Romanzen vom Rosenkranz/Romanze XIII: Tod der Rosarosa

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[209]

Tod der Rosarosa

Wie in dunklen Meereswogen
Ein verbranntes Schiff entmastet
Unterm weiten Himmelsbogen
Traurig steht auf ödem Sande,

5
Wie die Flamme scheu noch lodert,

Von den Fluten rings belagert,
Bis die traurig tote Kohle
Leicht umschaukelt in dem Wasser,

Fern schon ziehn die dunkeln Wolken,

10
Die geübt die böse Rache,

Und die Sterne vor dem Monde
Ziehn heran, unschuldig fragend:

Wo ist hin das segelvolle
Freudge Schiff, so hoch bemastet,

15
Das wie eine Braut die Wogen,

Buhlend mit dem Wind, durchtanzte?

Wo sind hin die Schifferchöre,
Die in feuchten Tauen tanzten?
Ist von all dem stolzen Volke

20
An dem Fels der Ruf verhallet?


Und das Meer spielt mit den Toten,
Mit den Segeln, mit den Masten;

[210]

Sterbend zischen noch die Kohlen,
Und dann schweigt und ruhet alles.

25
Und die Sterne zu dem Monde

Brechen aus in bittre Klagen:
Ach! wo ist die schöne Tochter,
Die uns grüßte mit Gesange?

Die gelöst die goldnen Locken,

30
Ließ in freudgen Lüften flaggen,

Unsern Spiegel in den Wogen
Betend grüßt mit Harfenklange?

Muß sie auch im Wasserschlosse,
Von Untieren rings bewachet,

35
Bei Sirenen und Tritonen

Fern von uns nun sein gefangen?

Also klagen sie dem Monde,
Der zu ihrer Klage lachet
Und das blaue Feld der Wogen

40
Überschüttet weit mit Glanze.


Und was schimmert dort so golden,
Rauschend durch die Wasserbahnen,
Zieht gleich einem Arione
Ruhig durch die Meere, harfend?

45
Heil! Es ist die schöne Tochter;

Sie steht auf dem Wundermantel
Sicher, wie auf starkem Boote,
Und ihr Schleier ist die Flagge.

Und die Sterne freudig horchen,

50
Denn es zieht durch ihre Harfe

Äolus mit süßem Tone,
Daß die Ufer rings entschlafen:

[211]

Also unterm Himmelsbogen
Stand zerstöret das Theater,

55
Um die trüben Säulentore

Schauerten der Wachen Fackeln.

Also in dem Glanz des Mondes
Trat Biondette mit der Harfe
Aus den hohen, dunkeln Pforten,

60
Wie in lichter Geist umwandelt.


Unterm hohen Sternendome
Steht sie auf dem öden Platze,
Unter ihren leichten Sohlen
Knirscht die Kohle auf den Platten.

65
Und zum Monde auf sich wolket

Noch der Rauch des toten Brandes,
Dumpf schallt fernes Wagenrollen
Und es rinnet rings das Wasser.

Und des blauen Reno Wogen

70
Lauter durch die Nacht hinwallen,

Lauter rauschen auch die Bronnen
Siegreich ob dem Feuerkampfe.

Und Biondetta wiederholet:
„Lebet wohl, ihr falschen Farben,

75
Eitler Tränen Regenbogen,

Sterne hell von falschem Glanze,

Ihr dient einem Flittermonde!“
Sprachs, da klang es in der Harfe,
Und zwei hohe, weiße Nonnen

80
Geistig ihr zur Seite standen.


Von dem Schleier ganz verborgen
Schienen sie zwei selge Schatten,

[212]

Winkend, ihnen nachzufolgen,
Sie Biondetten still ermahnten.

85
Eine schweift in einem Bogen

Um sie, Freudenzeichen machend,
Und die andre sah zu Boden,
Traurig ihr Hände faltend.

„Sprechet, was ihr von mir wollet,

90
Fromme Schwestern von Sankt Claren?“

Frug die Jungfrau. Nachzufolgen
Winkend jene sie ermahnten.

Und Biondetta folgt den Nonnen,
Die wie Geister vor ihr wallen,

95
Zu dem Hause Jacopones,

Zu der Rosarosa Lager.

„Sei willkommen mir im Tode!“
Sprach die Kranke, und vom Lager
Hat sie leis ihr Haupt erhoben,

100
Unterstützet von dem Knaben.


„Daß dem Feuer du entkommen,
O, Biondetta, Gott ich danke;
Wolle nun zu meinem Troste
Mir ein Lied zur Harfe schlagen!“

105
Als die Jungfrau harfen wollte,

Sah sie an den blonden Knaben:
„Sah ich heut dich nicht am Bronnen
Mit dem Vogel, mit dem Lamme,

Bei der Jungfrau mit den Rosen,

110
Bei der süßen Rosablanke,

Die heut früh den Kranz geflochten
Für Marien am Altare?“

[213]

Und der Knabe hat gesprochen:
„Reicher als heut am Altare

115
Ward auch hier ein Kranz geflochten,

Und du wirst die Dornen tragen.

Als der Gärtner säte Rosen
In der Buße bittren Garten,
Fiel dein Körnlein in die Dornen,

120
Und du kennst nicht deinen Namen.


Denn du heißest Rosadore,
Jene heißet Rosablanke,
Rosarosa, rote Rose,
Ihr seid aus demselben Stamme!

125
Seid geschenkt der Mutter Gottes,

Als sie vor zwölfhundert Jahren
Auf der sündgen Erde wohnte;
Jetzt erst seid ihr aufgegangen.

Doch noch seid ihr kaum entsprossen!

130
O erscheine, Herr des Gartens,

Hüte deine heilgen Rosen
Und zertritt die falsche Schlange!“ –

„O, Benone, mir zum Troste
Eile!“ nun die Kranke klaget,

135
„Denn es wirft die Lebenssonne

Über mich schon lange Schatten!“

Und der Knabe spricht: „Zum Kloster
Gehe ich, ihn zu ermahnen;
Doch zuvor, o fromme Tochter,

140
Muß ich deiner Treue danken.


Denn ich kann nicht wiederkommmen,
Eh erfüllet sind die Tage,

[214]

Daß wir alle durch die Pforte
Der Barmherzigkeit einwandern.

145
Heil sei dir und ewge Wonne,

Daß in Unschuld du gewandelt,
Und, zu hören Gottesworte,
Kinder gern um dich versammelt!

Viele dich am Himmelsthrone

150
Palmen schwingend schon erwarten,

Und sie singen dort im Chore,
Die du sie gelehrt, die Psalmen.

Heil sei dir und ewge Wonne,
Daß in Unschuld du gewandelt,

155
Daß du dich dem Herrn verlobet

Und die Treue ihm gehalten!

Also ist auch Jacopone
In die Blutschuld nicht gefallen,
Und so bricht der Tod dich Rose

160
Zu der Sühnung ewgem Kranze!


Heil sei dir und ewge Wonne,
Daß in Unschuld du gewandelt,
Und das Kleid der gütgen Toten
Unbeflecket hast erhalten!

165
Den Bußgürtel scharf gedornet

Trugst du still und ohne Klagen,
Und so halfst du, fromme Tochter,
Deiner Mutter Sünde tragen.

Heil sei dir und ewge Wonne,

170
Daß in Unschuld du gewandelt.

Was dir unterm Herzen wohnet,
Hast du nimmer mich gefraget!

[215]

Aber nun vor diesen Nonnen
Öffne ruhig die Gewande,

175
Zeige deines Herzens Rose,

Dieses Siegel deines Stammes!

Und es soll auch Rosadore,
Die man sonst Biondetten nannte,
An des eignen Busens Rose

180
Wahr erkennen ihren Namen.


Heil sei dir und ewge Wonne,
Daß in Unschuld du gewandelt,
Wisse, daß dir stets zu folgen,
Mich mein eigen Heil ermahnte.

185
Denn ich harre der drei Rosen

Länger als zwölfhundert Jahre.
Eine bist du, bald gebrochen,
Bald auch breche ich die andre!

Als der Heiland ward geboren,

190
Hab ich auch das Licht empfangen,

Und ich gab ihm meine Rosen,
Da er spielte mit dem Lamme.

Und er gab mir eine Knospe
Aus den Gräsern seines Lagers,

195
Hat dann liebvoll auch gesprochen:

‚Agnus castus sei dein Name!’

Und wo ich bis jetzt gewohnet,
Sät ich dieser Pflanze Samen,
Ehrt sie höher als Kleinode,

200
Weil der Herr auf ihr geschlafen.


Agnus castus aller Orten
Heißt, wie ich, nun diese Pflanze.

[216]

Weißt du noch, wie ich dir Moose
Sammeln sollte mit den Knaben,

205
Weil du dir bereiten wolltest

Deiner Hochzeit keusches Lager,
Wie ich dir zu deinem Schoße
Nichts als Agnus castus brachte?

Und du hast sie angenommen,

210
Dankend für die Hochzeitsgabe,

So schliefst du und Jacopone
Wie der Herr auf dieser Pflanze.

So hat eurem frommen Wollen
Gern der Heiland beigestanden,

215
Und das Lager deines Todes

Blieb durch ihn der Keuschheit Lager.

Bald steht deines Herzens Rose
Nun im selgen Himmelsgarten
Und schmückt ihm die Dornenkrone,

220
Die er hat für uns getragen!“


Als der Knabe so gesprochen,
Ging er betend aus der Kammer:
„Jesus Christus sei gelobet!“
Und die Sterbende sprach: „Amen!“

225
Doch jetzt nahten sich die Nonnen,

Die verschleiert fern gestanden,
Leis hinschwebend an dem Boden,
Rosarosens Sterbelager.

Und es knieet Rosadore

230
Eingehüllet in den Mantel.

Stille war es, nur der Odem
Wehte und das Licht der Lampe.

[217]

Und die eine sprach: „O Tochter,
Ich bin deiner Mutter Schatten.

235
Weh mir, daß ich es geworden!

Rosatristis ist mein Name.

Und auch du, o Rosadore,
Hast durch mich das Licht empfangen;
Fürchte nichts, erheb vom Boden

240
Deinen Blick, der mich erlabet.


Ach, so kann ich nach dem Tode
Mutterfreuden erst erlangen!
Wie unendlich ist die Wonne
Unergründlichen Erbarmens!“

245
Und nun schweift sie wie ein Vogel

Freudig um das Bett der Kranken,
Und umschwebet Rosadoren,
Streifend kühl durch ihre Haare.

Rosarosens Lebenswoge

250
Hebt sich nochmals Wellen schlagend,

Stumme Freudentränen flossen
Nieder von der bleichen Wange.

Denn sie hört im Ton der Worte
Jene Stimme widerschallen,

255
Die ihr einst das Haupt geschoren,

Ihrer Blöße sich erbarmend.

Durch die Seele Rosadorens
Bebt ein tiefes, süßes Bangen;
Furchtlos hat emporgehoben

260
Sie die Arme nach dem Schatten.


Denn sie sieht in dieser Nonne
Jenes Bildlein ihrer Kammer,

[218]

Das mit ihr gefunden worden,
Das sie stets so wert gehalten.

265
Rosatristis nun voll Wonne

Löst der Kranken Brustgewande,
Daß des Busens heilge Wogen
Schimmernd zu dem Lichte drangen.

Eine rote blutge Rose

270
Rosarosens Brust bestrahlet;

Was ihr unterm Herzen wohnet,
Hat sie so im Tod erfahren.

Während leis zu Rosadoren
Sich die andre Nonne nahte,

275
Und sie sah, die sie erzogen,

Rosalätens heilgen Schatten.

Rührend sprach sie: „Rosadore,
Die ich sonst Biondette nannte,
Teure Jungfrau, zeig die Rose,

280
Die dir gab den neuen Namen.


Lasse, die dich hat geboren,
Meiner armen Schwester Schatten,
Lasse ihres Heiles Rose
Vor ihr blühn im keuschen Garten!“

285
Und in Zucht löst Rosadore

Ihres Mieders goldne Spangen,
Und des Herzens banges Pochen
Hört man durch die Stille schlagen.

Eine kleine goldne Rose,

290
Über ihrem Herz gemalet,

Zeigt im Spiegel ihr die Nonne
Als das Zeichen ihres Stammes.

[219]

Rosatristis spricht voll Wonne:
„O, gesegnet ist der Garten,

295
O, wie herrlich stehn die Rosen,

Und der Herr wird sich erbarmen!

Aber eine weiße Rose
Muß ich traurend noch erwarten,
Sehen darf ich nicht die Tochter,

300
Die unschuldge Rosablanke!“


Und nun hat sie aufgeschlossen
Den Bußgürtel, der die Kranke
Noch umgürtete – da flossen
Ströme Blutes von der Armen.

305
Stürzend in den Arm Meliores

Aus dem Fenster bei dem Brande,
Hatte von des Gürtels Dornen
Tiefe Wunden sie empfangen!

Rosatristis spricht zum Troste:

310
„Du stehst recht im Rosengarten,

Den der Herr bei seinem Tode
Für die Märtyrer gepflanzet.

Deines Blutes jeder Tropfen
Fällt auf meine Seele labend;

315
Heilig hast du es vergossen,

Das in Sünden du empfangen.“

Und sie gürtet Rosadoren
Mit des Gürtels scharfen Stacheln:
„Wolle ihn um mich, du Tochter,

320
Treu wie deine Schwester tragen!


Gebe ihn bei deinem Tode“,
Spricht die Nonne, „Rosablanken!“

[220]

Peinumgürtet steht die Fromme,
Klaglos für die Marter dankend.

325
Und nun sinkt sie mit den Worten

Froh in Rosarosens Arme:
„Laß, o Schwester, deinen Odem
Mich von deinen Lippen fangen!“ –

„Sei willkommen, Todessonne!“

330
Spricht die Kranke liebestammelnd,

„Mir ins Herz mit Siegeswonne
Fallen deiner Augen Strahlen!

Aber, was du mir versprochen,
Singe mir ein Lied zur Harfe,

335
Daß die Seele vor dem Tode

Auf dem Klang vorüber wandle!“

Da ergreifet Rosadore
Geistberauschet ihre Harfe,
Also süße Töne lockend,

340
Daß die Nonnen selig schwanken.


Doch es tritt nun Jacopone
Heftig ein mit einem Arzte:
Der unheilige Apone
Folgt ihm stolz und dreist zur Kammer.

345
Und vom Zug der Tür erloschen,

Starb das Licht der kleinen Lampe.
„Licht her, Licht!“ schreit wild Apone,
„Was tun hier die alten Ammen?“

Denn er sieht die beiden Nonnen

350
Geistig schimmernd bei dem Lager.

Und es eilet Jacopone,
Anzustecken schnell die Lampe.

[221]

Und es folgen ihm die Nonnen,
Geistig rauschend durch die Harfe,

355
Rufen: „Wehe, weh Apone!

Fluch der Schlang und ihrem Samen!“

Und nun griff der Arzt im Zorn,
Und erfasset bei der Harfe
Die versteckte Rosadore,

360
Und die Jungfrau schreit: „Erbarmen!“


„Ha!“ spricht Apo, „sei willkommen,
Schöne Nachbarin! Zu fangen
Solch ein Vöglein ich nicht hoffte
Bei dem Bette einer Kranken!

365
Hat der kluge Jacopone

Dich zu seinem Trost belanget?
Die Juristen bei den Toten
Gerne sich ans Leben halten!“

Und nun will er Rosadoren

370
Scherzend um die Hüfte fassen;

Doch sie war erstarkt im Zorne,
Reißt ihn schmerzlich an dem Barte.

„Also halt ich dich, du Toller,“
Spricht die Jungfrau, „bis die Lampe

375
Wiederbringet Jacopone,

Daß er sehe deine Schande!“

Frech erwidert ihr Apone:
„Wenn du mich nicht fester fassest,
Sind mir eine rechte Wonne

380
Solche Händlein in dem Barte!“


Und nun kehret Jacopone
Mit der Lampe in die Kammer,

[222]

Und es läßt den Bart Apones
Rosadore schamhaft fahren.

385
„Herr,“ spricht sie, „wie magst zum Troste

Deines Weibes du den alten,
Ehrvergessnen Buben holen?
Weh mir, daß ich hier gestanden!“

Aber nun zu Jacopone

390
Spricht mit schwachem Ton die Kranke:

„Um den tröstenden Benone
Bat ich meinen Herrn und Gatten!“

Und er spricht: „Auch er wird kommen,
Jetzt vertrau dem großen Arzte;

395
Dieser Aesculap Bolognens

Wird dich, Theure, mir erhalten.

Conciliator, dich, Apone,
Man ob hoher Weisheit nennet,
Dich versühnend wolle folgen

400
Der Bedeutung deines Namens.“


Aber nun zu Jacopone
Spricht mit schwachem Ton die Kranke:
„Um den tröstenden Benone
Bat ich meinen Herrn und Gatten!“

405
Und er spricht: „Auch er wird kommen;

Jetzt vertrau dem großen Arzte.
Wolle, daß die Kunst Apones,
Teure, dich mir noch erhalte!“

Und zum Arzt spricht er die Worte:

410
„Herrlicher, vergiß des Kampfes,

Der uns trennte oft im Zorne,
Nimm die Hand zum Friedenspfande!

[223]

Dienen will ich deinem Lobe;
Kannst du mir mein Weib erhalten,

415
Geb ich dir zweitausend Kronen,

Geb ich mehr noch, geb ich alles!“

Und zum Lager tritt Apone,
Reißt die Decke von der Kranken,
Doch es stürzt sich Rosadore

420
Über sie mit ihrem Mantel.


Und der Arzt spricht wild im Zorne:
„Was soll hier ich besser machen,
Wo man meiner nur will spotten?
Nackt muß ich die Kranke haben!

425
Über ihrem Herzen drohend

Einen Flecken von dem Brande
Sah ich schwarz. Sie ist des Todes,
Wenn ich sie nicht heilend salbe!“

„Nimmer,“ spricht nun Rosadore,

430
„Sollst du sie berühret haben,

Ihres Herzens heilge Rose
Nimmer sehen, böse Schlange!“

Und erbittert flucht Apone:
„Nun, so will ich sein verdammet!

435
Schöne Buhlrin, dir zum Hohne

Sollst du mir zur Seite wandeln!

Du sollst deine Jungfraukrone
Selber mir ins Haus eintragen,
In den Spuren meiner Sohlen

440
Sollst du liebekrank herwandeln!


Abends an mein Lager kommen,
Deinen Leib mir anzutragen,

[224]

Und mit Füßen weggestoßen
Sollst du in der Brunst verschmachten!

445
In der Kirche, vor dem Volke,

Auf dem offnen vollen Markte
Sollst du mir verbuhlet folgen,
Wie dem Leibe folgt der Schatten!“

Ihm erwidert Rosadore:

450
„Mein wird sich der Herr erbarmen;

Vor dem Fluch, den du geschworen,
Wird er seine Magd bewahren!

Eher sollen alle Rosen
Mit den Wurzeln aufwärts wachsen

455
Und die vollen Liebeskronen

In der Erde Nacht begraben,

Eher all die bleichen Toten
Aus der Tiefe blühend wandeln
Und was lebet an der Sonne

460
Fluchend in die Gräber tragen,


Eh der Mond vom Sternendome
Buhlend in ein Nest voll Drachen
Steigen und im keuschen Schoße
Ungeheure Brut empfangen,

465
Und eh soll die lichte Sonne

Weichen aus des Himmels Bahnen,
Durch der Hölle Tor zu wandeln,
Eh ich tret in deine Pforte.

Ja, eh wird dem Feinde Gottes,

470
Dem satanschen Sündenvater,

Auch ein Gottsohn ausgeboren,
Keusch von einer Magd empfangen,

[225]

Und zu lösen uns vom Tode,
An das heilge Kreuz geschlagen!

475
Gott verzeihe mir die Worte,

Antwort ungeheurer Fragen!

Nein! nein! nein! Du hast gelogen!
O erscheine, Herr des Gartens,
Tritt den Lügner an den Boden,

480
Trete auf das Haupt der Schlange!“


„Kind,“ spricht Apo, „heiße Kohlen
Möchtest auf mein Haupt du sammeln,
Aber mir auch blühen Rosen;
Gut lacht, wer am letzten lachet!“

485
Doch indes fragt Jacopone

Flehend die geliebte Kranke,
Wie sie so viel Blut vergossen?
Und sie hat es ihm gestanden.

Und nun bietet er Apone,

490
Daß er helfend ihm mög raten,

Abermals zweitausend Kronen,
Nimmt das Gold gleich aus dem Schranke.

Jener aber spricht: „Die Dornen,
Die ihr schwer den Leib durchstachen,

495
Wirf in einen tiefen Bronnen

Oder in ein fließend Wasser;

Dann, so wie der Gürtel rostet,
Schließen sich die Wundenmale;
Doch vor allem einen Tropfen

500
Nehme sie aus dieser Flasche!“


Und nun reichet ihr Apone
Eine Flasche; doch die Kranke

[226]

Winkt verneinend mit dem Kopfe,
Und Apone weicht vom Lager;

505
Denn er höret eine Glocke;

Fackelschein erhellt die Gasse,
Weil begleitet von dem Volke
Sich der Leib des Herren nahet.

Mit dem Sakrament gezogen

510
Kommt Benone durch die Straße,

Und die Kranke hebt frohlockend
Und getröstet sich vom Lager.

„Bleibe liegen!“ sprach Apone.
„Willst du dir dein Weib erhalten,“

515
Sagt er dann zu Jacopone,

„Hüt sie vor dem Abendmahle!

Sie stirbt eines schnellen Todes
Bei der letzten Ölung Salbe.
Da ich sie hab übernommen,

520
Werd ich dieses nie gestatten!“ –


„Jacopone, Jacopone,“
Seufzt nun angstbewegt die Kranke,
„Willst du mich zur Hölle stoßen?
Hüte mich vor diesem Drachen!“

525
„Seht, sie raset,“ spricht Apone,

„Sie ist nicht mehr bei Verstande,
Denn sie spricht verwirrte Worte,
Taugt jetzt nicht zu heilgen Sachen!“

Doch nun tritt herein Benone,

530
Nahet sich dem Bett der Kranken,

Und sie spricht: „O Herr, willkommen!
Wolle meine Beicht empfangen!“

[227]

Und der Priester will, es sollen
Alle nun allein ihn lassen.

535
„Rosadore, Jacopone

Mögen bleiben,“ spricht die Kranke.

„Und ich geh nicht,“ spricht Apone,
„Bis der Gürtel liegt im Wasser,
Bis getrunken sie die Tropfen.

540
Wer bringt meine Pflicht zu wanken?“


Und zu weichen hat Benone
Nochmals friedlich ihn ermahnet;
Aber höhnisch ihm der Stolze
In das würdge Antlitz lachet.

545
Nun erst fühlet Jacopone,

Welcher Geist in diesem Arzte,
Und er spricht in schnellem Zorne:
„Weich aus meinem Haus, du Laster!“ –

„Hast du mich mit Schmeichelworten

550
Hergelocket,“ spricht der Arge,

„Bringst du mich mit bösem Trotze
Wahrlich nimmermehr von hinnen!“ –

„Weh uns!“ jammert Jacopone,
„Wer mag diesen Teufel bannen!“

555
Und es nahet Rosadore,

Spricht: „Ich wags in Gottes Namen!“

Und sie zieht gleich einem Dolche
Jene Nadel Rosablankens
Aus dem Haar, das Gold der Locken

560
Fließt, sie rüstend, von dem Nacken.


Und im heilgen Zorne Gottes
Springt die Kranke von dem Lager,

[228]

Und ein Kreuz von rotem Golde
Dienet ihr zur frommen Waffe.

565
Aber beiden reißt Apone

Von dem Busen die Gewande.
Da er sieht die heilgen Rosen,
Fühlt er seine Sinne wanken.

Und er fluchet: „Moles, Moles!

570
Dies ist unser Rosengarten.

Daß er ewiglich verdorre,
Mußt du dich zur Arbeit halten!“

Doch am Fenster ruft Benone
Dem Geleite, und mit Fackeln

575
Dringen sie herauf; Meliore

Tritt einher vor allen andern.

Doch er stehet schwer erschrocken,
Da er Apo sieht, und fraget:
„Meister, lebet ihr hier doppelt?

580
Eben hab ich euch verlassen!


Pietro kam als schneller Bote
Zu dem Vater Rosablankens,
Der erkrankte, euch zu holen,
Und Ihr seid mit ihm gegangen.

585
Habt mir selbst die Hand geboten,

Spracht, daß ihr des alten Hasses
Gänzlich nun vergessen wolltet,
Weil ich brav gelöscht beim Brande.

Dann hast du mich angesprochen

590
Um ein Büschel meiner Haare;

Sprachst: ‚Aus blondem Haar gesponnen
Wird zur Wundennaht der Faden.’

[229]

Und ich gab dir eine Locke –
Sieh, hier fehlt sie mir im Nacken –

595
Folgte weit dir vor dem Tore,

Bis in meines Bruders Garten,

Wo du eintratst, weiße Rosen
Und Arzneikraut einem Kranken
Zur Erquickung gleich zu holen;

600
Dorten hab ich dich verlassen.


Denn es war dort bei den Rosen
Solch ein heftger Duft entstanden,
Daß mir schier gebrach der Odem;
Wankend ging ich aus dem Garten.

605
Jetzt – wie find ich dich hier oben?“

Doch ihn bei dem Arme fassend
Spricht Apone: „Freund Meliore.
Jetzt geleite mich von dannen!

Denn die Gattin Jacopones

610
Will das Sakrament empfangen,

Gönnen wir ihr Raum zum Troste!“
Und nun gehen sie zusammen.

Ihnen folgen, die vom Volke
Mit den Fackeln aufwärts drangen.

615
In den Armen Jacopones

Ruht ohnmächtig noch die Kranke.

Da sie wieder sich erholet,
Segnend ihr der Priester nahet,
Und sie spricht mit leisen Worten,

620
Matt aufrichtend sich vom Lager:


„Der du an der Stätte Gottes,
Höre, wie ich mich anklage,

[230]

Was ich sündlich hab verbrochen,
Seit auf Erden ich gewandelt,

625
Mit Gedanken, Werken, Worten.

Und zuerst nun mit Gedanken:
Ich gedachte, meinem Gotte
Könnt ich Sünderin gefallen.

Und ich sündigte mit Worten,

630
Weil ich Gott nicht Wort gehalten,

Als das Ja ich Jacopone
Treulos gab an dem Altare.

Und mit Werken,“ sprach die Fromme,
„Da ich sprang von dem Theater;

635
Denn ich glaubte fest, des Todes

Würd ich an die Erde fallen;

Glaubt in meinem bösen Stolze
Ohne Sakrament empfangen
Käm ich doch zu meinem Gotte,

640
Sündigte auf sein Erbarmen.


Doch mich nicht verderben wollend,
Hat er mich zur Buß erhalten,
Die von ihm durch dich, Benone,
Ich zerknirschet nun erwarte!“ –

645
„Rosarosa,“ sprach Benone,

„Keiner noch trat ohne Makel
Vor den Thron des ewgen Gottes;
Er wird dein sich auch erbarmen!

In des Vaters, in des Sohnes,

650
In des heilgen Geistes Namen

Sei dir, meine fromme Tochter,
Deine Schuld erlassen! Amen.

[231]

Fühlst du jetzt dein Haus geordnet,
Deinen Herren zu empfangen,

655
Speis ich mit dem Himmelsbrote

Dich zu diesem letzten Pfade.“ –

„Bis zum neuen Morgenrote
Harret noch“, spricht leis die Kranke,
„Einen Bissen weißen Brotes

660
Aß ich heut von einer Armen,


Der durch dich, mein Jacopone,
Ward ihr kleines Feld erhalten
Gen den Anspruch eines Großen;
Sie bracht mir das Brot zum Danke,

665
Bat: ‚O esse von dem Korne

Jetzt aus Liebe zu dem Manne,
Der gerettet mir den Boden,
Dem dies Brot für mich entwachsen!’

Aber hört, die elfte Glocke

670
Schlägt! Noch eine Stunde harret;

Reicht indes zum letzten Troste
Mir des heilgen Öles Salbe!“

Doch nun klaget Jacopone,
Der bis jetzt in stummem Jammer

675
Saß an ihrem Lager oben:

„Weh, o weh, ich muß dich lassen!

O dich, aller Jungfraun Krone,
Keusch und duldend gleich dem Lamme,
Das die Schuld hat hingenommen,

680
Das für uns das Kreuz getragen,


Rosarose, heilge Sonne
Meiner irdisch trüben Tage,

[232]

Firmament voll Lichtessonne,
Ewig gleiche Friedenswage!

685
Herr, was hab ich denn verbrochen,

Daß ich in der Nacht soll wandeln,
Daß aus meines Himmels Dome
Nun erlischt die heilge Lampe?

Weh, o weh, du süße Rose,

690
Dornen dir das Herz zerbrachen,

Die du fromm vor mir verborgen;
Schuldig muß ich mich anklagen!

Weh, ich bins, der dich gemordet,
Blind an jenem Hochzeitsabend,

695
Da durch mich du von den Toten

Hast den Dornengurt empfangen!

Und ich habe zu der Oper
Dich geführet heute Abend:
Weh, durch mich wardst du durchbohret

700
Von dem Gürtel bei dem Brande!


Deine letzte Zeit verdorben
Hab ich dir aus falschem Wahne
Durch den Bösewicht Apone,
Hoffend, dich mir zu erhalten!

705
Ach, ich diene bösem Stolze!

Die ich nie besessen habe,
Die mir ewig war verloren,
Wollt ich mir durch Kunst erhalten!

Weh, mein Weib, du Jugendrose,

710
Auf dem Wasser der Demanten

Spiegelt deiner Schönheit Sonne
Ihres Abendrotes Flamme!“

[233]

Also jammert Jacopone.
Ihm erwidert dann die Kranke:

715
„Wolle nicht mit harten Worten

Gegen Gottes Willen klagen.

Lasse uns den Herren loben,
Daß er uns zurückgehalten
Von dem Abgrund ewgen Todes,

720
Von der Blutschuld hartem Laster.


Wenn der Schleier wird gehoben
Über unserm dunklen Stamme,
Singst du bis zu deinem Tode
Gott und seiner Mutter Psalmen.

725
Seit das Weib den schwer verbotnen

Apfel teilte mit dem Manne,
Bringt das Weib das Kind des Todes
Zu der Welt mit Not und Jammer.

Und wir durch die Güte Gottes

730
Haben schuldlos uns erhalten,

Und er wird uns nicht verstoßen
Aus des Paradieses Garten.

Auch ich muß von diesem Orte
In den Willen des Erbarmers;

735
Dich, bei dem so gern ich wohnte,

Muß ich einsam nun verlassen.

Und du sollst, wie Christen sollen,
Deinem irdschen Gut entsagen,
O, mein Bruder, wolle folgen

740
Eines schwachen Weibes Rate.


Geh in einen frommen Orden;
An die Stelle des Theaters

[234]

Laß erbaun ein heilges Kloster;
Dort auch ruhe meine Asche!

745
Lasse jetzt von armem Volke

Stille mich zu Grabe tragen,
Bis erbauet ist das Kloster
Zur Kapelle bei Sankt Claren.

Und den Schwestern dieses Ordens

750
Dann das neue Kloster lasse,

Weil sie jetzt nur ärmlich wohnen
Und das Haus sie kaum mehr fasset.

Meinen Sarg, geschmückt mit Rosen,
Laß von armen Jungfraun tragen;

755
Lasse auch die Kinder folgen,

Die ich stets geliebet habe.

Allen spende aus zum Lohne
Meine vollen Kleiderladen,
Aus dem Tuch, das ich gesponnen,

760
Lasse allen Hemdlein machen.


Mein Geschmeide, silbern, golden,
Alle Perlen und Demanten,
Die mir deine Huld erworben,
Schenke ich zu dem Altare.

765
Lasse eine Mutter Gottes

Recht vor allen herrlich malen
Und ihr von dem hohen Chore
Himmlische Musik erschallen.

Mit des Weihrauchs süßen Wolken,

770
In wollüstger Düfte Kampfe,

Soll ein Wald unzählger Rosen
Um der Kirche Säulen ranken.

[235]

Kelche, Lampe, Weihebronnen,
Leuchter, Rauchfaß und Monstranzen:

775
Alle seien goldne Rosen,

Durch der Künstler Fleiß gestaltet.

Und die groß und kleine Glocke
Und der Taufstein und die Kanzel
Seien Rosen gleich geformet.

780
O, welch frommer Rosengarten!


Als ich bin getragen worden
Sinnlos weg von dem Theater,
Hat sich ein Gesicht ergossen,
Hab ich diesen Wunsch empfangen.

785
Unter einem hohen Dome

Sah ich Weihrauchwolken wallen
Und Gesang und Klang der Orgel
Durch die Säulenwälder wachsen.

Und ich sah den Greis Benone

790
Eine Totenmesse halten,

Aber alles war voll Wonne,
Alles war voll selgen Glanzes!

Und ich sah viel fromme Nonnen
Einsam betend in der Kammer,

795
Sah sie nächtlich in dem Chore

Himmlische Gebete lallend.

Und vor allen glanzumflossen
Sah ich eine mit der Nadel
Weiße, rote, schwarze Rosen

800
Wirken in die Meßgewande.


Und das Bild der Mutter Gottes,
Gnädig blickend vom Altare,

[236]

Glich dir, meine Rosadore,
Aber heilger, höher strahlend.

805
Und ich selbst lag eingeschlossen

Kühl in einem Marmorsarge;
Auf der schweren Decke oben
Schlief der Knabe mit dem Lamme.

Rings um mich geliebte Tote

810
Schlummerten zum letzten Tage;

Doch kein Sinn war mir verschlossen,
Und ich sah und hörte alles.

Ach, wie mag die Visionen
Alle ich in Worte fassen!

815
Durch der Kirche hohe Bogen

Himmelschöre niederdrangen!“

Und nun sagte Rosadore:
„Ja, des Himmels Tore standen
Über diesem Tempel offen,

820
Von den Seligen umscharet.


Und es stand die Mutter Gottes
Und der Heiland mit dem Lamme
Ganz bekränzt mit süßen Rosen
In des Lichtes ewgem Glanze.

825
Und der Engel Legionen

Sangen: Gnade! Gnade! Gnade!
Tausend Kränze heilger Rosen
Sah ich zum Altare fallen.

Und den Schleier einer Nonne

830
Sah ich nehmen Rosablanken;

Eine Goldflut ihrer Locken
Vor der Schere niedersanken.

[237]

Singend stand ich auf der Orgel,
Vor mir stand die goldne Harfe;

835
Aber stille und gestorben

Lag mein Herz in kalten Banden,

Wie in bösem Traum der Boden
Fliehenden die Füße bannet,
Hilferufenden der Odem

840
Kämpfend in der Brust erstarret.


Lebend und doch eine Tote,
Sehend und doch dicht umnachtet,
Stumm, doch singend vollen Tones,
War ich wie von Stein umfangen.

845
Neben mir stand schwarz Apone.

Weh, o weh, was er gesaget,
Was er sprach vorhin im Zorne,
Füllet mich mit tiefem Bangen!

Doch am Altar aufgezogen

850
Ward ein himmelblauer Mantel,

Und das Bild der Mutter Gottes
Grüßte laut des Volkes Ave.

Und ich hört in meinen Ohren:
Ave, Salve, Mater! schallen,

855
Und aus meinen Augen quollen

Wieder Tränen auf die Wangen.

In der Kirche hohem Dome
Schmetterten die Nachtigallen,
Ganz durchzucket von dem Tone

860
Fühlt mein Herz ich wieder schlagen.


Und ich bin emporgeflogen,
Eine Stimme, singend Ave,

[238]

Bin des Engels Gruß geworden,
Ave, Salve, Dei Mater!

865
Dies Gesicht war mir ergossen,

Da ich sinnlos in der Harfe
Ruhete, von Meliore
Fromm gerettet bei dem Brande.“ –

„Was du sahest, Rosadore,

870
Sah ich alles,“ sprach die Kranke,

„Herr! du hast in Visionen
Wunderbar dich uns erbarmet!“

Und in stiller Wonne schlossen
Beide sich in ihre Arme.

875
Ruhig sprach nun Jacopone:

„Herr, tu mir nach Wohlgefallen!“

Aber nun tritt durch die Pforte
Agnus castus mit dem Lamme,
Knieet betend an dem Boden

880
Neben Rosarosens Lager.


Nach der Sanduhr sieht Benone,
Eine Schelle rührt der Knabe,
Niederknieet Rosadore,
Jacopone bei der Kranken.

885
Beim Gesang des frommen Volkes,

In dem Scheine heller Fackeln,
Hat sie leis das Haupt erhoben
Und des Herren Leib empfangen.

Und dann sprach sie noch die Worte:

890
„Herr, du hast dich mein erbarmet,

Herr, dein Wille sei gelobet,
Meine Seele nun empfange!“

[239]

Mit dem heilgen Öl Benone
Haupt und Hand und Fuß ihr salbet.

895
Und sie sprach: „Des Herzens Rose

Wirft unendlich weiten Schatten!

O der Wonne, o des Trostes,
O des wundersüßen Garten!
Singe, meine Rosadore,

900
Mit des Himmels Nachtigallen!


In dem Schatten meines Todes
Lasse Gottes Lob erschallen!“
Und es sang nun Rosadore
Zu dem Klang der goldnen Harfe.

905
Solch ein Lieb, so selgen Tones,

Hat nur da die Luft getragen,
Als der Heiland ward geboren
Und die Engel Gloria sangen.

Also sang des Lichtes Bogen,

910
Da den Lustkreis aller Farben

Gott durch seinen Raum hinrollte
In dem Glanz des ersten Tages;

Also tönt des Wassers Woge,
Mit dem Rund des Erdenballes

915
Selig spielend in der Sonne,

Jauchzend an dem ersten Tage.

In so süßen Tones Strome
War die Luft aus Gottes Atem
Um die junge Welt ergossen,

920
In der Lust des ersten Tages.


Und die neue Erde rollte
Unter also freudgem Klange

[240]

In den Kreis von Mond und Sonne,
Jubelnd an dem ersten Tage.

925
Also sang das Blut, ergossen

Durch des neuen Menschen Adern,
Also sang der Mensch voll Wonne,
Da er zu der Welt erwachte.

Doch annoch viel höhern Tones

930
Wird das Lied der Selgen schallen,

Wenn sie aus dem Haus des Todes
Zu dem Antlitz Gottes wandeln.

Aber nun zieht mit dem Volke,
Betend bei dem Schein der Fackeln,

935
Nach dem Kloster hin Benone.

Einsam steht der Toten Lager.

Und es küßt ihr Rosadore
Tränenlos die bleiche Wange,
Grüßet scheidend Jacopone

940
Und verläßt ihn mit der Harfe.


Einsam sitzet Jacopone
Auf dem stummen Sterbelager,
In der Toten Demantkrone
Mit des Schmerzes Blick hinstarrend.

945
Keine Träne ihm entrollet;

Seine tiefe Trauer raget
Wie die Wüste öd und trocken
Auf, am Horizont verschmachtend,

Ohne Schatten, und die Sonne

950
Selbst ein tiefer Feuerschatten,

Der sich wie ein weiter Bogen
Über seinen Scheitel lagert.

[241]

Die Gedanken an dem Boden
Schleichend, in dem gleichen Sande,

955
Alle Spuren von dem Odem

Heißen Sturmes stets verwaschen.

An dem Himmel keine Wolke,
An der Erde keine Pflanze,
Auch kein einzger kühler Tropfen

960
In dem ungeheuren Plane.


Also sitzet Jacopone
In der Wüste seines Jammers,
In die helle Demantkrone
Der geliebten Leiche starrend.

965
Aber auf die Schulter klopfet

Agnus castus ihm, der Knabe,
Reicht ihm einen Korb voll Rosen:
„Jacopone, jetzt erwache!

Kränz des Todes Braut mit Rosen;

970
Sie sind aus demselben Garten,

Wo die Rosen ihr gebrochen
An dem ersten Hochzeitsabend.

Nimm ihr ab die Demantkrone,
Die du ihr hast heute abend

975
In das Silberhaar geflochten;

Deiner letzten Pflicht gewarte!

Einst werd ich am rechten Orte
Wunderbare Dinge sagen;
Du wirst, die dir war verborgen,

980
Deines Namens Schuld erfahren.“


Sprachs. – Da jener nahm die Rosen,
Schied er betend aus der Kammer:

[242]

„Jesus Christus sei gelobet!“
Jacopone saget: „Amen!“

985
Als er löst die Demantkrone

Aus dem Strom des Silberhaares,
Ist des Schmerzes Kern gebrochen,
Und des Jammers Quellen sprangen.

Da er ihr den Kranz der Rosen

990
Legte in die Silberhaare,

Sind die Augen in dem Strome
Heißer Tränen ihm vergangen.

Da der arme Jacopone
Ihr die kalten Hände faltet,

995
Ist der Trauring roten Goldes

In die Hand ihm schwer gefallen.

Da er ihr das Aug geschlossen,
Brach er aus in lauten Jammer,
Ganz in einem Tränenstrome

1000
Der Geliebten Antlitz badend.


Als die Nacht war hingezogen,
Stand des Morgensternes Fackel
An dem stillen Horizonte,
Wie ein Irrlicht auf dem Grabe.

1005
Wie in eines ausgestochnen

Auges leere Höhle, zagend
Sah des neuen Tages Sonne
In das Herz des armen Mannes.

Und wie an dem Hochzeitsmorgen

1010
Pietro, sie begrüßend, sagte:

Grüßt sie an dem Todesmorgen;
Jacopone, laut aufjammernd:

[243]

„Grüß dich, blutge Todessonne,
Grüß dich, Held des Unterganges,

1015
Grüß dich, Heiland voller Dornen,

Grüß dich, Sichel meines Gartens!

Grüß dich, lichter Trauerbote,
Grüß dich, Tauestränensammler,
Grüß dich, Wecker aller Toten,

1020
Grüß dich, Feuerheld des Grabes!


Singt die sieben letzten Worte,
Singt sie mir, ihr grauen Schwalben!
Singt ihn mir, den Schild des Todes,
Singt den Held des Unterganges!“

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