Sappho (Die Gartenlaube 1894)
[52] Sappho. (Zu dem Bilde S. 41.) Die schöne lesbische Dichterin hat Dichter und Künstler in alter und neuer Zeit gar viel beschäftigt. War ja doch auch die Sage eifrig dabei, ihr an Ereignissen offenbar durchaus nicht armes Leben – die Wende vom 7. zum 6. Jahrhundert v. Chr. war für viele Griechenstädte an der kleinasiatischen Küste und auf den benachbarten Inseln eine politisch sehr erregte Zeit – noch mit allerlei romantischen Zuthaten auszuschmücken; man meinte, die Dichterin, die in ihren Liedern die Sprache der Liebe mit solcher Glut zu sprechen wußte, müsse auch im Leben tagtäglich so gefühlt haben, man wußte schließlich von einem schönen Jüngling Phaon zu erzählen, in den sich Sappho sterblich verliebt und wegen dessen Sprödigkeit sie sich vom Leukadischen Felsen ins Meer gestürzt habe. Und es ist merkwürdig, wie gerade an diese Vorstellung von Sappho die Dichter und Künstler auch der Neuzeit mit Vorliebe anknüpfen. Diese Sappho hat Grillparzer seinem Drama zu Grunde gelegt, diese Sappho hatte offenbar auch H. Coomans im Auge bei dem Bilde, das wir heute unseren Lesern vorführen. Sinnenden Auges schaut die Dichterin hinaus auf das in glattem Spiegel sich dehnende Meer und unwillkürlich deuten wir dieses verlorene Sinnen als verzehrende Sehnsucht nach dem Geliebten.