Die alten Götter im christlichen Kult Schatten des dunklen Ostens von Ferdynand Antoni Ossendowski
Opferblut
Im Zeichen des Antichrist
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Opferblut.

Vor mehreren Jahren hat sich in Rußland die entsetzliche Kunde von der düsteren Sekte der sogenannten „Selbstanzünder“ verbreitet, an deren Spitze zwei Sektierer, die Brüder Rakitski, aus dem Balkan eingewandert, standen. Als sie in den südlichen Teilen Rußlands, speziell im Gouvernement von Jekaterinow ihre Propaganda trieben, vermochten sie eine ziemlich große, mehr wie 500 Menschen zählende Sekte um sich zu vereinigen.

Die Grundidee dieser Sekte war mehr als seltsam. Auf die Erde ist der Antichrist gekommen, den Samen der Sünde ausstreuend. Dieser Samen vermehrt sich von Jahr zu Jahr und wächst sich zu einer immer fürchterlicheren Ernte aus. Die Bevölkerung geht im Sumpfe der Sünde zugrunde. Nichts kann sie erretten, nur freiwillig vergossenes Menschenblut, das heißt, die Menschen müssen durch Selbstmord ihr Leben opfern zum Wohle der anderen.

Eine Reihe von Jahren schon war diese ungesunde Propaganda im Gange. Die Behörden haben nichts von ihr gewußt, bis einmal mehrere Leute, mit einem der Brüder Rakitski an der Spitze, fromme Lieder singend, eine Hütte angezündet, wobei die im Raume Versammelten im Feuer umkommen mußten.

Die gerichtlichen Untersuchungen haben die Spuren der schon ziemlich weit verbreiteten Sekte der Selbstanzünder ans Licht gebracht. Die Brüder Rakitski wurden verhaftet und auf schwere Arbeiten nach Sachalin verschickt. Einer von beiden begoß sich in seiner Zelle mit dem Petroleum der Nachtlampe und verbrannte sich.

Eine andere Sekte, durch Stephan Kolesnikow ins Leben gerufen, war jener der Selbstanzünder verwandt. Ich habe Gelegenheit gehabt, ihre Umtriebe persönlich zu beobachten.

Kolesnikow gründete im Gouvernement von Perm die Sekte der „Selbstmörder“. Die Gläubigen mußten sich während des Gottesdienstes den Hals durchschneiden. Nach den ersten Selbstmorden wurde Kolesnikow gefangen genommen, verurteilt und auf die Insel Sachalin verbannt. Es gelang ihm aber auszureißen und, sich immer sorgsam vor den Behörden verbergend, zog er im Gouvernement Tomsk im Schutze seiner Anhänger von Ort zu Ort.

Meine wissenschaftlichen Reisen in Sibirien führten mich 1921 auch durch den Südteil des Gouvernements Tomsk. Ich wohnte in einem Dorfe, meinen geologischen Untersuchungen lebend. An einem Sonntage durchstreifte ich den Wald mit meiner Flinte, um dem Wilde nachzujagen. Da erblickte ich ganz plötzlich auf schmalem Waldwege Bauern, welche vorsichtig um sich spähten. Einige von ihnen hielten sich sogar in den Gebüschen verborgen. Vorsichtig schleiche ich ihnen nach und komme mit ihnen vor ein ziemlich hohes Haus mit einem Kreuz auf dem Dache. Es wurde mir klar, daß es irgend eine Sektierer-Kirche war, die man hier ganz im geheimen erbaut hatte.

Unbemerkt schleiche ich mich in das Haus und verberge mich in der dunkelsten Ecke.

Dreißig stark gebaute, hochgewachsene Jägertypen mit schwarzen Haaren und ebensolchen Augen sind in dieser halbdunklen Stube versammelt. In einem Winkel ist ein großer Christus mit der Dornenkrone, schon ganz schwarz von Alter, angebracht. Dünne Wachskerzen brennen davor. Die Bauern flüstern leise miteinander, bekreuzigen sich fromm und schauen ängstlich auf die hohe, magere, unbewegliche Gestalt eines Menschen mit bleichem, abgehärmtem Gesichte und brennenden Augen. Er trägt das lange, wallende Kleid eines Mönches, das mit einem breiten Ledergürtel gehalten wird, hat lange, fast weiße Haare und einen kurzen schwarzen Bart. Zu den Anwesenden sich wendend, flüstert er in einer scharfen und deutlichen Weise: „Betet zu Gott, damit er zu uns komme.“ Alle fangen zu beten an und werfen sich auf die Knie, wobei sie sich ständig verbeugen, sie sehen dabei immer mit ihren Augen, die voller Tränen, in das schwarze, ernste Bild des Dornengekrönten.

Der hohe, magere Mönch kniet nieder, breitet seine Arme aus, heftet seine brennenden Augen ebenfalls auf den Gekreuzigten und flüstert leise mit bleichen, bebenden Lippen vor sich hin.

Plötzlich fährt er auf und läuft aus der Hütte.

Es wird stille rings herum. Niemand rührt sich. Grabesstille herrscht in der Stube. Man hört nur das Atmen der Leute und das leise Knistern der brennenden Kerzen. Durch die Fugen der Wände und das einzige kleine Fenster dringt das dunkle Sausen der Waldeswildnis wie eine düstere und grauenvolle Stimme. Der Sturm heult, am Himmel steht schwarz das Gewitter, Plötzlich kommt von weither die Stimme des Mönches, die voll Entzücken ruft: „Nun bist Du gekommen, o Herr, zu Deinen auf Dich wartenden Dienern! Sie sind bereit, ihr Blut als Opfer für die Sünden der Welt zu vergießen. Barmherziger Gott! Allmächtiger, großer Gott!“ Die Stimme des Mönches kommt näher und näher, bald zu einem Triumphgebrüll anwachsend, bald wieder in geheimnisvolles Flüstern sich verlierend, immer voller Ekstase und Schrecken.

Ich sehe, wie die Anwesenden zittern, mit den Zähnen klappern und nervös die Hände zusammenballen.

„Wehe uns, wehe!“ flüstern sie bebend und halten die Augen zur Erde gesenkt, um dem herannahenden Gott nicht in das Antlitz schauen zu müssen.

Der Wald stöhnt auf im Sturm, schauerlich pfeifend und heulend. In der Stube zittern die Kerzenflammen hin und her, einmal schwach, dann wieder hell aufflackernd. Durch diese Unruhe des Lichtes beginnen sich im dunklen Christusantlitz seltsame Schatten zu bewegen, die es unheimlich lebendig machen. Es ist, als schaue Christus mit lebenden Augen herab und hebe mit dem Munde zu sprechen an.

Ich fühle Schauer über meinen ganzen Körper laufen. Fürchterlichem sehe ich entgegen. Plötzlich ertönt von der Tür her die ernste, andächtige, vor Rührung zitternde Stimme des Mönches: „Tritt herein, allmächtiger Herr und empfange das Opfer Deiner Kinder.“ Ich erblicke den Mönch. Er kriecht, bis zur Erde gebeugt, auf den Knien rücklings in die Stube hinein, hält seine Arme betend ausgestreckt, als sehe er jemanden vor sich, dem er den Weg zu weisen habe. Plötzlich springt er auf und fängt mit seiner durchdringenden, verzweifelten Stimme, zitternd vor Angst und Schmerz, zu schreien an: „Verlasse uns nicht, o Herr, großer Gott, bleibe bei uns, die Zeit des Opfers ist gekommen.“

Mit einer blitzschnellen Bewegung wendet er sich an die Versammlung, bannt sie mit seinem Feuerblick, greift sich mit seinen weißen Händen an den Kopf und beginnt zu schreien mit befehlender, willensstarker Stimme:

„Er geht von uns fort! Nun stehen uns Qual, Sünde und Folter bevor. Bittet zu ihm mit Euerem Blute! Schneller! Sofort! Beeilet Euch! Beeilet Euch! Gebt Blut — Blut …!“

Ein junger Bauer mit schwarzen, schiefen Augen stößt einen fürchterlichen und dabei wie ein Kind dünnen Schrei aus und stürzt nach vorne. In seiner Hand blitzt ein breites Jagdmesser einen Augenblick auf, dann fällt sein Körper mit einem dunklen Röcheln auf den Fußboden hin. Aus seiner durchschnittenen Kehle schießt ein Blutstrom und aus seinem Munde dicker, roter Schaum.

Der Mönch wirft sich neben dem Sterbenden auf die Knie, legt die Hände auf das Haupt des Toten und betet lange, lange. Jetzt steht der Mönch auf, sein Gesicht strahlt vor Begeisterung und Entzücken. Er streckt die Hände in der Richtung der Türe aus und ruft voller Triumph: „Fallet nieder, denn Gott der Herr ist unter Euch.“

Der Donner dröhnt auf und die Erde erzittert. Wie meine vom Blitze geblendeten Augen wieder imstande sind, das Innere der Stube zu erkennen, sehe ich alle Bauern am Boden ausgestreckt, mit ihren Gesichtern nach unten und bebend vor Angst.

Der Mönch aber steht vor dem Bilde des Heilands mit ausgebreiteten Armen und betet inbrünstig, voll Begeisterung. Über sein Gesicht fließen aus seinen weitgeöffneten, wahnsinnigen Augen unaufhaltsam die Tränen.

Das war Stephan Kolesnikow.

Im Laufe eines Sommers haben achtzehn Bauern auf diese Art unter dem hypnotischen Einfluß Kolesnikows und einer primitiven, elementaren Angst vor Naturerscheinungen ihr Leben eingebüßt.

Ein Zufall machte mich zum Augenzeuge dieser Schauerlichkeit.

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