stille gedankt hatte für seine Genesung, wußte sie, daß ihr ganzes Herz ihm gehörte, daß sie auch das, was ihr in seinem Wesen noch fremd und unverständlich war, freudig tragen könnte – wäre es ihr nur vergönnt, mit ihm vereint durchs Leben zu gehen! Würde auch er sich mit allem versöhnen können, was ihn an ihrem Charakter befremdete?
Auch nachdem der Kranke sein Lager verlassen hatte – vor wenigen Tagen war es geschehen – hatte Alix ihn täglich mehrmals gesehen, immer aber nur im Beisein der Majorin von Sperber. Von Alix’ Anwesenheit an seinem Leidenslager wußte er nichts, die Fieberphantasien waren in seinem Gedächtnis ausgelöscht. Fürs erste stand Raimund noch ganz im Zeichen der Genesung, jenes wohlig müden, dankbaren, innerlich staunenden Zustandes, der nicht grübelt, nichts fragt, sich über nichts beunruhigt. Es ist da allerlei gewesen, was ihn gequält hat, er weiß das wohl, auch liegt seine Zukunft, wenngleich etwas heller, doch immer noch schleierhaft vor ihm – es thut ihm jetzt nichts! Das hat alles noch Zeit, er schiebt es von sich fort einstweilen und genießt sein Glück, wie in einem seligen Traum.
Ist das nicht Glück für ihn, hier im Josephsthaler Schloß zu leben, gepflegt, bedient, verwöhnt wie ein Prinz? Dazu Sommerluft, strahlender Sonnenschein, Blumenpracht, wohin das Auge blickt, unvergleichlich schöne Abende und solch’ zauberhafte Mondnächte, daß man sich’s, wenn man einmal aufwacht, kaum wünschen mag, von neuem einzuschlafen; es träumt sich, so mit weitoffenen Augen in dies hereinflutende Silberlicht schauend, gar zu wonnig!
Was aber war dies alles gegen das eine Gefühl: sie könnte kommen – sie wird kommen – da ist sie! Gegen die beseligende Gewißheit: Du bist bei ihr! Sie sieht nach dir – sie denkt an dich, sinnt darüber nach, was dir Freude machen könnte – kurz, sie beschäftigt sich mit dir! Und wie stolz auch im Grund seines Wesens Raimund Hagedorn war – so, wie er gegenwärtig empfand, that es ihm wohl, alles, alles von ihr, die er liebte, entgegenzunehmen!
Ach, und das heimliche Glück, wenn ihre Blicke sich trafen und selbstvergessen ineinander ruhten, wenn er vergaß, zu antworten, weil er sich nicht satt sehen konnte an ihr – an ihrem weißen, feingeschnittenen Gesicht, den blauen Augen, dem leuchtend braungoldenen Haar! Nahm er das Weinglas, das sie ihm bot, entgegen und berührten sich dabei zufällig ihre Hände, wie es ihm heiß zum Herzen strömte! Oder wenn sie ihm vorlas, welche Wonne bereitete es ihm, sie ungestört anzusehen und auf ihre Stimme zu lauschen, bis sie ihre langen, seidigen, tiefdunklen Wimpern hob, als fühlte sie seinen Blick, um nach einer kleinen verlegenen Pause hastig weiter zu lesen, als gälte es eine große Versäumnis nachzuholen! Und war auch immer die Majorin zugegen – was that das? Die war eine gute und kluge Frau, die war auch einmal jung gewesen und hatte ein so gütiges, mütterliches Lächeln ..... es that nichts, wenn sie verstand!
Ueber das Duell wurde nicht mehr gesprochen. Wozu denn auch? Es war abgethan, es lag hinter ihm! Raimund wußte, daß Oberingenieur Harnack sechs Monate Festungshaft zuerkannt worden waren und daß er diese Strafe demnächst antreten würde. Auch er selbst würde eine solche, wenn auch kürzere Haft verbüßen müssen, sobald er erst vollständig hergestellt wäre. Auch von der Mordaffaire redete niemand im Schlosse zu ihm, und er fragte nicht danach.
Besuch bekam der junge Mann, nachdem der Arzt überhaupt die Erlaubnis erteilt hatte, solchen zuzulassen, mehr als ihm lieb war. Sein Name war in aller Mund, und es zeigte sich bei dieser Gelegenheit recht deutlich, wie beliebt Raimund Hagedorn und wie unbeliebt Ingenieur Harnack war.
Cecil Whitemore war vielleicht der einzige in der ganzen Kolonie Josephsthal, der den Ingenieur Harnack wirklich vermissen und seine Abwesenheit beklagen würde. Da er sein Vorgesetzter gewesen war und ihn dies, bei aller Höflichkeit und Achtung vor des Ingenieurs Kenntnissen, stets hatte fühlen lassen, so war ihm der hochmütige Ton, die kalte, überlegene Art, das verächtliche Herabblicken Harnacks, das die andern so oft empört hatte, fremd geblieben, und er hatte nur den tüchtigen Beamten in ihm gesehen, der Eminentes leistete und sich in die Josephsthaler Verhältnisse in einer Weise hineingearbeitet hatte, daß sein Fehlen in der That als ein großer Verlust anzusehen war. Cecil konnte aber, trotz seiner reservierten Art, im Lauf der Zeit nicht umhin, Interesse an Raimund Hagedorn zu nehmen. Als schlechter Geschäftsmann hätte dieser ihm eigentlich antipathisch sein müssen, aber in dieser Beziehung hatte er nichts mit Hagedorn zu thun gehabt, mithin keine Gelegenheit gefunden, sich über ihn zu ärgern. Cecil hatte sich daran gewöhnt, diesen entfernten Verwandten als einen speziellen Schützling seiner Cousine Alexandra anzusehen, er drückte wegen dieser weiblichen Marotte nachsichtig ein Auge zu. Und als der junge Mann schwer verwundet ins Josephsthaler Schloß gebracht wurde, fühlte sich Cecil Whitemore doch verpflichtet, sich um ihn zu kümmern, ihm gewissermaßen als Pseudo-Schloßherr die Honneurs zu machen. Und da begab es sich, daß den steifleinenen Sohn Albions die offene, freimütige Art Raimund Hagedorns wunderbar ansprach.
Gegen Mittag ist es. Der Krankenstuhl ist in den Schatten zweier gewaltiger Linden gerückt, die reich in Blüte stehen und stark duften. Ein kleiner kühler Weiher liegt rechts, von gebückten Weiden und dichtem Erlengebüsch umstanden; an einer Stelle treten die Weiden auseinander, und man kann deutlich über dem Wasserspiegel, der gleich dunkelpoliertem Metall glänzt, die schlanken Libellen hinschießen sehen.
Doktor Petri ist dagewesen, hat die Wunde untersucht, sich zufrieden geäußert und versprochen, sehr bald den Verband abzunehmen. An seinem Arm ist Raimund ein paarmal auf und ab gegangen, langsam, langsam, vielleicht zweihundert Schritte im ganzen. Es hat noch nicht gut damit gehen wollen, es ist immer noch Schwäche vorhanden. Aber es ist eine Schwäche, die dem Patienten wohlthut – er will sie noch gar nicht abschütteln.
Alix trägt wieder ein weißes, luftiges Kleid und zartduftende rote Oleanderblüten im Gürtel – leicht zurückgelehnt in ihren Stuhl, sitzt sie vor ihm, blickt über den Rand des Buches, aus dem sie ihm vorlas, nach ihm hin, und ihre Augen begegnen sich ….
Der alte Hagedorn sitzt auch unter den Linden im Schatten und hat zugehört. Er hält eine Strähne weißer Baumwolle über den Händen, und die Majorin wickelt die Strähne bedächtig ab. Sie ist gut Freund mit dem alten Herrn, nennt ihn in der Stille ein liebes, weißhaariges Kind, und er verehrt die stattliche Dame, die ihm seinen Jungen so schön gepflegt hat, hoch und ist glücklich, wenn er ihr einen kleinen Dienst leisten darf.
„Ich kann mir gar nicht denken, daß einmal eine Zeit kommen wird, da es anders um uns vier stehen könnte – ich meine, da wir nicht mehr bei einander sind!“ sagt des alten Hagedorn Stimme laut und unvermittelt in das Stillschweigen hinein.
Raimund zuckt zusammen. Der alte Herr bemerkt die flüchtige Bewegung seines Sohnes und schaut Alix fragend und bittend an: hat er etwas Ungehöriges gesagt?
„Dort kommt Mr. Whitemore!“ ruft die Majorin und deutet nach rechts hinüber. „Wie sonderbar! Um diese Zeit ist er doch immer beschäftigt!“
Cecil kam um den kleinen Teich herum mit ziemlich raschen Schritten. Er winkte der Gruppe unter den Lindenbäumen schon von weitem mit der Hand zu.
„Was giebt es, Vetter?“ fragte Alix und sprang auf.
„Etwas Wichtiges für Sie – – für uns alle! Harnack junior – hat ein Geständnis abgelegt!“
Zuerst tiefe Stille, dann ein allgemeiner Ruf des Staunens. Die Majorin und der alte Hagedorn waren gleichfalls von ihren Sitzen aufgestanden, selbst Raimund machte Miene, sich zu erheben, aber Alix, deren Blick sofort zu ihm zurückgegangen war, winkte ihm ab: „Nein, Sie nicht! Bitte, bleiben Sie ruhig! Vetter Cecil, wollen Sie uns sagen –“
Sie stellte sich neben den Lehnsessel, eine Hand auf die Seitenwand gestützt, wie um den Patienten vor Aufregung zu [764] bewahren. „Also – bitte!“ Die Majorin schob dem Engländer einen Stuhl hin. „Wollen Sie sich setzen?“ !
„Danke – nein! Die Zeit ist mir knapp; Justizrat Ueberweg wartet, er will gleich nach Greifswald zurück; ich kam nur, Ihnen die Nachricht sogleich zu bringen. Der Mensch also war sehr krank. In seinen Fieberphantasien hat er verraten, was wir wissen wollten. Bald rief er, er stecke im Schnee mitsamt dem Schlitten und dem toten Mann, und er könne nicht heraus – es schneie zu stark, und der Schnee balle sich um ihn herum fest, wie eine eiserne Mauer! Dann wieder stöhnte er: ,Der Mann ist noch gar nicht tot, wohl liegt er wie eine Leiche auf dem Bett, aber er lebt noch, Tage und Tage, und ist nicht lebendig und nicht tot!‘ Dann wieder sprach er von Hamburg, von Verkleidung und falschem Namen. Aber das konnten bloße Phantasien sein. Endlich, nach vielem Mühen der Aerzte, ließ das Fieber nach, die Besinnung kehrte zurück, und nun wollten sie versuchen, ihn zum Geständnis zu bringen. Er merkte das aber und hat lange kein Wort gesprochen; er kehrte das Gesicht gegen die Wand und that, als hörte er nichts. Zuletzt, in vergangener Nacht, das heißt gegen Morgen, es war schon hell, da ist er fürchterlich unruhig geworden, ein Schüttelfrost hat ihn gepackt, eiskalter Schweiß ist ihm ausgebrochen, er hat die rechte Hand zur Faust geballt und hat mit schrecklicher Stimme gerufen, er fühle, er müsse ja doch zur Hölle fahren, und darum wolle er auch in drei Teufels Namen gestehen: Ja, er habe den Baron von Hofmann ermordet!“
Cecil machte eine Pause. Alix deckte die Linke über die Augen. Wie sie in ihr wieder lebendig wurde, die fürchterliche Zeit, die sie neben diesem Krankenbett, das immer und immer noch kein Totenbett werden wollte, zugebracht hatte!
Niemand sprach zu ihr; jeder schonte den Schmerz der Tochter, der in qualvolle Erinnerungen tauchte – aber Alix fühlte, wie sich eine leise zitternde Hand auf ihre Rechte legte, die auf der Seitenlehne des Krankenstuhles ruhte. Raimunds Hand – sie wußte, fühlte das, ohne hinzusehen, und mitten in dem schneidenden Weh, das über sie gekommen war, that es ihr wohl, zu denken: er empfindet mit dir und er gehört zu dir!
Cecil Whitemore räusperte sich leicht, um damit anzudeuten, daß er jetzt fortfahren möchte.
„Die Leute, die bei ihm wachten, haben ihn gefragt, ob er das vor dem Untersuchungsrichter wiederholen werde. Ja – in des Satans Namen – ja! Ihm sei nun alles einerlei, er fühle den Tod und das sei gut. Einer von den Leuten war fortgestürzt, den Untersuchungsrichter zu wecken und herbeizuholen – dieser war in kurzer Zeit mit dem Protokollführer zur Stelle, auch der Arzt war dabei, um sein Gutachten über die geistige Verfassung des Menschen abzugeben. Er hat ein umfassendes Geständnis abgelegt. Daß er auf alle Millionäre einen Haß gehabt, einen ganz persönlichen aber auf den Baron von Hofmann, der ihn einmal in einem Brief schwer gereizt und beleidigt hatte. Daß er dringend Geld brauchte, und zwar viel Geld, denn mit den paar armseligen Groschen, die ihm sein Bruder gegeben hätte, sei nichts anzufangen gewesen. Daß er vorgegeben habe, nach Amerika zu gehen, um den Bruder ganz sicher zu machen, inzwischen aber erfahren habe, daß Herr von Hofmann an dem und dem Tage um die und die Stunde eine große Summe abzuliefern gedächte und daß er wahrscheinlich allein, wie das seine Gewohnheit war, mit dem Selbstkutschierer fahren würde. Er hat sich da sofort vorgenommen, wenn er ihn allein anträfe, ihn zu töten. – – Wer ihm die Mitteilung gemacht, so genau gemacht, das hat er nicht ausgesagt. Natürlich ist es dieser Schuft Kraßna gewesen, aber Harnack hat den Namen nicht genannt, auch als der Richter ihn dringlich gefragt, ob es nicht Kraßna gewesen sei, und ihn ermahnt hat, jetzt auch das noch zu gestehen, konsequent geschwiegen.“
„Und – und – dieser Mensch ….“ fragte Frau von Sperber leise und zögernd, „lebt er noch?“
Cecil zuckte die Achseln. „Er lebte noch,“ sagte er mit starkem Nachdruck auf dem letzten Wort, „als der Untersuchungsrichter Herrn Justizrat Ueberweg das Protokoll zu lesen gab, der Arzt hat aber gemeint, sein Dasein zähle nur noch nach wenigen Stunden.“
Wieder tiefe Stille – nur die Bienen summten geschäftig im Sonnenschein um die blühenden Linden. So hatte der schöne Park auch vor einem Jahr im Sonnenlicht dagelegen, so hatten auch die Bienen die Linden umschwärmt – und unter diesen Linden weg war raschen, energischen Schrittes, erhobenen Hauptes ein kräftiger Mann geschritten, rastlose Pläne formend. Umwälzungen, Neuerungen – und alle die Hunderte, die dort hinter dem Park arbeiteten, dienten ihm – das Gold strömte ihm zu in Fülle, die Provinz war stolz auf ihn, sein Name war gekannt und geachtet, weit und breit!
Jetzt schlummerte er als Opfer eines Mordes im Sarge, und eben, hier, hatte man erfahren, wer sein Mörder gewesen war!
Alix ließ die Hand von den Augen sinken und sah verstört um sich. Es war ihr, als sei der Vater ihr eben jetzt zum zweitenmal gestorben. – „Sie erlauben, Mr. Whitemore,“ sagte der alte Herr Hagedorn schüchtern, sich an den Engländer wendend, „Sie erwähnten, daß Herr Justizrat Ueberweg sehr bald nach Greifswald zurückfährt, dürfte ich mich vielleicht ihm anschließen, da ich dort gleichfalls zu thun habe?“
„Selbstverständlich, Sir, es steht dem nichts im Wege!“ entgegnete Cecil höflich. „Wenn Sie mich zur Walzmühle begleiten wollen – ich habe dorthin zu gehen! Cousine Alexandra – kommen Sie mit mir ins Schloß?“
Alix schüttelte stumm den Kopf. Sie wandte sich und schritt allein, ohne sich umzuschauen, den Weg hinunter, der zu einer Seitenpforte des Parkes und von da zur Schloßkapelle führte. –
Sie ließ sich zur Zeit des Diners entschuldigen: es wäre ihr nicht ganz wohl, sie wünschte niemand zu sehen.
Es war gegen Abend, als sie Françoise, die sich dann und wann um sie zu schaffen machte, wenn sie auch nicht zu reden wagte, beiläufig fragte, ob der alte Herr Hagedorn schon von Greifswald zurückgekehrt sei.
„O ja! Schon seit zwei Stunden! Und er hat gleich nach Ihnen gefragt, ob Sie nicht zu sprechen wären. Als ich es verneinte, ist er zu Monsieur Raimund gegangen, und Frau von Sperber hat gesagt, das wäre schön, daß er käme, sie abzulösen, sie hätte einen wichtigen Brief zu schreiben – und sie ist gegangen.“
„Da sind also die beiden Herren miteinander allein geblieben?“
„Gewiß.“
Alix schwieg. Wie würde Raimund die Nachricht, welche er jetzt wohl erhalten haben mußte, aufnehmen? Sollte sie jetzt zu ihm hinüber? Sollte sie heute noch … Die Sonne war schon hinunter, der Patient mußte in seinen Wohnräumen sein. In dem kleinen Vorzimmer, wo Alix so oft Doktor Petri erwartet hatte, traf sie auf James. „Wer ist bei Herrn Hagedorn im Zimmer, James?“
„Niemand, Baroneß! Frau Major von Sperber schreibt einen Brief, und den alten Herrn hat Herr Hagedorn selbst vor einer Weile fortgeschickt – er wünschte, allein zu sein.“
„Gut, James Sie – Sie können mich melden und dann gehen; ich habe mit Herrn Hagedorn zu reden. Er wird läuten, wenn er Sie braucht. Und noch eins, James: ich wünsche ungestört mit Herrn Hagedorn zu sprechen!“
„Sehr wohl, Baroneß!“ In seiner geräuschlosen Art geht und kommt er, schiebt die Thür weit zurück und tritt mit einer Verbeugung beiseite: „Herr Hagedorn läßt ergebenst bitten!“
In Baron Hofmanns Arbeitszimmer sitzt Raimund in seinem Krankenstuhl vor dem großen, jetzt so sorgsam aufgeräumten Diplomatenschreibtisch. Der rosige Abglanz des Abendhimmels fällt auf das eintretende Mädchen. Die welkenden Oleanderblüten hat sie aus dem Gürtel gezogen und fortgeworfen, sie ist schneeweiß von Kopf bis Fuß – das Haar flammt auf, die Augen leuchten. Sie sagt kein Wort, kommt langsam heran, setzt sich auf einen Stuhl neben ihn und wartet, daß er sprechen werde.
„Ihr Vater hat Ihnen gesagt –“ hebt sie unsicher an, da er immer noch schweigt.
„Ja – und ich danke Ihnen, daß Sie kamen.“ Es kommt sehr mühsam und gezwungen heraus.
„Sie sind mir böse?“ fragt sie traurig.
„Böse? Ich? Und Ihnen? Wie könnte ich das? Sie wollen die gute Fee sein, die mich mit Schätzen überschüttet –“
„Nein, nein – nicht so!“ Sie läßt ihn nicht weiterreden. „Ich hab’ Ihnen helfen wollen, weiter nichts, Raimund – ehrlich und redlich helfen wollen, weil ich an Ihr Talent und an Ihre [766] Zukunft glaube! Wäre ich vor Sie hingetreten und hätte Ihnen gesagt: nehmen Sie alles, was Sie zu Ihrem Studium brauchen, von mir, aus meiner Hand entgegen – hätten Sie es gethan? Sie schütteln den Kopf! Ich wußte es. Aber wenn ich ein Mann und Ihr Freund gewesen wäre …. Sie hätten sich das ruhig gefallen lassen. Von mir, wie ich einmal bin – nicht!“
„Ganz recht – von Ihnen – wie Sie einmal sind – nicht!“ Raimund betonte jedes einzelne Wort schwer.
„Sie brauchen ja das jetzt auch nicht, die Pein bleibt Ihnen erspart!“ sagt Alix mit herber Stimme. „Das Schicksal kommt Ihrem Stolz zu Hilfe, wie Sie sehen. Ihr Schuldner kann Ihrem Vater in der That aus eigenen Mitteln seine Schuld zurückerstatten und meine Großmut braucht Sie nicht zu drücken!“
„Ohne diese Ihre Großmut, die Kaution, die Sie für ihn stellten, wäre er nie in stand gesetzt worden, das zu thun!“
„Vielleicht doch! Vielleicht nicht! Warum war ich so thöricht, Ihnen überhaupt nachträglich die Wahrheit zu bekennen?“ rief Alix heftig.
Sie bereute es unmittelbar darauf; ein eigentümliches Lächeln ging über Raimund Hagedorns blasses, erregtes Gesicht, und seine Augen fingen an, zu strahlen, als er langsam wiederholte: „Und was bewog Sie, mir nachträglich die Wahrheit zu bekennen?“
Sie raffte sich energisch zusammen.
„Dazu bewog mich in erster Linie mein Stolz, den ich habe, so gut wie Sie, zu dem ich mich bekenne, so gut wie Sie! Im ersten Impuls meines Mitempfindens bin ich auf das einzige Mittel verfallen, das mir zu Gebot stand, und es schien mir damals gut. Aber jahrelang mich verstellen müssen – Komödie spielen, Ihnen und auch andern gegenüber, das hätte ich schwerlich können, und hätt’ ich es auch gekonnt, ich hielte es meiner und – Ihrer für unwürdig! Dazu bewog mich aber auch meine Freundin Maria Laurentius, die mein oberster Gewissensrat ist und die mich warnte vor solchen Heimlichkeiten, die stets ans Licht kämen – nur niemals so, wie sie sollten, wie sie beabsichtigt wären. Was mich zuletzt bewog – das war –“
„Nun?“ Er neigte sich in seinem Sessel vor und sah ihr nahe ins Gesicht.
„Wir sind einander näher getreten in dieser Zeit“ – sie redete jetzt langsam und mit Anstrengung und suchte gleichsam nach jedem Wort, ehe sie es aussprach – „der Tod hat vor Ihrer Thür gestanden, ich habe mich um Sie sorgen müssen. Was ich damals gethan und ohne Besinnen that und für Recht hielt, es schien mir für unsere – Freundschaft nicht mehr das richtige –“
„Freundschaft! – Freundschaft?“ fiel er ihr stürmisch ins Wort. „Bei mir ist es das nicht, war es das nie! Alexandra, warum sagst du nicht Liebe?“
Sie sagte es nicht, denn sie vermochte nicht zu reden – nur ihre Augen gaben ihm Antwort – ihm, der mit einem leidenschaftlich flehenden, selbstvergessenen Ausdruck in seinem beweglichen Gesicht zu ihr hinübersah. Und er las wohl in diesen Augen etwas, das ihm den Mut zum Weitersprechen verlieh – die Worte stürzten ihm aufs neue über die Lippen:
„Um mich war’s ja geschehen gleich beim erstenmal, da ich dich sah – und ich fühlte das mit jedem neuen Mal deutlicher. Darum hab’ ich fortwollen – – – lieber hundert Meilen weiter Buchhalterdienste thun als hier. Aber was es für mich gewesen wäre, fortzugehen, Alexandra – solange ich denken kann, hab’ ich die Sonne lieb gehabt …. aber lieber wollt’ ich mir die Sonne vom Himmel fortnehmen lassen als dich!“
Und er zieht sie an beiden Händen zu sich herüber, ein verklärt lächelndes Mädchen, das sich von dem Liebsten im Arm halten und küssen läßt und denkt: Was gehört jetzt noch mir und was ihm, wenn wir vereint sein sollen für immer – für immer!
Der rosige Himmel erblaßt, nimmt ein zart getöntes grünliches Licht an, die feingeschwungene Mondsichel schwimmt darin wie ein Silbernachen. So schön und so keusch dies schlanke Mädchen in dem schneeweißen Kleid!
„Es ist so viel Schweres über mich gekommen in letzter Zeit,“ sagt Alix leise, „meinst du nicht, daß nun das Schicksal mir mein Glück wird gönnen wollen?“
„Dein Glück, Alexandra! Das bin ich?“
„Wer sonst?“
„Ein armseliges Glück, das du dir da ausgesucht hast!“
„Ich, ich finde es reich!“
„Wie die Menschen staunen und – und – spotten werden!“
„Mögen sie immer!“
„Aber sie dürfen es nicht früher erfahren, als bis ich etwas geworden bin!“
„Gewiß nicht!“
„Aber meine stolze Königin wird warten müssen, wird sie das können?“
Es klingt eine so heiße Angst durch die Frage. Aber Alix lächelt sehr zuversichtlich.
Wäre ihre Liebe die echte, wenn sie das nicht könnte?
„Kolonie Josephsthal, Mai 189..
Weißt Du noch, Maria, wie ich Dir vor drei Jahren um diese Zeit – es war auch zu Ende des Mai – einen langen, ausführlichen Brief schrieb, in dem zu lesen war, ich wolle ‚Schicksal spielen‘? Du Gute, Du Kluge, hast damals schon genau gewußt, wie es um mich stand, besser jedenfalls als ich selber, die ich mir damals noch nicht völlig klar über meine Gefühle war.
Wenn ich zurückdenke, was alles diese drei Jahre uns gebracht haben!
Erst das Wiedersehen mit Dir und die Freude, die beiden mir auf Erden liebsten Menschen einander zuzuführen! Nie werde ich es Dir genug danken können, wie Du Dich dann meines Liebsten annahmst, der so glücklich war, in Eurem Hause die behaglichste Gastfreundschaft zu genießen, während er in Frankfurt seine musikalischen Studien zum Abschluß brachte. Und dann die lange Wartezeit, während meine Verlobung mit Raimund unser Geheimnis bleiben, und ich in Schloß Josephsthal ein geselliges Leben führen mußte, das in kaum ertragbarem Gegensatz zu den Bedürfnissen meines Herzens stand! Oft genug hab’ ich Dir und Raimund mein Leid geklagt, Dir rückhaltloser als ihm, denn bei ihm hieß es, vorsichtig sein, wenn, trotz aller Reserve meinerseits, diese Bewerber auftauchten, die sich nicht abschütteln lassen wollten! Ich bin unausstehlich gewesen – übermütig – hochfahrend – Diana von Versailles von Kopf bis Fuß …. es half mir alles nichts! Schrieb ich Dir schon, daß die alte Gräfin Versing neulich sehr spitz und spöttisch gegen mich bemerkte: ‚Wissen Sie, Liebe, daß Ihr Benehmen wirklich sehr sonderbar ist und entschieden zu denken giebt? Wenn man nicht wüßte, daß eine heimliche Verlobung für eine Baroneß Hofmann eine Unmöglichkeit ist, man könnte auf diesen sinnlosen Gedanken verfallen! Sie machen einen so – so unbekümmerten Eindruck wie jemand, der seiner Sache absolut sicher ist!‘ – Ach, Maria, diese Versuchung, der klugen Dame meinen tiefsten Knix zu machen und zu sprechen: ,Ihre Weisheit, Frau Gräfin, in hohen Ehren! Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen!‘
Nun, sie wird ja demnächst ihre Vermutung schwarz auf weiß bestätigt finden und staunen – staunen!! Könnte ich jede der dreihundert elegant gestochenen Verlobungskarten, die da neben mir aufgestapelt liegen, als ein Mäuschen begleiten und all die Ohs und Achs, die Ausrufe der Entrüstung, des Staunens, des Entsetzens anhören – welch ein Gaudium! ‚Raimund Hagedorn, Hofkapellmeister! Ach, um Gottes willen – ist denn das eine Partie?‘ – ‚Diese hochmütige Person – und das ist ihr gut genug?‘ – ‚Raimund Hagedorn – war der Mensch nicht einmal Buchhalter, noch dazu ein sehr untauglicher Buchhalter, in einer von den Mühlen der schönen Müllerin? Und den will sie heiraten? –‘
Bitte, meine Herrschaften – nur zu! Genieren Sie sich ja nicht! Ja – den will ich in der That heiraten!!
Und bald, Maria, das darf und das wird Dich nicht wundern! Raimunds Stellung in K. ist sehr günstig, er schreibt, so kurze Zeit er erst dort sei – er finge doch schon an, sich beim Publikum beliebt zu machen. Brauche ich Dir erst zu sagen, daß ich ihm das aufs Wort glaube? Ich hab’ ihn kennengelernt, als es ihm, Gott weiß es, nicht nach Wunsch ging, und konnte nicht anders, als ihn lieben. Wie sollen ihm jetzt die Herzen nicht zufliegen, da es ihm so gut geht in seinem geliebten Beruf und da ihm sein inneres Herzensglück aus den Augen leuchtet und von den Lippen lacht?
Seine ,Frühlingsphantasie‘, die er unmittelbar vor dem [767] Duell komponiert und fast vollendet hatte, ist letzten Winter wiederholt zur Aufführung gelangt, und immer mit gleichem Beifall! Raimund war überglücklich – nicht daß ihm der Erfolg zu Kopf gestiegen wäre …. nein, ich weiß, was ihm so wohl thut: daß er ihn allein sich selbst und seinem Können zu verdanken hat. Ich kann es ihm wahrlich nachfühlen – – das ist sein wunder Punkt: er will selbst etwas leisten, selbst etwas bedeuten! Ich meine, er hat sein Können glänzend bewiesen und wird es weiter thun. Mit seinem Orchester ist er sehr zufrieden, er darf alle neuen bedeutenden Werke einstudieren und komponiert inzwischen fleißig, da seine Arbeiten so viel Anklang finden. Mit Recht wird in ihnen besonders die Frische und Ursprünglichkeit der Erfindung und die reich quellende Melodik gerühmt. Er behauptet immer, das alles verdanke er nur mir, und ich glaube ihm das schon zu gern! Papa Hagedorn behagt sich ausnehmend in diesen Verhältnissen. Seines ,Jungchens‘ Erfolge machen ihn, wie Raimund schreibt, so eitel und übermütig, daß es oft des Guten zu viel wird. Nach mir empfindet er große Sehnsucht, er schreibt mir die liebevollsten Briefe und freut sich wie ein Kind auf unsere Hochzeit.
Ja, bald, im Juli, meine Liebste, wenn ,tote Saison‘ für die schönen Künste ist und die Herren Lehrer, Professor Laurentius obenan, ihre Ferien haben – dann hat Dein Pflegekind Hochzeit, und Du kommst endlich, endlich mit Mann und Kindern herüber zu Deiner Alix nach Schloß Josephsthal!
Ich habe Dir ja von allem, was ich inzwischen geändert und – nach meinen Begriffen! – gebessert, getreulich Bericht erstattet, aber die eigene Anschauung ist doch allein entscheidend. Du wirst keine musterhaften, tadellosen Verhältnisse finden, denk’ das ja nicht! Aber einiges giebt doch Zeugnis von meinem guten Willen. Die Unfall- und Krankenhausverhältnisse sind aufgebessert, die Schule ist erweitert, in jedem Sinn, eine Handarbeitabteilung für Mädchen und Knaben gegründet, die jüngeren oder besonders schwächlichen Jungen lernen Korb- und Mattenflechterei und einfache Schnitzarbeiten. All diese Neuerungen habe ich mir Schritt für Schritt erkämpfen, oft geradezu von Cecil abbetteln müssen, weshalb ich doppelt stolz darauf bin. Er ist nicht hartherzig, auch nicht übelwollend, mein vortrefflicher englischer Vetter, aber er hängt mit zäher Energie an dem Grundsatz: diesen Leuten gebe man gerade nur das Aeußerste, dessen sie bedürfen – kein Gran mehr, sonst züchtet man Habsucht und Unzufriedenheit groß. Er giebt nach, weil er schließlich muß! ,Sie sind ja die Herrin von Kolonie Josephsthal, Cousine!‘ heißt es stets am Ende unserer Debatten. ,Sie haben zu bestimmen, und ich muß mich fügen!‘ – Daher hüte ich mich, zu viel auf einmal zu verlangen und zu oft mit Reformen zu kommen. Ich will mir Cecil erhalten, er ist mir sehr nützlich, nimmt meine Interessen vortrefflich wahr, und ich wüßte nicht, was ohne ihn anfangen. Wir kommen im ganzen ausgezeichnet miteinander zurecht – auch ich mit Gwendolen!
Du wunderst Dich, daß ich nicht mehr von ihr schreibe! Liebes Herz – es ist mit dem besten Willen nicht viel von ihr zu schreiben; sie ist für Cecil die rechte Frau, eine richtige englische Mustergattin, die sich um nichts kümmert als das, was ihr Gatte ihr erlaubt und für sie passend erachtet. Blond, zart, rosig, gesund, vernünftig, so ist sie, und so verspricht ihr Baby zu werden, ein kleines Geschöpf von fünf Monaten, der Mutter wie aus den Augen geschnitten, so regelmäßig abgewartet, so regelmäßig zunehmend und gedeihend, daß man es nach der Uhr abmessen könnte. Zwischen Cecil, Gwendolen und mir ist ein musterhaftes Verhältnis. Wir sind gleichmäßig freundlich gegeneinander, mit Cecil berede ich geschäftliche und mit seiner Gattin häusliche Dinge – im übrigen hat Mrs. Gwendolen ihre hübsche, geräumige Wohnung im linken Flügel des Schlosses, und ich im rechten, wir sehen uns nicht zu häufig und sind einander im Innern so fern und fremd, als lebten wir auf zwei verschiedenen Planeten.
Du fragst in Deinem letzten Briefe, ob ich inzwischen einmal irgend etwas von Ingenieur Harnack gehört habe ….. jawohl, Liebste, noch ganz kürzlich sogar!
Du weißt, daß er nach verbüßter Festungshaft übers Meer ging, was ich in jeder Hinsicht für ihn richtig fand; hier konnte er nicht bleiben, und ich verstand ihn gut, als er mit schwerer Betonung zu mir sagte: ‚Jetzt nur so weit fort als möglich!‘ Immer noch sehe ich ihn vor mir, als er in der ersten und letzten Unterredung, die ich ihm nach all den schmerzlichen Ereignissen bewilligte, von mir Abschied nahm. Vor einigen Wochen hörten wir durch einen Geschäftsfreund, der aus New Orleans kam, Mr. William Harnack sei dort als Leiter eines großen technischen Unternehmens thätig und sehr angesehen wegen seiner gründlichen Kenntnisse und seiner Tüchtigkeit. Auf meine spezielle Nachfrage, wie er sich sonst gebe, meinte der Geschäftsfreund, er gebe sich eigentlich gar nicht, sei wortkarg, unzugänglich, verschlossen und gelte im allgemeinen als ausgesprochener Menschenfeind. Ich hatte dies leider vorausgesehen – es waren schon hier alle Keime dazu vorhanden, und das, was er erleben mußte, wird ihn nicht milder gestimmt haben.
Du meinst, wenn ich verheiratet sein werde, wird mein Interesse für die Kolonie Josephsthal allmählich schwinden …. nein, Maria, das kann, das wird nie geschehen! – Kein Tag vergeht, da ich nicht meines Vaters gedenke, der Energie und Umsicht, mit der er sein Lebenswerk verwaltet, der fast leidenschaftlichen Anhänglichkeit, die er dafür gehabt hat. Ich fange an, es besser zu verstehen, wie er so ganz in seinen geschäftlichen Unternehmungen aufgehen konnte. Es hieße, sein Andenken schlecht in Ehren halten, ohne Pietät und ohne Verständnis sein, wenn ich über meinem persönlichen Glück jemals das vergessen sollte, was ich ihm schuldig bin! Jawohl – schuldig! Denn auch die Toten haben noch ihre Ansprüche an die Lebenden zu erheben, und wehe denen, die sich ihnen ganz entziehen! Und eins noch, Liebste: ich habe der Kolonie Josephsthal viel, viel zu danken! Im intimen Umgang mit der Natur, in häufiger Einsamkeit bin ich mehr zur Besinnung gekommen, mehr ich selbst geworden, als mir dies inmitten der Zerstreuungen einer Großstadt, selbst unter Deiner treuen Obhut, möglich gewesen wäre. An Leib und Seele bin ich gesünder geworden, habe mich sammeln können – und vor allen Dingen, ich habe arbeiten gelernt. Arbeiten – sorgen für andere – nicht nur mein eigenes Ich hätscheln und in den Vordergrund stellen! Wie oft hat meines armen Vaters lakonisches Wort: ,Ich baue!‘ mich früher entrüstet! In diesen Jahren hab’ ich auch von mir sagen können: ,Ich baue!‘ aber nicht nur die Häuser, die längs des Flusses entstanden sind – ich baue Dinge, die man nicht sieht, die aber schwerer oft hinzustellen sind als ein neues Haus, denn das Material ist feiner als Ziegel, Mörtel und Steine – es ist Selbstüberwindung und Menschenliebe!
Darum werde ich jedes Jahr – und Raimund kennt mein Vorhaben und billigt es! – eine Zeit lang auf Schloß Josephsthal leben, werde mich den Leuten, den Beamten nicht entfremden, werde getreulich aus der Nähe, wie aus der Ferne, wachen über allem, was geschaffen wurde und was noch geschaffen werden soll. Meine alte Françoise nehme ich mit mir in meine neue Häuslichkeit, sie würde die Trennung von mir nicht ertragen, sie würde denken, Mignonne könne nur von ihr frisiert und bedient werden, und sie wird, davon bin ich überzeugt, heimlich drei Kreuze schlagen, wenn sie das ,Exil‘, in dem sie mehr als drei Jahre hat aushalten müssen, verlassen kann. Meine gute Frau von Sperber, die Du mit Recht in Dein Herz geschlossen hast, wie sie Dich, bleibt hier. Sie hat mich darum gebeten, und ich habe es ihr mit Freuden bewilligt. Kennt sie doch meine Intentionen, wird sie mir doch getreulich über alles und jedes berichten und in meinem Sinn und Geist regieren – freilich nur, soweit Vetter Cecils praktische Weisheit dies zuläßt. – Die Kinder werden mich hier freilich vermissen, sie hängen wirklich an mir, und das diesjährige Kinderfest fiel, im stillen Gedenken an die nahe Trennung, so besonders schön und reichlich aus, daß allgemeiner Jubel herrschte. Aber meine getreue Frau von Sperber wird die kleine Gesellschaft nicht vergessen – – und auch ich werde das nicht!
Morgen, Maria, versende ich die Verlobungsanzeigen – in acht Wochen, so Gott will, heiße ich Alexandra Hagedorn! Du warnst mich immer: ich soll mir meine Zukunft nicht zu rosig ausmalen …. das versuche ich redlich, Liebste, Beste! Ein schattenloses Glück – wer darf das beanspruchen – wer erwarten? Aber ich licöe, und ich werde geliebt – – darin liegt Glück die Fülle! Bestätige Du es mir – Du, selbst eine glückliche, liebende und geliebte Frau!
Sowie die Ferien beginnen, kommt Ihr! Ihn werdet Ihr schon vorfinden. Auf frohes Wiedersehen!
Deine Alix!“