Samuel Heinicke, Begründer der ersten Taubstummen-Anstalt Deutschlands

Textdaten
Autor: Jean Samuel Conrad Kilian
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Titel: Samuel Heinicke, Begründer der ersten Taubstummen-Anstalt Deutschlands.
Untertitel: Volksblatt. Eine Wochenzeitschrift mit Bildern. Jahrgang 1878, Nr. 17, S. 132–134
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Herausgeber: Dr. Christlieb Gotthold Hottinger
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1878
Verlag: Verlag von Dr. Hottinger’s Volksblatt
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Erscheinungsort: Straßburg
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Quelle: Scan auf Commons
Kurzbeschreibung:
Siehe auch Samuel Heinicke
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Samuel Heinicke,
Begründer der ersten Taubstummen-Anstalt Deutschlands.


Samuel Heinicke,
geb. den 10. April 1729 in Nautzschütz bei Weißenfels
an der Saale, † den 30. April 1790.

I.

Das deutsche Vaterland hat am 14. April d. J. das hundertjährige Stiftungsfest der ersten Taubstummen-Anstalt Deutschlands gefeiert, die, im Jahr 1778 von dem edlen und hochherzigen Samuel Heinicke unter dem Schutze seines Kurfürsten Friedrich August in Leipzig eröffnet, nicht nur als die Mutter-Anstalt der 80 jetzt im Deutschen Reiche bestehenden Erziehungshäuser begrüßt werden kann, sondern deren Heilverfahren sich auch weit über die Grenzen des Vaterlandes hinaus verbreitet hat und seit jüngster Zeit selbst in England, Amerika, Italien und Frankreich zu gerechter Anerkennung kommt, so daß die 250.000 in Europa lebenden Taubstummen dem Tage ihrer sittlichen und gesellschaftlichen Gleichstellung nicht mehr ferne stehen.

So lange über die körperlichen Ursachen und sittlichen Folgen der Taubstummheit die lächerlichsten und oft verderblichsten Vorurtheile herrschten, wußten die meisten Eltern nirgends anderswo die Heilung ihrer taubstummen Kinder als bei herumziehenden Salbadern und Zigeunerhorden oder im unheilvollen Zungenlösen und in allerlei Wunderknixen der Sympathie zu suchen. Da war keine Rede von einer vernunftgemäßen und volksthümlichen Bildung. Der Taubstumme war als bildungsunfähig mit den Blödsinnigen und Kretinen zu einem rein körperlichen Dasein verurtheilt. Sein Doppelgebrechen galt theils als ein unlösbares Hemmniß jeder Art menschlicher Bildung, theils als ein geheimnißvolles Gottessiegel, dessen Lösung der mittelalterliche Aberglaube als eine Gotteslästerung brandmarkte: Kirchenbann und Inquisition bedrohten die ersten Wohlthäter und Sprachlehrer der Taubstummen. Und da dieser Irrthum durch das Ansehen des griechischen Weltweisen Aristoteles bekräftigt wurde und sich vom hl. Augustinus sogar bis zu dem großen Denker Kant fortgeerbt hat, so ist es kein Wunder, daß wir bis in’s 16. Jahrhundert hinauf nur wenigen, vereinzelten Bildungsversuchen begegnen, während die große Mehrzahl dieser Beklagenswerthen dem verhängnißvollen Loose schrecklichster Verwilderung überlassen bleiben mußte.

Dieser hie und da vorkommende Einzelunterricht beschränkte sich meistens auf taubstumme Kinder aus den reicheren und adeligen Familien; denselben besorgten bald die Väter selbst, bald als Lehrer angestellte Aerzte und Geistliche. So wurde ein Taubstummer von Agricola († 1485), Professor der Philosophie in Heidelberg, unterrichtet. Joachim Pascha, Hofprediger des Kurfürsten von Brandenburg († 1578), und Pastor Raphel († 1715) widmeten sich der Erziehung ihrer eigenen taubstummen Töchter.

In Spanien und Italien leiteten ausgezeichnete Aerzte und Mönche wie Cardan de Pavie († 1576) und Ramirez de Carian die Erziehung von mehreren taubstummen Prinzen aus dem Fürstenhause Savoyens. So begegnen wir etwas später in Frankreich Ernaud, Pereira († 1745) und besonders dem Abbé de l’Epée († 1760). In Holland machte sich außer van Helmont († 1657) hauptsächlich der Arzt Conrad Amman († 1688) in Amsterdam um den Taubstummen-Unterricht verdient, dessen „Surdus loquens“ (ein Buch mit dem Titel: „Der sprechende Taube“) der Ausgangspunkt für das durch Heinicke begründete deutsche Unterrichtsverfahren werden sollte.

II.

Die Taubstummheit ist ein rein körperliches Gebrechen (entweder von der Geburt übererbt oder nach der Geburt in den ersten Kinderjahren ausgebrochen) und hat keinen andern nachtheiligen Einfluß auf die geistigen Bildungskräfte, als daß durch den Mangel von Gehör und Sprache deren regelmäßige Entwickelung erschwert und verspätet ist.

Die geistige Anlage bleibt unverletzt, und das taubstumme Kind sucht sich der Fesseln seiner Vereinsamung und seines geistigen Bannes zu entledigen und sich in die Gemeinschaft von Familie und Mitwelt einzubürgen. Der Taubstumme bedient sich – dem allmäligen Erwachen seines Geistes und dem gesteigerten Bedürfniß geselligen Verkehrs gemäß – der natürlichen und auf der Nachahmung der Außenwelt beruhenden Zeichen- oder Geberdensprache, die sich, allsobald als bequemes Verkehrsmittel angenommen, das Erbrecht der Muttersprache anmaßt.

Dennoch findet sich eigentlich kein Taubstummer vor, der nicht eine gewisse Claviatur von Naturlauten besitze; denn da seine Sprachwerkzeuge unversehrt sind und nur durch den Mangel an Uebung als Todtliegendes verkümmern und verkalken, so folgt er dem menschlichen Sprachinstinkt und begleitet meistentheils auch seine Geberden mit Lauten und Lautverbindungen, die, wenn noch so unvollkommen, eine Nachahmung der Mundbewegungen der zu ihm Sprechenden oder ein sprachlautliches Geberdenspiel sind.

L’abbé de l’Epée, der um’s Jahr 1760 in Paris die erste Anstalt für Taubstumme errichtete, hat seine Methode [133] auf die Geberdensprache gegründet. Dieselbe hat sich aber nach kurzer Erfahrung für die vernünftig-sprachliche Ausbildung der Zöglinge als unzulänglich erwiesen und mußte durch das aus Spanien stammende Fingeralphabet und die sogenannte künstliche Geberdensprache ergänzt werden.

So bildeten Schrift, Geberdensprache und Handalphabet die gepriesene Dreizahl der Pariser Anstalt, die dem Geiste ihres frommen Stifters gemäß vorzugsweise die sittliche und religiöse Entwickelung der Taubstummen zu fördern suchte und diesem edlen und höchsten Ziel aller Erziehung deren Ausbildung für die Gesellschaft opfern zu müssen wähnte, ein Irrthum welcher so ganz dem französischen Geiste entgegengesetzt ist und deshalb auch mit der vollsthümlichen Entwickelung der Nationalbildung nicht länger Schritt halten kann, wie denn bereits seit zwanzig Jahren in Paris und in mehreren Provinzstädten die trefflichsten Erfolge durch die Lautsprache erzielt werden.

Samuel Heinicke, geboren 1729 zu Nautzschütz bei Weißenfels und gestorben 1790 zu Leipzig, hat vor Allem das große Verdienst, der krankhaften Fremdsucht seines kleingeistigen Zeitalters nicht blindlings gehuldigt und der Modefluth des Auslandes seine urwüchsige und ächt deutsche Natur entgegengestemmt zu haben. Während der Kaiser Joseph II. in Person im Jahre 1777 zu öfteren Malen und mit einer gesteigerten Bewunderung dem Unterrichte in der Pariser Anstalt beiwohnte und daselbst den Geistlichen Stork ausbilden ließ, der 1779 die Wiener Taubstummen-Anstalt nach französischer Methode eröffnete; ja während die Städte Madrid, Genf, Amsterdam, Prag (1784), Gröningen (1790), Rom (1784) und sogar Berlin (1788) in die allgemeine Bewunderung der französischen Methode einstimmten und die Begründer ihrer Anstalten von Abbé de l’Epée sich begeistern und leiten ließen, wagte es der bescheidene Cantor zu Eppendorf bei Hamburg (1768) und spätere Begründer der Leipziger Anstalt das „Ich kann nicht“ seines hohen pädagogischen Geistes und seines warmen Nationalgefühls der französischen Lehrmethode als Fehdehandschuh hinzuwerfen und in der Ungeschminktheit seines Wahrheitseifers gegen die mit Lorbeeren gekrönte französische Größe zu kämpfen. Zu bedauern bleibt nur, daß Heinicke in diesem Zweikampf die Grenzen aller Billigkeit überschritt und sich zu leidenschaftlichen Ausbrüchen verleiten ließ, die der deutschen Sitte und Wissenschaft widerstreben.

Die deutsche Methode sucht vor Allem den Taubstummen zu entstummen und ihn durch den Besitz der Lautsprache zu einem ebenbürtigen Mitglied der Familie und der Gesellschaft heranzubilden. Sie hält also von dem Unterrichte alle unnatürlichen Schleichmittel wie Handalphabet und künstliche Geberdensprache fern, die das taubstumme Kind immer mehr dem geselligen Verkehr entfremden und in eine erniedrigende Sonderstellung in der Gesellschaft zurückbannen. Ja die natürliche Geberdensprache ist sogar nur geduldet, bis sie von der Lautsprache lahm gelegt und verschlungen und auf die maßvolle Nebenrolle zurückgeführt ist, die das begleitende Zeichen in der Rede des hörenden Sprechers spielt.

Die Taubstummen können es in der Lautsprache um so leichter zu einer oft ganz überraschenden Sprachfertigkeit bringen, als kaum 1/3 derselben von Geburt taubstumm ist, und die Mehrzahl vielmehr das Gehör erst in den frühesten Lebensjahren verloren hat, so daß die Stimme ihre ganz natürliche Klangfarbe erhält und zugleich das Sprachbewußtsein geweckt wird.

In allen Fällen kann sich jedes taubstumme Kind, wie wenig auch seine Sprachwerkzeuge zur Lautsprache befähigt sein mögen, eine solche Kunstfertigkeit im Ablesen des Gesprochenen vom Munde der Andern erwerben, daß es mit Jedermann, ohne Beihilfe von Schrift oder Zeichen, in geselligen Verkehr und Austausch der Gedanken zu treten und in den seltenern und günstigsten Fällen sogar an Vorträgen und Kanzelreden Antheil zu nehmen vermag. Ja wir haben es selbst an mehreren Zöglingen erlebt, daß sie sich im Auslande durch rein mündlichen Verkehr bald die eine, bald die andere Fremdsprache aneigneten, und bei zwei früheren Schülern der Anstalt war die Sprechfertigkeit zu einem so hohen Grad herangereift, daß sie bei der Musterung von dem Kriegsrath als militärtauglich erklärt und nur nach wissenschaftlicher Untersuchung der höchsten Behörden frei gesprochen wurden.

III.

Seit dem neuesten Aufschwung des deutschen Volksschulwesens hat auch die Taubstummenbildung eine immer volksthümlichere Farbe und Richtung genommen und sich ihre Methode bedeutend vereinfacht und verallgemeinert. Theils hat man die Zahl der geschlossenen Anstalten vermehrt, theils wird in den größeren Städten durch besondere Schulen den gesteigerten Bedürfnissen nach Ausbildung Rechnung getragen, so daß sich jetzt von den 250.000 Taubstummen (darunter 50.000 bildungsfähige) 10.000 in den bestehenden Anstalten vorfinden. Diesen Maßstab auf Deutschland angelegt, genießen von 28.000 Taubstummen (wovon 6000 bildungsfähige) kaum 2500 einen geregelten Schulunterricht.

Diese Zahlenübersicht allein schon genügt, um zu zeigen, welch große Aufgabe dem Deutschen Reiche noch obliegt, bis alle bildungsfähigen Taubstummen das Anrecht auf Unterricht genießen. Dieser Mangel an Taubstummenschulen, dem bisher allein das Königreich Württemberg auf die menschenfreundlichste Weise gesteuert hat, ist um so beklagenswerther, wenn man die in der Verwilderung verkommenen und oft zu den größten Lastern und Verbrechen irregeleiteten Taubstummen (in der letzten Schwurgerichtssitzung des Unter-Elsasses saß wieder ein des Vatermordes beschuldigter Taubstummer), [134] mit jenen Glücklichen vergleicht, die sich durch Bildung das Bürgerrecht der menschlichen Gesellschaft erwarben. Ohne von jenen Glanzsternen erster Größe zu reden, die wie Massieu, Berthier, Pelissier in Paris, Kruse in Schleswig, Wille in Berlin als Lehrer, Gelehrte und Dichter sich einen Namen gemacht haben, begnügen wir uns, auf bescheidene Werkstätten hinzuweisen, in denen so mancher redliche und geachtete Taubstumme als Maler, Zeichner, Schriftsetzer, Mechaniker etc. sein Brod zu verdienen und sich seinen eigenen Heerd zu gründen weiß, wofür die in neuester Zeit immer häufigeren, unter Taubstummen geschaffenen glücklichen Ehen in Paris, Lyon, Genf, Basel etc. ein sprechendes Zeugniß ablegen.

Also Heil dem edlen Menschenfreund und hochherzigen Begründer des deutschen Taubstummen-Unterrichts!

Ja leben soll in Aller Munde
Dein Name hoch in später Kunde,
     Du edler Vater Heinicke!
Es ruht dein Werk auf Felsengrunde,
Das du mit Gott, dem Herrn, im Bunde
     Gestiftet und bleibt dauernd stehn!


Schiltigheim bei Straßburg.   Prof. Kilian,
Vorsteher einer Taubstummen-
Anstalt.