Scesaplana und Lünersee

Textdaten
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Autor: C. S.
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Titel: Scesaplana und Lünersee
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 25, S. 413–414, 417
Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1884
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Der Lünersee.0 Originalzeichnung von R. Püttner.


Scesaplana und Lünersee.

Die malerische Darstellung der Hochgebirgslandschaft mit Gletschereis und Wettertannen ist – gerade so wie der Bergsteigesport – ein ausschließliches Kind des 19. Jahrhunderts; zur Zeit der beschnittenen Ziergärten und der atlassenen Staatsfräcke, und noch am Ende des 18. Jahrhunderts, wäre beides ein Ding der Unmöglichkeit gewesen. Nach der – nicht blos auf politischem Gebiete fruchtbaren – großen Umwälzung traten die Kunst und der Geschmack des Publicums wieder der Natur und ihrer einfachen, ungekünstelten Schöne näher. Da lockten auch die Bergriesen der Alpen die jüngere Generation an sich heran. Der Pinsel unserer Landschafter wie der Mannesmuth und das poetische Gemüth der Jugend wandten sich dem hehren Linienschwunge, der Farbenpracht und dem dichterischen Hauche zu, der in unseren einsamen Hochgebirgsthälern und um die stolzen Gipfel unserer Alpenkette weht. Aber nur langsam vollzog sich dieser Umschwung; das Hochgebirge mußte förmlich erschlossen werden. Noch in den vierziger Jahren – also so recht im berüchtigten österreichischen Vormärz – wanderte kaum ein „Gebildeter“ ins Gebirge, Fremde schon gar nicht. Ich erinnere mich noch mit Vergnügen des bedenklichen Wackelns alter Gubernialzöpfe und der drohenden Warnungsfinger zimperlicher Großmütter, als wir einst, eine jubelnde Schaar studentischer Lockenköpfe, in eisenbeschlagenen Schuhen und mit nackten Knieen, almrosenbekränzt und sonnenverbrannt nach mehrtägigem Gletscherwandern auf früher nie versuchten Steigen in die Landeshauptstadt Innsbruck einmarschirten. Das war damals gerade so ein Ereigniß, wie jetzt eine Nordpolfahrt, und: „was gebildet sein wollende Studenten wohl da droben und da drinnen in den ‚schiechen Oertern‘ zu suchen hätten?“ so frugen die städtischen Philister.

Glücklicher Weise ist dies jetzt anders geworden; zahlreiche Alpenvereine machten in ihren Jahrbüchern die Lesewelt mit den bis dahin verborgenen Zauberreizen des Hochgebirges bekannt, ihnen folgten Touristen aller Nationen, und dann namentlich die Maler, sodaß schon beinahe in keinem Salon mehr ein paar auf Leinwand gehauchte Hochgebirgsgipfel fehlen dürfen.

Zu den am spätesten erschlossenen Regionen der österreichischen Bergwelt gehört, ungeachtet der unmittelbaren Nachbarschaft der Schweiz, das Hochgebirge Vorarlbergs, – jenes kleinen Ländchens, das man nicht mit Unrecht die österreichische Rheinprovinz genannt hat, da es allein von allen andern habsburgischen Ländern seine Gewässer dem „deutschen Strome“ zuführt. Unter diesem Hochgebirge verstehe ich den mit mehrfachen Querthälern durchfurchtenn, im Mittel gegen 2600 Meter hohen, theilweise vergletscherten Gebirgskamm, der, an dem jetzt vielgenannten Arlbergpasse beginnend und Tirol, Vorarlberg und Graubünden scheidend, als Silvretta- und Rhätikonmassiv etwa 40 Kilometer lang gen Westen verläuft und mit dem kühnen Abschwung der Falkniß, gegenüber von Ragaz, ins Rheinthal steil abfällt. Dort drinnen, im Montafon und auf Vermunt, im Gannera-, Gargella-, im Rellser und Brandtner Thale war es selbst um die Mitte der sechsziger Jahre noch so still und einsam, daß ich auf meinen häufigen Wanderungen durch jenes Gelände mich fast ausnahmslos als den einzigen Gast der niedrigen, aber, im Gegensatze zum nachbarlichen Tirol, stets musterhaft reinlichen Bauernwirthshäuser fand, wo es noch trefflichen „Tiroler“ und wohlfeile Gebirgsforellen in Fülle gab, – oder auch in den hochgelegenen Almhütten ein Object scheuen Anstaunens für die Ochsenhirten und die schwarzäugigen Montafoner Sennerinnen abgeben mußte. Verschiedene aus diesen Wanderungen hervorgegangene Aufsätze in den Jahrbüchern des damaligen österreichischen Alpenvereines („Im Rhätikon“, „Auf Vermunt“), dann die Eröffnung der [414] Vorarlbergerbahn, endlich das Erscheinen der liebenswürdigen Monographie „Montafun“ von O. von Pfister in Lindau haben aber dort oben Alles gründlich verändert. Bludenz, das ehedem etwas obscure Bergstädtlein, ist ein Touristennest geworden, wo es von Bergsteigern und englischen „Misses“ wimmelt, – an der Stelle der niedrigen Bauernwirthshäuser haben sich Hôtels und Pensionen aufgethan, in welchen sogar schon preußische Minister Sommerfrische gehalten haben, und wo einst der Schreiber dieser Zeilen auf schlechtem Heu schlechte Nächte verbrachte, am Lünersee und auf Tilisuna, da stehen jetzt stattliche, vom D. & Oe. A. V. (Deutschen und Oesterreichischen Alpen-Verein) errichtete comfortable Clubhütten mit Federmatrazen und „Wienerschnitzeln“.

Daß alles Dieses aber – und noch vor gar nicht so langer Zeit – einmal anders war, daran denkt das heutige Geschlecht nicht mehr, und darum ist es gut, daß man es ihm wieder in’s Gedächtniß ruft.

Meister Püttner’s Stift hat nun für die „Gartenlaube“ aus dem vorarlbergischen Rhätikon zwei wahre Juwelen festgehalten, das Brandtner Thal mit der Scesaplana und den Lünersee. Auf dem einen Bilde (vergl. S. 417) sind wir schon zwei Stunden lang aus dem Illthale bei Bludenz schweißtriefend herabgestiegen und befinden uns bei der einsamen Capelle auf Collafera, wo auf einem Steinblocke eine kleine eiserne Madonna steht, die der Sage nach sich in die Capelle absolut nicht hinübertragen lassen mag. Auf dieser Thalstufe öffnet sich unser Blick südwärts auf die Bergidylle des Brandtner Kirchleins inmitten zerstreuter, wetterbrauner Häuschen; links vor uns stürzt die Steilwand der „Wasenspitz“ hinab in die ahornumrauschte Schlucht, in welcher der Alvierbach schäumt; gerade vor uns steht als harmonischer Abschluß das Rhätikonmassiv, darauf der Brandtnerferner als ebene Fläche (sasso plano) ruht, auch fast allenthalben vom Bodensee aus wie eine weiße Sommerwolke im Himmelsblau sichtbar. Die zwei dunkeln Felsenköpfe in der Mitte sind der Muttersberg und der Mittelspitz, rechts davon heißt’s der Panüeler Schrofen oder auch „auf Zalim“, eine Felswand, die wohl bei 1000 Meter hoch fast senkrecht in’s benachbarte Almthal Gamperton (camp rotond) abfällt, und an deren Abstürzen man den Spousagang zeigt, so genannt, weil zur Zeit der Reformationskriege eine katholische Braut (spousa) aus Brandt, der Verfolgung ihrer Verwandten entrinnend, mit ihrem Bräutigam, einem reformirten Prättigäuer, den schwindelnden Steig als einzigen Ausweg glücklich überwand. Die eigentliche Spitze der Scesaplana (2968 Meter über dem Meer) aber steht firngekrönt links im Bilde, scheinbar niedriger als die andern, in Wirklichkeit aber alle Nachbarerhebungen weit überragend, und auf den Brandtnerferner mit einer senkrechten Wand von mehreren hundert Metern abfallend.

Sind wir auf guten Sträßchen durch’s Dorf gewandert, dann wenden wir uns, weit hinter der Wasenspitz, nach links und steigen über die Alm Schattelagant auf steilem, der böse Tritt genanntem, aber jetzt ungefährlichem Pfade aufwärts. Wir gehen an einem Wasserfalle vorüber, der, aus der senkrechten Felswand brechend, als der unterirdische Abfluß des Lünersees gilt, und betreten nach dreistündigem Marsch das Seebord, den Wall jener voll hohen Gipfeln eingeschlossenen Mulde, in welcher der eine Stunde im Umfange haltende Lünersee eingebettet liegt, halten also gerade vor Meister Püttner’s anderem Bilde.

Einsam, still, fast melancholisch liegt er da, dieser größte See auf solcher Höhe (2500 Meter über dem Meeresspiegel), ein fragendes Riesenauge, dem Himmel zugekehrt, der von Zeit zu Zeit seine blauen und grünen Lichter darüber streut; steile Firnhänge spiegeln sich in seinen Tiefen, und das großblumige Almveilchen umkränzt sein Gestade. Außer einigen düstergrünen Latschenzweigen kein Strauch und kein Baum, denn wir sind hoch über der Grenze des Holzwuchses, dafür aber in der eigentlichen Region der Gemsen, deren wir manche Truppe längs der Abhänge hinklettern sehen können, lautlos und stille, tönte nicht das Klingen der von den festeinsetzenden Klauen herabgeschleuderten Steine zu uns herüber – das sogenannte „Steinlen“ der Gemsenjäger. An die drei Viertheile des Jahres liegt eine dicke Eisfläche auf dem See und dennoch lebt ein Fisch in ihm, die dickköpfige „Groppe“ (Kaulquappe). Der See hat keinen sichtbaren Abfluß, ist aber auch von anderen Seiten durch die Thäler zugänglich, die bis an seinen Steilwall mit ihrem Scheitel heranreichen, so durch’s Rells- und Gauerthal aus dem Montafun, während ein hochgelegener Paß, das Schweizerthor, in’s graubündnerische Prättigäu hinüberleitet.

In vorzüglich gewählter, geschützter Lage steht am Südwestende des Sees die hohe bequem eingerichtete Unterkunftshütte des deutschen und österreichischen Alpen-Vereins, nach dem im vorarlbergischen Hochgebirge verunglückten, um dieses Bergland verdienten Vorstande der Section Vorarlberg des deutschen und österreichischen Alpen-Vereins, die Douglas-Hütte genannt. Von ihr führt ein dreistündiges Steigen über die „Todtenalpe“ – ein großartiges Trümmerfeld, an das sich, wie so oft in den Alpen, eine Sage von Sennerübermuth knüpft – dann über steile, aber gefahrlose Firnfelder zur Spitze der Scesaplana.

Diese, ein Grenzpunkt zwischen der Schweiz und Vorarlberg, ist im letzten Jahrzehnt wegen ihrer Prachtaussicht und der relativ mühelosen Besteigung ein wahrer Wallfahrtsort der Touristen geworden. Wer aber auch nur bei einer, wie ich selbst bei sechsmaliger Besteigung, so sehr von den Göttern begünstigt ist, daß er wolkenlosen Himmel da droben findet, der kann dort ein tüchtiges Stück Erde mit einem Blick umspannen – von der baierischen Hochebene bis zum lombardischen Adamello und vom Monte Rosa bis zum Großglockner – und in seligem Schauen schwelgen, losgelöst von all dem Qualm und all der Qual der Tiefen da drunten – ein König auf höchstem Throne. C. S.     



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Das Brandtner Thal und die Scesaplana.
Originalzeichnung von R. Püttner.