Scenen aus den Ueberschwemmungen im südlichen Frankreich

Textdaten
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Autor: unbekannt
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Titel: Scenen aus den Ueberschwemmungen im südlichen Frankreich
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 30, S. 407–408
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1856
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Scenen aus den Ueberschwemmungen im südlichen Frankreich.

Ein großer Theil des warmen, südlichen Frankreich ist binnen weniger Maitage dieses Jahres in einen ungeheuern Sumpf voller Ruinen und Leichen, in ein todtes Sandmeer, dessen fest gewordene Wogen unzählige Grabhügel bilden, Meere goldener Halme, saftig grüne Weinberge in Ebenen stinkender Verwesung, lachendes Leben in jammervollsten Tod verwandelt worden. Umfang und Größe dieser Naturtragödie sind fast ohne Gleichen in der Geschichte der Überschwemmungen, welche man gewissermaßen als ein Naturrecht der Flüsse betrachten muß. Die Natur ist deshalb nicht Schuld an dem Unglück, welches sie mehr oder weniger jedes Jahr an Flußufern hin anrichtet. Sie nimmt dadurch blos das Recht ihrer Flüsse in Anspruch, das die Menschen, theuerste Erfahrungen in Habgier und egoistischem Stumpfsinn erstickend, immer wieder verletzen und überschreiten. Dem Flusse gehört immer die nächste Terrasse an seinen Ufern als Bett für Zeiten, wenn er große Wassermassen fortzuschaffen hat. Man sollte sich deshalb nie unmittelbar an solchen Ufern anbauen, sondern stets erst von der nächst höheren zweiten Terrasse an. Wo man dies nicht will oder kann, sollten wenigstens immer zugleich die naturgesetzlichen Bedingungen erfüllt werden, unter welchen man allein in und neben dem Bereiche des weiteren Flußbettes sich häuslich niederlassen darf. Diese Bedingungen sind Dämme, Kanäle, geeignete Drainirung u. s. w. Sie sind zugleich Lebensbedingung für Tausende, Millionen von Menschen. Aber die Staaten, deren Polizei sich sonst um jedes Winkelchen des Landes oder eines Herzens bekümmert, damit von daher das Vaterland nicht in Gefahr komme, fragen bisher wenig nach diesen Gefahren, die doch gewöhnlich nur arme Fischerdörfer und verachtete Niederungen treffen, wie sie meinen. Sie wissen nicht, daß Flüsse große Pulsadern ganzer Gesellschaftskörper sind, und deren Unterbindung oder Sprengung diese ganze Gesellschaft trifft. Was hilft es, wenn man hinterher, nachdem das Unglück geschehen, einzelne Menschen zu retten sucht und das Geld an überlebende Bruchstücke von Familien als Almosen vertheilt, das bei rechtzeitiger Anwendung alle ertrunkenen Ernten und Menschen gerettet haben würde?

Ein französischer Diplomat klagte neulich gegen andere Diplomaten, daß in dem benachbarten Belgien die Presse mit idealen Überschwemmungen drohe, und deshalb Eindämmungen sehr zeitgemäß und nothwendig für die Sicherheit des geretteten Frankreich seien. Warum dachte er nicht lieber längst vorher an Sicherheitsdämme für das Leben der Tausende zu Hause, statt sich und Andere mit Sündfluthsgefahren aus trockenem Papier in einem andern, kleinen Staate, um dessen Rettung er sich gar nicht zu kümmern brauchte, da er schon gerettet ist und zwar ein Bischen solider, als Frankreich, zu graueln?

Wir können keine Schilderung des maßlosen Unglücks in und um Lyon herum und über viele Quadratmeilen des südlichen Frankreichs hinweg geben, und beschränken uns nur auf einige Scenen dieser entsetzlichen Tragödie.

Die Flüsse schwollen, wie bekannt, durch anhaltenden, schweren Regen, die Saone trat weit über ihre gewöhnlichen Ufer und riß Häuser und Ernten und Weinberge mit sich fort. Aber das war nur Kinderspiel gegen die Verwüstungen, welche die Rhone nach Durchbrechung des Dammes Tête d’or (in der Nacht des 30. Mai) in ihrem wüthteden Wogensturme anrichtete. Aus dem über 100 Ellen weiten Bauche theilte sie sich in drei wüthende Wogencolonnen, die in ihrem Laufe Alles mit sich fortrissen, Bäume, Häuser, Vieh und Menschen, Felder, Wälder, Weinberge. Die drei Flüsse liegen jetzt in ruhigen Todtenbetten Tausender über das Land hingeschlängelt: Moder, Schlamm und Grab Meilen lang und zuweilen bis eine halbe Meile breit. Die schreienden und heulenden Scenen des Lebens auf Dächern, auf welche sich oft ganze Familien geflüchtet hatten, nach Rettung über die wüthenden Wogengewälze spähend und rufend, bis die Mauern unter ihnen zusammensanken und Haus und Hof, Weib und Kind ihnen nach, sind jetzt verstummt. Alles ruht gemeinsam in einem oben glattgestrichenen Grabe.

Lyon, die Seidenkünstlerstadt, eine der schönsten Perlen der Industrie und des Geschmacks in ganz Europa, ist jetzt eine Ruine. Seine fleißigen, geschäftswimmelnden, kunstsinnigen Straßen sind abgelaufene, schlammige Fluß- und Todtenbetten. Aber die Verwüstung beschränkte sich durchaus nicht auf Lyon und die nächsten Umgegenden. In und um Saumur wüthete die Loire noch zerstörender, als die Rhone. Unweit davon wurden über 70 Morgen Landes mit einem Dorfe, Bezundur, darauf von dem übrigen Boden losgerissen und mit dem ganzen Dorfe in den Fluthen begraben. Bäume, Vieh, Hausdächer mit Menschen, Meubles, Ackergeräthe, Alles wirbelte durcheinander in den rasenden Fluthen hinunter und manches Lebendige litt doppelten Tod: erst zerstoßen und zerquetscht, ertrank es. Die Stadt Blois stand bis 20 Fuß unter Wasser. Die Brücken über die Nebenflüsse Cher, Allier, Yeres und Ain wurden alle zertrümmert und in den Fluthen zerwaschen. Auch in und um Avignon, Amboise, Tarascon u. s. w. rissen die Fluthenwirbel bis jetzt noch unberechnete Werthe zu Trümmern auseinander. Selbst die große, massive Brücke Germain des Fosses, über welche Menschenmassen flohen, widerstand dem Sturmlaufe der entfesselten Wasser nur einige Minuten, so daß sie nach einigem Knacken und Krachen plötzlich an mehreren Stellen zugleich barst und ihre mächtigen, massiven Stücke, mit Menschen bedeckt, nach einem vergeblichen erneuerten Widerstande in die, unter den noch stehenden Bogen hindurchdonnernden geschwollenen Wasserschläuche hinabstürzte, bis auch die andern Bogen mit den von allen Seiten abgeschnittenen Menschen darauf folgten. Das Gekreisch der letzteren schrillte einige Secunden hörbar durch die wilde Musik des niederklatschenden Regens und den gurgelnden Donner der Fluthen, verstummte aber sehr schnell, so daß nur noch einige Zeichen des Lebens und der Liebe krampfhaft auftauchten, z. B. ein paar Mutterarme, die ein Kind über das Wasser emporzuhalten suchten; aber auch diese wurden im Nu verwischt und lebendig begraben.

Eine eben so malerische, eben so dramatische, aber ruhigere Scene aus den Straßen des durchfluteten Lyon, die alle in Kanäle und Flüsse verwandelt worden waren. Kleinere und schlechtgebaute Häuser weichten und wichen dabei so rasch zusammen, daß die Bewohner nicht immer schnell genug in umherfahrende Kähne aufgenommen und gerettet werden konnten, obwohl Militär und Civil den größten Eifer und nicht selten edeln Heroismus entwickelten, um Ertrinkende und in zusammensinkenden Häusern lebendig Begrabene aufzufischen. Soldaten hatten eben aus einem zusammensinkenden Hause die Bewohner in einen Kahn aufgenommen und noch andere Personen aufgefischt, als sie [408] ein durchdringendes Hülfegeschrei einer weiblichen Stimme aus dem die Straße überfluthenden Wasser vernahmen. Man schob den Kahn rasch in der Richtung hin, von welcher der Hülferuf erscholl und entdeckte eine weibliche, ganz entkleidete Gestalt, die sich vergebens anstrengte, sich über dem Wasser zu halten. Nachdem sie mehrmals gesunken und wieder aufgetaucht war, fing sie ein Soldat leblos auf und trug sie in den Kahn, auf welchem ein Kind freudig aufschrie: meine Mutter, meine liebe Mama! –

Dieser Ruf drang tief in das Herz des Weibes, das bewußtlos in den Armen des Soldaten hing. Sie kam zu sich und erkannte ihr Kind, welches in einem benachbarten Hause zum Besuche gewesen war, als die Fluthen plötzlich herein tobten, die Straßen überschwemmten, jede Verbindung abschnitten und das Haus, welches ihr Kind barg, zusammenstießen. Der Entschluß der Mutter war bald gefaßt: sie entkleidete sich, stürzte sich in’s Wasser und schwamm ihrem Kinde zu Hülfe. Aber die Fluthen rissen sie zurück, so daß sie sich bis zur Ohnmacht und zum Sinken darin abmühte, bis sie in denselben Kahn gerettet ward, der schon ihr geliebtes Kind in dem Schooße der Freundin barg. Die Freundin sah sich nicht um, sondern streckte nur im Uebermaße von Dankbarkeit ihre Arme gegen den Himmel empor und betete vielleicht mit zwei, drei Ausrufen des Herzens inniger und schöner, als jemals der Fromme, der in hergebrachten, aufgezwungenen Formeln zu einem dogmatisch gemachten Gott aufjammert.

Wir schließen gern mit einem solchen Bilde, das unsere Herzen aus diesen Sündfluthen des Schreckens wieder aufhilft, obgleich es nur ein Erbarmen des Zufalls sein mag, der die rücksichts- und kleiderlos mit der Wuth des Elementes um ihr Kind kämpfende Mutter im Momente ihrer Rettung zugleich durch die süße Stimme ihres freudig aufjauchzenden, geretteten Kindes zum Bewußtsein und in’s Leben zurückrief.