Textdaten
<<< >>>
Autor: Eugenie John Marlitt
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Reichsgräfin Gisela
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 1–15, 16–32
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Hinweis: Der Text wird aus technischen Gründen aufgeteilt in I und II.
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
korrigiert
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite


[241]
17.

Die junge Gräfin betrat einen der Waldwege, die Sievert als in das Arnsberger Holz führend bezeichnet hatte. … Mit einer immer wieder aufsteigenden Röthe der Scham und Verlegenheit betrachtete sie ihre schlanke, weiße Hand – sie war zum ersten Mal von Männerlippen berührt worden. … Sie fühlte sich heftig abgestoßen, ja, sie konnte sehr ungehalten werden, wenn irgend Jemand den gefeiten Kreis, den sie durch ihre Zurückhaltung um ihre Person festhielt, eigenmächtig überschritt – bei jeder anderen Gelegenheit hätte sie sicher die attakirte Hand ohne Weiteres in das Wasser getaucht – das war unterblieben – nicht einmal der Gedanke an eine solche „Entsühnung“ war ihr gekommen. … Wo war überhaupt in diesem Augenblick der scharf grübelnde Verstand, mit welchem sie sich gewöhnt hatte, alle Dinge in’s Auge zu fassen? …

Sie schritt nicht mit nachdenklich gesenkter Stirn dahin – nach den Wipfeln flog ihr Blick. Durch das Geäste strömte der kräftige Waldhauch, und wo eine kleine, blaue Himmels-Oase herein lugte in die goldengrüne Dämmerung, da zuckten auch glänzende Pfeile an den Stämmen nieder, um unten im kühlen, buntgefleckten Moos zu verlöschen.

War die hereinfließende Bläue da oben sonniger als sonst? Und hatten die Vögel, die über dem blonden Haupt des Mädchens kreisten, heute schönere Lieder in der Brust?

Es war dasselbe leuchtende, jubelnde Sommerleben, wie es seit Jahrtausenden wiederkehrt – und der Quell, der in diesem Augenblick hoch aufsprang in der ahnungslosen, jungen Seele, er war auch alt – so alt eben wie – die Liebe ist! …

„Ach, die schöne Welt - man sieht sie anders, wenn man – gesund ist,“ dachte die Wandelnde und legte die verschränkten Hände auf ihr klopfendes Herz.

Die Waldwiese war leer, als Gisela zurückkam. Nur der alte Lakai Braun war noch da. Er räumte das Geschirr in die Körbe und berichtete seiner Gebieterin, daß Seine Excellenz infolge eines erhaltenen Telegrammes mit den beiden Damen schleunigst nach dem weißen Schlosse zurückgekehrt sei.

Während er mit tiefgebogenem Rücken referirte, betrachtete Gisela die alte Gestalt zum ersten Mal mit prüfendem Blick. Sie wußte noch recht gut, daß er früher schwarzes Haar gehabt hatte – jetzt war es blendendweiß – er hatte sich allmählich unter ihren Augen verwandelt, ohne daß sie es je bemerkt. … Auch der Papa hatte viele weiße Fäden im Haupt- und Barthaar – sie dachte das völlig ungerührt, während die zwei silberglänzenden Streifen über den Augen und der Schnee auf dem Scheitel des Greises plötzlich eine Art von Mitgefühl in ihr hervorriefen.

„Lieber Braun, ich bitte Sie um ein Glas Milch!“ sagte sie – wie klang das fremdartig von ihren Lippen – sie schrak unwillkürlich davor zusammen – sie hatte ja nie gebeten! …

Der alte Lakai fuhr bei den sanften Lauten empor und starrte seiner Herrin fassungslos in’s Gesicht.

„Nun, ist alle Milch getrunken worden?“ fragte sie gütig lächelnd.

Der Mann lief, so rasch seine alten Beine vermochten, nach dem improvisirten Büffet und brachte auf einem silbernen Teller die begehrte Erfrischung.

„Denken Sie doch, Braun, ich weiß nicht einmal, ob Sie Familie haben,“ sagte die junge Dame und setzte das Glas an die Lippen – sie war verlegner in dieser neuen Situation, als wenn sie das ungewohnte Parquet des Fürstenhofes betreten hätte; denn der alte Mann stand vor ihr, wie wenn er erwarte, jeden Augenblick Himmel und Erde einstürzen zu sehen.

„O gnädige Gräfin, das wäre doch auch nicht der Mühe werth –“ stotterte er.

„Ich möchte es aber gern wissen.“

„Nun ja, wenn gnädige Gräfin befehlen –“ versetzte er ermuthigter, und seine zusammengesunkene Gestalt richtete sich empor. „Ich habe Weib und Kind. Zwei meiner Kinder leben noch – vier liegen auf dem Gottesacker. … Ich hatte auch ein Enkelchen – ein liebes, schönes Kind – gnädige Gräfin, das kleine Mädchen war meine ganze Freude –“

Dem allen Mann stürzte urplötzlich und unaufhaltsam ein Thränenstrom aus den Augen.

„Um Gotteswillen, Braun!“ rief das junge Mädchen bestürzt – wie, diese Augen weinten? … Dieses alle, in seiner Dienstmiene versteinerte Gesicht konnte so herzbrechend vergrämt aussehen?

„Nein, nein, bleiben Sie!“ gebot sie, als der Lakai, sichtlich, entsetzt über das despectirliche Hervorbrechen seines Schmerzes, sich entfernen wollte. „Ich will wissen, was Sie so tief betrübt!“

„Wir haben das Kind vor drei Wochen begraben,“ entgegnete [242] er mit zuckenden Lippen, indem er versuchte, die rapportirende Haltung wieder zu gewinnen.

Gisela erblaßte.

Wie hatte der alte Mann auf der Terrasse des Waldhauses gesagt? „Ihr Herz ist kieselhart! Sie ist gefühllos wie ein Stein gegen ihre Leute!“ Der Unheimliche hatte zum Verzweifeln Recht gehabt! …. Da war nun der unglückliche Mensch täglich in seiner bunten Livree vor ihr erschienen, tadellos in Miene und Haltung, unverändert auch an dem Tage, da der kleine Liebling daheim im Sarge gelegen – immer des Winkes seiner Herrin gewärtig und jeder ihrer Launen sich unbedingt anbequemend – und währenddem hatten unter den devot gesenkten Augenlidern der armen Maschine verhaltene Thränen gefunkelt, und das Herz war fast vergangen im Weh! … Privatleiden durften diese Leute nicht haben dagegen erinnerte sich Gisela noch sehr gut, daß die Dienerschaft lange, lange Zeit die tiefe Trauer um ihre Großmama hatte zur Schau tragen müssen. … Was gab den Hochgeborenen das Recht, andere Menschen in eine so unnatürliche Stellung zu zwingen? … Sie reichten ein Stück Brod von ihrer kalten, isolirten Höhe herab und verlangten dafür eine völlige Hingabe des ganzen Menschen, eine so grenzenlose Selbstverleugnung, deren sie selbst nicht fähig waren. … Und sie hatte dies grausame Spiel des vollendeten Egoismus bisher mitgespielt – ja, sie galt für eine der Schlimmsten! …

Was ihr Gemüth an Innigkeit besaß, das floß jetzt über ihre Lippen – sie suchte den alten Mann zu trösten. … Aber der Sonnenschein in ihrer Seele war verflogen. Nun erst grübelte sie über die finsteren Anklagen des alten Soldaten, und während des ganzen Heimwegs suchte sie zu ergründen, mit welcher Verlorenen, deren „fluchwürdige Hände nun moderten“, er sie wohl verglichen habe! … Die Lösung des Räthsels lag ihr fern, fern! Wie hätte sie die weißen, wundervollen Hände der hochseligen Großmama mit dem gestifteten Unheil, wie ihre erhabene Erscheinung mit der „Erbschleicherin“ in Verbindung bringen können?

Verstimmt und verfinstert trat sie in das weiße Schloß.

Der Ameisenhaufen, der in Gestalt von Handwerkern, scheuernden und fegenden Mägden seit gestern eine sehr geräuschvolle Thätigkeit entwickelt hatte, schien jetzt in eine völlig fieberhafte Aufregung gerathen zu sein. Das unruhige Hasten und Treiben beschränkte sich nicht allein mehr auf den Fremdenflügel im Erdgeschoß, zu beiden Seiten des Vestibüls standen die Flügelthüren weit offen und ließen die ganze lange Flucht der Zimmer übersehen, in denen Tapezirer, Gärtner und Dienstfrauen beschäftigt waren.

Oben im ersten Zimmer, das die junge Gräfin betrat, stand Lena mit hochglühenden Wangen inmitten ganzer Berge von Wäsche und Kleidern und packte verschiedene Koffer – ein Gärtnergehilfe zerstörte die Blumentische, um sie neu zu besetzen, und das Tageslicht fiel blendend durch die hohen Fenster, von denen man die seidenen Gardinen behufs des Abstäubens weggenommen hatte.

Ehe noch Lena ihrer erstaunt auf der Schwelle verharrenden Gebieterin berichten konnte, trat der Minister in Frau von Herbeck’s Begleitung aus einer Seitenthür. Er war sehr echauffirt und hielt Bleistift und Notizbuch in den Händen, offenbar als Hülfsmittel in rasch eingetretenen, sich überstürzenden Geschäften.

„Ach, mein liebes Kind,“ rief er der jungen Dame entgegen – er ließ plötzlich das förmliche, eiskalte ‚meine Tochter‘ fallen und war ganz und gar wieder der zärtlich schmeichelnde Papa von ehedem – „mein Goldkindchen, in welch’ tödtlicher Verlegenheit bin ich Dir gegenüber! … Da telegraphirt mir der Fürst vor einer halben Stunde, daß er schon morgen Abend in Arnsberg eintreffen werde, und zwar mit einem weit größeren Gefolge, als er mir anfänglich angezeigt hat! … Ich bin ganz außer mir, denn ich sehe mich gezwungen … ach Gott, wie peinlich ist mir doch die ganze Geschichte!“ unterbrach er sich selber und fuhr, als wolle er die Widerwärtigkeit abwehren, mit der Hand durch die Luft.

Frau von Herbeck kam ihm bereitwillig und sehr geschickt zu Hülfe.

„Aber mein Gott, darüber sollten sich Excellenz doch nicht so alteriren!“ rief sie. „In solchen Dingen ist unsere Gräfin viel zu vernünftig!“ Sie wandte sich an die junge Dame, indem sie auf Lena deutete. „Sie werden sich denken können, um was es sich handelt, liebe Gräfin! … Bitte, beruhigen Sie Excellenz, den Papa, – Sie sehen, wie außer sich er ist, Ihre Abwesenheit von Arnsberg für einige Tage wünschen zu müssen! … Das Schloß ist viel zu klein und eng für die vielen Menschen – nicht wahr, wir gehen der ganzen geräuschvollen Zeit während des fürstlichen Besuchs aus dem Wege und fahren heute noch nach Greinsfeld?“

Gisela fühlte eine Art von Schrecken … warum wurde ihr plötzlich so weh um’s Herz bei dem Gedanken, Arnsberg verlassen zu müssen? – Wie ein Nebelbild, ihr selbst fast unbewußt, glitt das märchenumhauchte Waldhaus pfeilschnell an ihrer Seele vorüber.

„Ich bin jeden Augenblick bereit zu gehen, Papa!“ sagte sie trotzdem ruhig, in ihrer gelassenen Weise.

„Du siehst ein, mein Kind, daß ich nur der dringenden Nothwendigkeit nachgebe?“ fragte der Minister schmeichelnd.

„Vollkommen, Papa!“

„O, wie dankbar bin ich Dir, Gisela! … Aber nun setze auch Deiner Freundlichkeit und Nachsicht die Krone auf und entschuldige Mama und mich, wenn wir Dir heute nicht einmal ein Mittagsessen anbieten. Mama sitzt mit Mademoiselle Cecile unter Toiletten vergraben und hält großen Rath – sie wird auf ihrem Zimmer essen, und mir bleibt heute nicht so viel Zeit, mich auch nur an den Eßtisch zu setzen. … Ich habe Deinen Koch sofort nach Greinsfeld geschickt – Du findest bei Deiner Ankunft allen Comfort, der in der Eile eben möglich zu machen ist.“

„Nun, dann bleibt nur noch der Wagen zu bestellen,“ sagte das junge Mädchen. „Lena, wollen Sie so freundlich sein und hinuntergehen?“

Die Kammerjungfer erstarrte fast darüber, daß sie so „freundlich“ sein sollte – Frau von Herbeck aber blieb buchstäblich der Mund offen stehen, während sie einen vernichtenden Blick auf die „cajolirte“ Zofe schleuderte.

Gisela knüpfte unbefangen die Hutbänder unter dem Kinn und zog die Handschuhe wieder an, die sie beim Eintreten abgestreift hatte – das sah sehr eilfertig aus.

„Aber Du gehst selbstverständlich erst noch zu Mama, nicht wahr, mein Kind?“ fragte der Minister – er ignorirte die plötzliche humane Anwandlung der Stieftochter vollständig. „Denke doch, mein kleiner Liebling, der Fürst kann möglicherweise über acht Tage bleiben, und während der ganzen langen Zeit sind wir verurtheilt, Dich so nahe zu wissen, ohne Dich auch nur ein einziges Mal sehen zu dürfen!“

„Es steht Dir ja frei, eine Spazierfahrt nach Greinsfeld zu machen, Papa!“ meinte das junge Mädchen gelassen. „Frau von Herbeck hat mir erzählt, daß der Fürst zu Großmama’s Lebzeiten sehr oft in Greinsfeld gewesen ist.“

Die schlaffen Lider fielen plötzlich tief über die Augen Seiner Excellenz – seine bleichen Lippen aber verzogen sich zu einem spöttisch mitleidigen Lächeln.

„Liebchen, das ist wieder einmal die Idee eines Kinderkopfes!“ sagte er. „Was soll Seine Durchlaucht im Hause eines siebenzehnjährigen Backfischchens, – verzeihe, meine Tochter – das noch nicht bei Hofe vorgestellt ist –“

„Bei der Gelegenheit könnte es ja geschehen,“ fiel Gisela leicht erregt ein. „Großmama, die unerbittlich streng auf das Festhalten unserer Standesvorrechte und der damit verbundenen Pflichten gehalten hat, würde sich sehr wundern, daß es überhaupt noch nicht geschehen ist – sie war noch nicht volle sechszehn Jahr, als man sie bei Hofe vorgestellt hat.“

Der Minister zuckte mit einer eigenthümlichen Bewegung die Achseln – seine nähere Umgebung würde damit gewußt haben, daß Seiner Excellenz die Geduld ausgegangen sei – er blieb jedoch scheinbar gelassen.

„Ueberlege Dir selbst einmal, mein Kind, was für eine Rolle Du mit sechszehn Jahren am Hofe zu A. gespielt haben würdest!“ versetzte er kalt. „Uebrigens muß ich Dir gestehen, die Kühnheit überrascht mich einigermaßen, mit der Du Dich neben die Großmama zu stellen wagst! – die brillante, hochgefeierte [243] Gräfin von Völdern und Du, meine Tochter!“ Er hob die Lider – ein sehr ausdrucksvoller, wenn auch unheimlich lauernder Blick fuhr über das Mädchengesicht, wobei eine leisen fahle Röthe in seine Wangen stieg. „Was überhaupt für Hindernisse Deiner Vorstellung bei Hofe entgegenstehen, kannst Du selbst ja gar nicht ahnen!“ fügte er mit großem Nachdruck hinzu. „Die Aufklärung kann und wird für Dich nicht ausbleiben, allein –“

Ein Diener trat ein und meldete, daß die Anwesenheit Seiner Excellenz im Fremdenflügel dringend nöthig[WS 1] sei.

„Nun, da behüte Dich Gott, Kindchen!“ wandte sich der Minister eilfertig, aber mit völlig verändertem, zärtlich väterlichem Ton an Gisela. „Lasse Dir die Zeit in Greinsfeld nicht zu lang werden.“

Er hob den Hutrand der jungen Dame und wollte sie auf die Stirn küssen – sie wich heftig zurück, und die braunen Augen maßen ihn finster und sprühend.

„Närrchen Du!“ lächelte er und strich nichtsdestoweniger mit dem Zeigefinger liebkosend über ihre Wange – die spitzen, weißen Zähne blitzten raubthierartig zwischen den bleichen, einwärts gekrümmten Lippen, und unter den Lidern hervor zuckte es wie ein Wetterleuchten.

Er entfernte sich, und Gisela ging mit Frau von Herbeck, um sich bei der schönen Stiefmutter zu verabschieden.

Die Baronin bewohnte gegenwärtig die Appartements, welche die junge Gräfin als Kind inne gehabt hatte – sie boten die schönste Aussicht im ganzen Schloß.

Ihre Excellenz empfing die Besuchenden in ihrem Ankleidezimmer. Sie blieben einen Augenblick unschlüssig an der Thür stehen; denn es war in der That ein Problem, wie sie zu der Dame gelangen sollten. Mademoiselle Cecile, die sehr vergilbte französische Kammerfrau, hatte die Pariser Kiste ausgepackt, und endlos, wie die Uebel aus der Pandorabüchse, waren Gazewogen und glitzernde Seidenstoffe hervor gequollen. Selbst das Parquet war bedeckt mit Cartons voll Blumen und mit Kästen, aus denen buntfarbige Stiefelchen ihre kleinen Absätze streckten.

Die Baronin stand vor dem Ankleidespiegel und hielt Anprobe – jedenfalls ein blutsaures Geschäft, denn der Kammerfrau, die mit flinken Händen ordnete und arrangirte, standen die Hellen Schweißtropfen auf der Stirn. … Der Pariser Schneider war offenbar mit hoher Intelligenz auf die Ideen der schönen Frau eingegangen – die Toilette repräsentirte den Wald, den frischen, grünen Wald in dem kleinen Kranz von Maiblumen, Erdbeerblüthen und jungen Tannenspitzen, der auf der Stirn der Dame lag, in dem schweren, mit eingewebten Eicheln bedeckten, grünen Stoff, welcher in seinem Knistern an das ferne Rauschen der heiligen Eichen erinnerte. Weniger heilig und dem keuschen Hauch des deutschen Waldes entsprechend war die Form des Gewandes, das ohne Aermel, nur mittels einer schmalen, grünen Spange auf den Schultern zusammengehalten wurde. Wohl traten die alabasterweißen, wundervollen Formen der Arme und des Nackens plastisch hervor – die Frau erschien hinreißend schön; aber es war doch gut, daß sie – keinen deutschen Namen mehr trug.

Die Damen konnten beim Eintreten das Gesicht der Baronin im Spiegel sehen – es strahlte im Triumph; gleichwohl zog sie wehklagend die Augenbrauen zusammen, und um den reizenden Mund glitt ein schmollender Zug, fast im Genre des verzogenen, eigensinnigen Kindes.

„Liebste Gisela, danke Gott, daß Du nicht in meiner Lage bist!“ rief sie, sich umwendend, dem jungen Mädchen entgegen. „Da sieh nur, wie ich mich plagen muß – stundenlang martert diese Mademoiselle Cecile mich arme Creatur! Ich kann kaum noch auf den Füßen stehen!“

Die kleinen Füße waren jedenfalls nicht so treulos, wie ihre reizende Besitzerin verleumderischer Weise behauptete; denn sie stand plötzlich leicht und sicher nur auf dem rechten, hob die Robe ein wenig empor und streckte den linken, mit einem eleganten Schuh bekleideten Fuß graciös hervor.

„Sagen Sie, Frau von Herbeck,“ meinte sie lächelnd, „ist die Toilette nicht süperb?“

Die Askese der Gouvernante hatte mit ihrem „vortrefflichen Geschmack“ nichts zu schaffen, und deshalb pries sie mit überfließenden Lippen und entzückt schwimmenden Augen das Meisterwerk des Pariser Schneiders.

Währenddem hatten die Damen einen Weg ausfindig gemacht und standen jetzt vor der schönen Frau.

„Herzliebste Gisela, was sagst Du nur dazu, daß wir so rücksichtslos sein müssen, Dich nach Greinsfeld zu schicken?“ fragte sie lebhaft.

Gisela antwortete nicht. Sie blickte durch das Fenster hinunter in den Garten; über ihr ganzes Gesicht floß jener zartrosige Hauch, der auch die weiße Rose verschämt aussehen macht – das junge Mädchen sah zum ersten Mal einen jener modernen Damenanzüge, die den Zweck als Hülle völlig verlieren und fast nur noch den Eindruck eines eleganten Rahmens machen, der ein reizvolles, aber schamloses Bild umschließt.

Die schöne Stiefmutter mißverstand das Schweigen und die Verlegenheit der jungen Gräfin vollständig.

„Du bist beleidigt, liebes Herz,“ sagte sie in bedauerlichem Ton – eine Beimischung von Aerger klang aber auch mit; „allein können wir denn anders? … Wir werden ohnehin wie die Häringe zusammengepackt sein in diesem verwünschten Nest, das so weitläufig und großartig aussieht und doch so wenig Platz und Comfort bietet!“

Inzwischen hatte die Kammerfrau verschiedene Etuis geöffnet und begann den Kranz im Haar ihrer Gebieterin und die Bouquets auf dem Kleid mit Diamanten buchstäblich zu bestreuen.

Welch’ eine Pracht funkelte auf dem blauen Sammetpolster der geöffneten kleinen Kästen! Es war eine wahrhaft kolossale Menge der auserlesensten Brillanten, zu deren Anhäufung jedenfalls mehrere Generationen einer Familie und fabelhafte Geldsummen gehört hatten.

„Ah, Großmama’s Brillanten!“ rief Gisela überrascht, aber doch unbefangen, als ihr die Steine entgegenblitzten.

Unmittelbar nach diesem Ausruf stieß die Baronin einen leisen, halbunterdrückten Schrei aus, zog die Schultern in die Höhe und schauerte in sich zusammen wie die berührte Mimose. Sie stampfte leicht mit dem Fuße auf.

„Wie oft soll ich Ihnen noch sagen, Mademoiselle Cecile, daß Sie mir nicht mit den Fingern an die Schultern kommen sollen?“ fuhr sie die Kammerfrau an. „Ihre Hände sind geradezu froschartig – ich verabscheue sie! … Eine perfecte Kammerfrau muß ihre Dame anziehen können, ohne daß sie es merkt – begreifen Sie das noch immer nicht?“

Wie um der unglücklichen gescholtenen Zofe zu Hülfe zu kommen und die erzürnte Frau auf ein anderes Thema zu lenken, griff Gisela nach einem Armband und legte es um das Handgelenk – sie erreichte ihren Zweck vollkommen – die Dame hatte auch während ihres Zornausbruches jedenfalls nicht einen Moment die Stieftochter und die großmütterlichen Brillanten aus den Augen verloren, denn jetzt verfolgte sie mit einem wahrhaft verzehrenden, tigerartigen Blick die Handbewegung des jungen Mädchens.

„Liebes Kind, das macht mir Herzklopfen!“ sagte sie mit nervös bebender Stimme und griff ohne Weiteres nach dem Bracelet. „Du magst nun streiten wie Du willst, Deine Hände haben leider einmal eine krampfhafte Unsicherheit – Du bist im Stande, das Armband fallen zu lassen, und verdirbst mir den Schmuck!“

Gisela heftete die ruhigen braunen Augen erstaunt auf ihre Stiefmutter.

„Ei, liebe Mama,“ sagte sie lächelnd und legte die Linke wie vertheidigend auf das Armband, „wenn Papa Dir die Diamanten zur Anprobe anvertraut hat, so habe ich wohl auch ein wenig das Recht, sie einmal in die Hand zu nehmen. … Uebrigens begreife ich nicht recht, was die Steine hier sollen. Wie oft habe ich Papa um das Medaillon gebeten, das Großmama an einem Sammetband trug – es enthielt das Bild meiner seligen Mama. Er hat es mir stets streng verweigert, weil nach Großmama’s Testament der gesammte Schmuck unter Verschluß bleiben solle, bis ich mündig sei.“

„Ganz recht, mein Schatz,“ entgegnete die Dame langsam, mit schwerer, hohnvoller Betonung – ein wahrhaft dämonischer [244] Ausdruck lag auf dem marmorweißen Gesicht mit den lodernden, dunklen Augen. „Diese Testamentclausel hat Kraft für Dich, nicht aber für mich – und deshalb, Kind, wirst Du mir schon erlauben müssen, das Armband an seinen Ort zu legen, lediglich, damit der letzte Wille der Gräfin Völdern nicht geschädigt werde.“

Die betroffene junge Dame ließ sich widerstandslos den Schmuck vom Anne nehmen – sie war ja so unerfahren, und ihre Rechte hinsichtlich des Mein und Dein hatten sie bisher sehr wenig interessirt. Sie hatte demzufolge augenblicklich keinen Maßstab für die Handlungsweise ihrer Stiefmutter – der beste Helfershelfer für Ihro Excellenz aber war die unbesiegliche Abneigung der Stieftochter gegen die schweren, kältenden Steine, sie war froh, als sie ihre Haut nicht mehr berührten.

Unten war unterdeß der Wagen vorgefahren. Frau von Herbeck, die stumm, aber in der peinvollsten Verlegenheit der kleinen Scene beigewohnt hatte, athmete tief auf, als sich die junge Gräfin mittels einer sehr förmlichen Verbeugung von ihrer Stiefmutter verabschiedete. Sie selbst empfahl sich wortreich und sichtlich erleichtert bei Ihrer Excellenz, während Gisela nach der Thür schritt.

„Apropos, nur noch Eines, Herzenskind!“ rief die Baronin bittend dem jungen Mädchen nach.

Gisela wandte sich in der Thür um und blieb stehen – sie schien durchaus keine Lust zu haben, sich noch einmal durch den bunten Kram und Tand zu winden, über den ihr Blick sarkastisch hinstreifte. Das Licht eines Eckfensters strömte voll über ihre Gestalt – die ganze herbe Jungfräulichkeit, aber auch die entschiedene Verwahrung gegen jegliche Gemeinschaft mit der üppigen Stiefmutter lag in ihrer Haltung. Die schöne Frau ließ sich jedoch nicht abschrecken – sie stand ja auf dem erhabenen Piedestal der Muttersorge und Mutterpflichten.

„Seit ich weiß, daß Du reitest, verzehrt mich die Angst!“ rief sie hinüber. „Nicht wahr, Du versprichst mir, kein Pferd zu besteigen, so lange Du in Greinsfeld bist?“

„Nein, Mama, das Versprechen gebe ich Dir nicht – ich würde es nicht halten können.“

Die Baronin biß sich auf die Lippen. „Kind, Du bist grausam!“ klagte sie schmollend. „Nun muß ich auch noch bei all’ den Strapazen, die mir bevorstehen, in der Angst leben, daß Du über Berg und Thal jagst und eines schönen Tages den Hals brichst!“

„Ich reite nicht so wild und unbesonnen, Mama – und Sarah ist ein frommes Thier!“

„Das will ich ja ganz gern glauben, aber es beruhigt mich noch lange nicht. … Wenn ich z. B. an das unebene Terrain zwischen Greinsfeld und Arnsberg denke, da schaudert mir die Haut – ich, für meine Person, habe es dem Papa stets verweigert, ihn auf der Tour zu Pferde zu begleiten.“

Auf dem fetten Gesicht der Gouvernante erschien ein häßliches, zweideutiges Lächeln.

„Beruhigen sich Euer Excellenz!“ sagte sie mit einem verständnißvollen Blick. „Unsere liebe Gräfin wird sicher ein anderes Terrain für ihre Spazierritte wählen – ich glaube nicht, daß sie sich besonders auf die Gegend zwischen Greinsfeld und Arnsberg capricirt. Auch auf unseren Ausfahrten vermeiden wir, wenn wir nicht gerade nach Arnsberg wollen, den Weg fast immer – er ist zu holperig, wie Excellenz ganz richtig sagen.“

Die Baronin nickte ihr huldvoll und dankbar zu.

„Nun, wenigstens ein Trost!“ seufzte sie auf. „Wenn mir auch die Angst bleibt, so habe ich doch die Beruhigung, Dich nicht auf dem Pferde sehen zu müssen, Du böser kleiner Trotzkopf! … Du versprichst mir fest, daß Du auf Deinen Morgenritten nicht in meinen Gesichtskreis kommen willst, nicht wahr, liebste Gisela?“

Das junge Mädchen bejahte mit sichtlicher Ungeduld. Diese Zärtlichkeit, die auch nicht einen Funken von Sympathie in ihr zu erwecken vermochte, bedrückte sie wie ein Alp, den sie um jeden Preis abschütteln wollte.

„Nun, so geh’ mit Gott, mein Kind!“ rief die schöne Stiefmutter und wandte ihr Gesicht dem Spiegel wieder zu.

Gisela verschwand, und Frau von Herbeck folgte ihr nach einer tiefen Verbeugung gegen die Excellenz am Spiegel.

Die Thür fiel in’s Schloß, und die Dame sank, wie zu Tode ermattet, auf einem Fauteuil in sich zusammen, während sie die Hand über die Augen legte. Daß die kleinen Pariser Maiblumen und Erdbeerblüthen auf dem Kleid bei der heftigen, rücksichtslosen Bewegung alle Frische einbüßen mußten, kümmerte die Hingesunkene nicht – ein nie dagewesener Moment!

Die Kammerfrau schlug stillschweigend die Hände zusammen, aber bei aller Alteration huschte doch ihr Blick schadenfroh und boshaft nach der gestrengen Herrin hinüber. … Das war freilich herzbrechend genug! … Wie oft hatte sie diese wundervollen Steine in das nachtschwarze Haar der schönen Frau versenkt und den stolzen Nacken, den sie selbst nie berühren durfte, mit ihnen geschmückt! … Vor zwei Jahren war die reizende deutsche Excellenz, buchstäblich besät mit Brillanten, auf einem Pariser Balle erschienen – seit jenem erhabenen, unvergeßlichen Augenblick hieß sie in der vornehmen Welt „die Diamantenfee“!

Welche Triumphe, wie viel himmlisch schöne Stunden knüpften sich an diese glitzernden Schätze! Sie hatten den Sieg der Schönheit[WS 2] unzähligemal mitgefeiert! Ihr Funkeln erinnerte an so manche Thräne im glühenden Auge Besiegter, welche die verlockende Diamantensirene durch alle Stadien der Leidenschaft geführt hatte, um sie dann hohnlachend mit dem Fuße fortzustoßen! …

Und nun sollte sie es hingeben, das glänzende Rüstzeug der Koketterie, ohne das sie nicht leben konnte und wollte – sie sollte es hingeben an eine Andere, Jüngere!

Einen Schleier über die Kämpfe in der Seele einer Frau, die mit bunten Steinen um ihrer Seelen Seligkeit würfelt! …

Währenddem verließ die junge Gräfin Sturm das weiße Schloß. Alle die großartigen Vorbereitungen zu glänzenden Festivitäten, die sie hinter sich ließ, berührten sie nicht – sie empfand keinerlei Bedauern. … Was lag ihr daran, den Fürsten von Angesicht zu sehen? Allerdings hatte sie eine unbegrenzte Verehrung für seine erhabene Lebensstellung – die war ihr ja von ihrem ersten Gedanken an fast noch sorgfältiger eingeprägt worden, als die Gottesverehrung – aber sie war auch weit entfernt von dem Kinderglauben der großen Menge, der einen ganz besonderen Stempel auf dem Gesicht der Herren von Gottes Gnaden sehen will.

Ja, sie hatte den Wunsch, dem Fürsten vorgestellt zu werden – aber nur aus Rücksicht auf die Traditionen der alten Geschlechter Sturm und Völdern! Ihre Ahnen waren seit Jahrhunderten in den Banketsälen der Höfe erschienen – sie hatten den Thron umstanden, erlaucht durch die Geburt und durch die Auszeichnung von Seiten der Herrscher! Und diesen Glanz, diese Rechte sollte und mußte die letzte Sturm auch bis zum letzten Athemzug aufrecht erhalten – das war eine heilige Pflicht! … War es wirklich nur der Gedanke an diese Pflicht, infolge dessen sie heute dem Papa den Wunsch nahe gelegt hatte? … Eine tiefe Gluth schoß in ihr Gesicht – sie hatte ein Geheimnis; vor sich selbst – sie flüchtete angstvoll vor den Ausplaudereien ihrer Seele in die Außenwelt. …

Ihre Hand griff in die Aeste der Eichen, unter denen der Wagen langsam hinfuhr – aber wie die schlanken, zackigen Blätterzungen durch ihre bebenden, weißen Finger glitten, da stand es doch wieder da im zitternden Sonnenglanz, inmitten der uralten Eichen, die mit dem funkelnden Wasserstrahl um die Wette flüsterten – das alte, graue, grünumsponnene Waldhaus. … Und die prächtige Gestalt des Portugiesen schritt majestätisch die Stufen herab. … Der alte Mann in der Hausflur sah ihm nach, – auch das Aeffchen auf der Schulter des Edelknaben, und der Papagei schnarrte.

Er ging in das weiße Schloß, der Portugiese mit der geheimnißvollen, weißen Stirn und den heißen, zuckenden Lippen. Er wurde dem Fürsten vorgestellt, und um den wunderbaren Fremdling her standen die eingeladenen Damen vom Hofe zu A. und die schöne Stiefmutter im waldgrünen Kleide, mit dem Kranz von Maiblumen und Erdbeerblüthen über den strahlenden, schwarzen Augen. …

Die Hände des jungen Mädchens sanken jäh in den Schloß zurück, und einzelne abgerissene Eichenblätter rieselten auf den Waldboden nieder. …

[257]
18.

Das weiße Schloß beherbergte seit drei Tagen seinen durchlauchtigsten Gast. Jener üppige Glanz war zurückgekehrt, mit welchem einst Prinz Heinrich die vergötterte Gräfin Völdern umgeben hatte. Der Fürst war in Begleitung mehrerer Cavaliere gekommen, und auch an Damen fehlte es nicht. Was die exclusiven Hofkreise in A. an jugendlichen Schönheiten besaßen, war eingeladen worden – selbst die leidende Fürstin, die ihren Gemahl nicht begleiten konnte, hatte, als ganz besonderen Beweis ihrer Huld und Gnade für den Herrn des weißen Schlosses, „zur Erhöhung des Lüstres“ ihre berühmt schöne und liebenswürdige Hofdame geschickt.

Nun sahen die alten Lindenalleen des Schloßgartens wieder rothe Frauenlippen lächeln in jener strahlenden Lust, die vom überschäumenden Becher trinkt. In dem geheimnißvollen grünen Halbdunkel wiederholte sich das uralte Spiel des Suchens und Fliehens zwischen schönen, glänzenden Gestalten der Jugend, die hinter dem Fächer die verrätherisch leuchtenden Augen und unter oberflächlichem Geplauder das stürmische Klopfen der Pulse verbargen.

Und des Prinzen Heinrich geliebte Orangen- und Myrthenbäume, die einst das keusche Weiß ihrer Blüthen auf die üppigen Schultern und das gelbflimmernde Haar des „unseligen Weibes“ geschüttelt, sie standen auch jetzt in dem kleinen, von eisernen Kübelreifen eingeschnürten Fleckchen Erde vor dem thüringischen Schlosse, das Haupt fremd in die herbe, harzige Waldluft hebend. Zu ihren Füßen rauschten seidene Schleppen; keine süßen italischen Laute, wohl aber Wortpfeile, aus nichts entstehend und doch für einen Augenblick funkelnd und blitzend, flogen durch das dunkle Laub hin und wieder – fürstlich vornehme Conversation, in die [258] sich die weichen Klänge der Morgen- und Abendständchen mischten. Die Lichter des Himmels glitzerten in verlockenden Augen, in Brillanten und in den Fontainen wider – auf den Rasenflächen sprangen die isabellenfarbenen irischen Windspiele des fürstlichen Herrn, und hoch in den Lüften, von den alten Thurmzinnen herab, flatterten Freudenfahnen.

Der Fürst hatte schon am zweiten Tage das Neuenfelder Hüttenwerk besichtigt. Das Etablissement mit seinen mächtigen dampfenden Schloten, seinen neuen Häusern und dem Menschenschwarm, der auf und ab wogte, sah doch zu imposant herüber und hatte bereits einen zu großen Weltruf, als daß es sich noch hätte todtschweigen lassen.

Bei dieser Gelegenheit war auch der neue Besitzer dem Fürsten als Herr von Oliveira vorgestellt worden. Er hatte den hohen Herrn selbst durch das Etablissement geführt, und Serenissimus war bezaubert von dem schönen, distinguirten Mann, „der, mit seinem interessanten Ernst die eleganten Manieren des Cavaliers und Weltmannes so glücklich zu verbinden wußte.“ Es war selbstverständlich, daß sich Herr von Oliveira nun auch im weißen Schlosse Seiner Durchlaucht vorstellte, und es hatte ihm der Fürst selbst zu dem Zweck eine Stunde des nächstfolgenden Tages bezeichnet.

Es war zwei Uhr Nachmittags. Die Sonne hing sengend über dem Neuenfelder Thal, aber unter den Ulmen, die ihre Aeste über dem Gitterthor des Arnsberger Schloßgartens verschränkten, war es kühl und schattig – kühl auch wehte es aus den schnurgeraden Alleen herüber, und fern plätscherten die erfrischenden Wasser der Springbrunnen. Wohlige Lüfte lockten da drinnen, und doch blieb der Portugiese mit fahlbleichem Gesicht, tief Athem schöpfend, vor dem Gitter stehen, und seine Hand sank jäh vom Thürschloß herab, als habe es die ganze Glühhitze der Sonne eingesogen.

Die fahle Blässe wich auch nicht von dem schönen, braunen Antlitz des Mannes, als die Thorflügel kreischend hinter ihm zufielen, als sein Fuß einbog in die Allee, die direct nach dem Schlosse führte. … Flatterten die ruhelosen, abgeschiedenen Seelen unmenschlichern Schloßherren und sündiger Edelfrauen, mit denen der Volksglaube das weiße Schloß bevölkerte, auch bei hellem Tageslicht durch Gebüsch und Alleen? Der einsam dahinwandelnde Fremde sah seitwärts, als schreite ein Etwas neben ihm her, hoch und gewaltig, zu dem er aufblicken müsse – ein Etwas, das ihm schmerzhaft den Athem beklemme und seine Pulse fiebern mache. …

Am Portal standen plaudernd mehrere Lakaien – sie stoben bei Erblicken des Portugiesen verstummend auseinander und verbeugten sich bis zur Erde; ein unbeschreibliches Gemisch von Verachtung und Sarkasmus zuckte um den Mund des Mannes. Einer der Diener flog ihm sofort voraus, um ihn anzumelden – er führte ihn nicht nach dem Fremdenflügel; die Herrschaften hatten sich eben vom Gabelfrühstück erhoben, das in den Appartements der Baronin servirt worden war.

Die lange Zimmerreihe, die einst das Kind Gisela bewohnt, that sich auf. In einem großen Salon räumten eben mehrere Diener den Frühstückstisch ab, der in Silber und Krystall blitzte.

Die Füße des Portugiesen stießen an umhergestreute Champagnerpfropfen – er durfte demnach sicher voraussetzen, in angenehmer Stimmung empfangen zu werden.

Nun trat er in ein Zimmer, dessen Thüren und Fenster mit violettem Plüsch behangen waren – seine Augen glitten unwillkürlich in die Ofenecke – der Fremde, der Südamerikaner, konnte doch unmöglich wissen, daß dort vor Zeiten auf seidenem Kissen der einzige, zärtlich geliebte Freund der kleinen Gräfin Sturm, Puß, die weiße Angorakatze, ihr gehätscheltes Dasein verträumt hatte! … Jedenfalls war die eine der Fensternischen weit interessanter, als die öde Ofenecke dort unter dem weißen Spitzenstreifen hervor, welcher die Plüschgardine besäumte, bog sich der braune Lockenkopf der berühmt schönen fürstlichen Hofdame; sie hatte sich mit einem anderen jungen Mädchen plaudernd in die Nische zurückgezogen, und über Beider Gesichter floß eine jähe Röthe, als der Portugiese grüßend an ihnen vorüberschritt – vielleicht hatten die schönen Lippen eben noch von dem merkwürdigen Fremden geflüstert, der gleichsam im Sturme das hinter strengem Verschluß gehaltene Herz Serenissimi erobert hatte.

Der anmeldende Lakai kam aus dem anstoßenden Zimmer zurück und stellte sich mit einem tiefen Bückling seitwärts, um den Portugiesen eintreten zu lassen – seltsam, da stand die hohe Gestalt mit dem majestätisch getragenen Haupte wie gebannt vor der Schwelle – auf der Stirn erschien ein grellrother Streifen – diese merkwürdig gezeichnete Stirn, verbunden mit einem nervösen Aufzucken der Lippen, gab dem klassischen Profil für einen Moment ein fast diabolisches Gepräge. … Da drin fluthete ein zauberhaft grünes Licht und floß über weiße Marmorgruppen, und in einer Causeuse lehnte die schöne Excellenz im weißen Morgenkleide – ihr leicht und graciös aufgenommenes Haar fiel über das grüne Polster, und die schmalen Kinderhände spielten mechanisch mit einem prachtvollen Granatblüthenbouquet.

„Sonderbar!“ flüsterte die Hofdame erstaunt ihrer Nachbarin zu, als der Portugiese endlich, wie infolge eines plötzlichen, gewaltsamen Ruckes, hinter der Plüschportiere verschwunden war – „der Mann schauderte vor dem Seezimmer – ,er konnte nicht über die Schwelle kommen’, wie die Thüringer Hexengläubigen sagen – ich habe es deutlich gesehen!“

„Das ist leicht zu erklären!“ meinte die zarte, blasse Blondine. „Die gespensterhafte, grüne Beleuchtung da drin macht mir stets Schwindel – ich finde die Idee der koketten Gräfin Völdern entsetzlich!“

Die schöne, in die Causeuse zurückgelehnte Frau wußte jedenfalls den Grund für dieses „Festzaubern an die Schwelle“ am besten – sie lächelte, legte verwirrt ihr Bouquet auf den Tisch Mund erhob sich unwillkürlich.

Der Eintritt des Portugiesen unterbrach eine Art Disputation zwischen dem Fürsten, dem Minister, mehreren Herren des Gefolges und einigen Damen. Seine Durchlaucht stand vor einer der langen Wände des Zimmers und sprach lebhaft. Er begrüßte den Eingetretenen mit freundlichem Aufleuchten seiner kleinen grauen Augen und einem sehr gnädigen Handwinken.

„Mein lieber Herr von Oliveira,“ sagte er in liebenswürdig chevaleresker Weise, „nicht allein das reizvolle Ungebundensein des Landlebens, bei welchem ich gern einmal die strenge Etikette bei Seite lege, sondern auch die Rücksicht für Sie selbst bestimmt mich, Ihnen die erste Audienz gerade hier zu ertheilen. … Aber hüten Sie sich! Das Zimmer übt einen gefährlichen Zauber, und hier“ – er schwieg und zeigte bedeutungsvoll lächelnd auf die neben ihm stehende Damengruppe, zu der nun auch die Baronin getreten war.

„Durchlaucht, ich weiß, daß die Nixen ihre Getreuen zum Wassertode verurtheilen, und bin gewarnt!“ versetzte Oliveira.

Diese mit einem fast finsteren Ernst gegebene Antwort klang überraschend gegenüber der heiteren Stimmung des Fürsten – ja, sie hatte die Wirkung eines Messerstichs für die Baronin – ihr schönes Haupt fuhr jäh herum; sie erblaßte, und scheu lauernd streiften ihre Augen den Portugiesen, allein sein Blick berührte sie nicht, nur das Profil war ihr zugewendet, und das sah aus, wie in Stein gemeißelt.

„Das war so ernst gemeint, mein Herr,“ sagte eine ältere Dame, welche der Portugiese bereits gestern beim Besuch des Hüttenwerkes als Gräfin Schliersen kennen gelernt hatte, „daß ich mich fast versucht fühle, Ihnen den Fehdehandschuh hinzuwerfen, und zwar für meine kleinen Protégées dort“ – sie lächelte und deutete mit dem schlanken, weißen Finger nach der Hofdame und der ätherischen, blassen Blondine, die, angelockt durch den selten schönen Klang der fremden Männerstimme, auf die Schwelle getreten waren. Die zwei graciösen, leicht aufgebauten Mädchengestalten, im hellen, duftigen Morgenkleide und angehaucht von dem grünen Licht, hatten in diesem Augenblick etwas Unirdisches.

„Sie werden mir zugeben, mein Herr von Oliveira,“ fuhr die Gräfin fort, „daß das Seezimmer durch diese Erscheinungen an Charakter gewinnt … wie aber in aller Welt wollen Sie hinter den Kinderstirnen dort mörderische Absichten finden?“

„Ah bah!“ meinte der Fürst heiter, „darüber läßt sich nicht streiten – wer weiß, was für Erfahrungen Herr von Oliveira hinsichtlich böser Nixen an der Laguna dos Patos oder am Mirimsee gemacht hat! … Ich gestatte Ihnen keine Kriegserklärung, beste Gräfin, würde Ihnen aber sehr verbunden sein, wenn Sie Herrn von Oliveira mit den Damen bekannt machen wollten.“

Nun schwirrten eine Menge glänzender Namen an dem Ohr [259] des Portugiesen vorüber, und die reizenden Trägerinnen derselben, die ungeblendet und scheinbar zwanglos den Glanz auf der Menschheit Höhen umflatterten, geriethen fast in Verwirrung den dunklen Augen gegenüber, die sich bei der Vorstellung so ernst und kühl, so völlig unberührt von irgend einem äußeren Eindruck, auf ihr Gesicht hefteten. … Wie unfürstlich erschien Seine Durchlaucht mit der ängstlich gestreckten, militärischen Haltung und der spitzen, jäh zurücklaufenden, ausdruckslosen Stirn neben der machtvollen Erscheinung des Fremden, die fast aussah, als suche sie königliche Abkunft hinter möglichst leichten, ungezwungenen Bewegungen zu verbergen!

Die Baronin hatte wieder rothe Lippen und ein unbefangenes Lächeln, und als ihr Name genannt wurde, berief sie sich auf die neuliche Begegnung im Walde. Ihre biegsame Stimme klang fast melancholisch, als sie des erschossenen Hundes gedachte, – die schöne Excellenz konnte auch barmherzig aussehen. Die vier schwarzen Augen begegneten sich – auf der Stirn des Fremden loderte der rothe Streifen wie ein Feuermaal jäh auf, und die Augen sprühten in wilder Gluth – sie senkte die ihren erschauernd unter dem Ausbruch einer „so gewaltigen, niegesehenen Leidenschaft, die keines Wortes fähig war“.

Die raffinirte Kokette von Geist verbirgt ihre Befriedigung über die ersten Anzeichen eines neuen Sieges beinahe noch sorgfältiger, als das junge, verschämte Mädchen seine erste Liebe. … und so zog sich die schöne Excellenz fast bescheiden mit ihrem Triumph hinter die jüngeren Damen zurück, die ihr bei allem jugendlichen Liebreiz doch nicht mehr gefährlich werden konnten.

„Und nun will ich Ihnen eine Dame vorführen,“ sagte der Fürst zu dem Portugiesen, nachdem die Vorstellung beendet war. Er neigte das Haupt gegen ein Frauenportrait, das einzige an der Wand. „Sie ist und bleibt meine Protégée, obgleich diese wundervollen Formen längst die Erde deckt und mein fürstliches Haus eigentlich alle Ursache hat, mit ihr zu schmollen. … Indeß, sie war eben doch ein himmlisch schönes Weib, diese Gräfin Völdern! … Lorelei, entzückende Lorelei!“

Er hauchte einen Kuß auf Daumen und Zeigefinger der rechten Hand und warf ihn mit einer graciösen Bewegung nach dem Bilde.

Diese Frau hatte in der That wahrhaft genial die dämonische Gewalt ihrer äußeren Erscheinung aufzufassen gewußt. … Der bestrickende Zauber der Wasserfluth, ihr schmeichelnd geheimnißvoller Zug, hinter welchem die Tücke lauert, der uns reizt, unwiderstehlich hinzieht und doch einen Angstschauer erweckt, er ging auch von dieser blendenden Gestalt aus – das Seezimmer und das Bild fanden ihren Ursprung in diesem Gedanken. … Ja, das war die Lorelei! Himmel und Wasser lösten sich fern, fern in einem grünlichen Duft – die Wogen spielten an das einsame Weib heran, und mit ihnen verschmolzen die Spitzen der gelösten Haarwellen – es sah aus, als ströme der Geist, das schauerlich schöne, ergreifende Element, die heranschwellenden Wasser, durch die goldenen Fäden und concentrire sich in dem Frauenkörper, der auf dem muschelbesäeten Strande im Vordergrund ruhte.

„Ich habe vorhin ein wenig den Hausherrn im weißen Schlosse gespielt und das Bild eigenmächtig hierher schaffen lassen,“ sagte der Fürst. „Diese Gewaltthat stößt auf energischen Widerspruch von Seiten der Damen – sie meinen, an die drapirten Wände gehöre kein Bild. … Mag es sein – ich gehe von der Ansicht aus, die Schöpferin dieses verführerischen Zimmers solle und dürfe im Bild nicht fehlen, und so wie es placirt’ ist, macht es sich auch ganz originell.“

Er trat einige Schritte zurück und betrachtete das Arrangement mit prüfendem Auge. Man hatte das Bild aus dem Rahmen genommen; das festgezauberte Stück Himmel und Wasserfläche umrauschten die grünen Seidenfalten – Seine Durchlaucht hatte Recht – gerade sie ließen die Gestalt des hingesunkenen Weibes, die ganze, köstliche Perspective des Hintergrundes gewaltig- und in wahrhaft, packender Wirkung hervortreten.

Serenissimus wandte sich lächelnd an den Portugiesen, während sein Blick noch an dem Gemälde hing.

„Nicht wahr, da begreift es sich leicht, daß ein Mann selbst in der Sterbestunde seine besten Vorsätze über diesen berückenden Augen vergessen konnte?“ fragte er.

„Ich bin außer Stande, mich in eine solche Lage zu versetzen, Durchlaucht, denn ich pflege meine Vorsätze durchzuführen,“ antwortete Oliveira gelassen.

Die kleinen grauen Augen Seiner Durchlaucht erweiterten sich vor Ueberraschung – diese feste, ungeschminkte Sprache schlug rauh an das verwöhnte Ohr, sie wies förmlich den verfeinerten, mit leiser Frivolität angehauchten Ton des fürstlichen Herrn zurück. Indeß, einem fremdländischen Sonderling, welcher Millionen commandirte, und der in Südamerika Besitzungen hatte, an Terrain zweimal so groß wie das ganze souveraine Fürstenthum – einem solchen Original durfte man schon etwas Nachsehen; auch stand ja der Mann, bei aller stolzen Würde seiner Haltung, doch ehrerbietig dem älteren Herrn und Fürsten gegenüber. Die unliebsame Ueberraschung aus dem Gesicht Seiner Durchlaucht verwandelte sich diesen Erwägungen zufolge in ein schalkhaftes Lächeln.

„Da hören Sie es, meine Damen!“ wandte er sich an seine schöne Umgebung. „Vielleicht machen Sie diese traurige Erfahrung zum ersten Mal– die Macht der schönen Augen ist nicht so unbegrenzt, wie Sie denken mögen. … Ich selbst bekenne mich nicht zu diesen unerbittlichen Herzen von Stahl und Eisen – ja, ich begreife sie nicht einmal – aber für mein fürstliches Haus wäre es doch von Vortheil gewesen, wenn mein Onkel Heinrich auf dem ehernen Standpunkt unseres edlen Portugiesen gestanden hätte – was meinen Sie, Baron Fleury?“

Der Minister, der bis dahin schweigend, mit verschränkten Armen neben dem Fürsten gestanden hatte, verzog die bleichen Lippen.

„Durchlaucht, es ist weltbekannt und bedarf wohl keines Beweises mehr, daß sich die guten Vorsätze des Prinzen Heinrich in seiner Sterbestunde lediglich auf die Versöhnung der Herzen, aber durchaus nicht auf ein Umstoßen seiner testamentarischen Verfügungen bezogen haben,“ versetzte er – eine schneidende Beimischung in seiner Stimme vermochte er nicht ganz zu unterdrücken. „Es ist ebenso weltbekannt, daß die Gräfin Völdern, einzig von einem unerklärlichen Ahnungsgefühl getrieben, in jener Nacht plötzlich den Maskenball verlassen hat, um eine Stunde darauf den fürstlichen Freund in ihren Armen verscheiden zu sehen – wer möchte ihn ganz wegleugnen, jenen geheimnißvollen Zug der Sympathie, der in dem Augenblick, wo sich der Geist losringt von der Erde, noch einmal aufglüht und die verwandte Seele gebieterisch zu sich verlangt! … Und zum Dritten ist es ebenso weltbekannt, daß der Prinz bis zum letzten Athemzug im vollen Besitz aller Geisteskräfte gewesen ist, daß die Gräfin während der letzten halben Stunde an seinem Bette gekniet hat und getreulich auf seine Idee, sich mit dem Hofe in A. aussöhnen zu wollen, eingegangen ist – sie war ja nicht eine Secunde allein mit ihm – Eschebach und Zweiflingen haben unerschütterlich bis zu seinem letzten Hauch neben dem Sterbebett des Prinzen gestanden. Er hat noch mit der Gräfin gesprochen, hat Ausdruck für den Schmerz der Trennung gefunden, aber seine Verfügungen hinsichtlich des Nachlasses hat er mit keiner Silbe berührt. … Ich freilich war in dem Irrthum, als ich nach A. ritt – ich glaubte –“

„Dem fürstlichen Hause die Erbschaft zuzuwenden,“ unterbrach und ergänzte der Fürst die erschöpfende Beweisführung. „Wie mögen Sie einen Scherz so tragisch nehmen, bester Fleury? … Würde ich wohl je der Gräfin den Zutritt an meinem Hofe wieder gestattet haben, wenn ich nicht überzeugt gewesen wäre, daß nur ihre verführerischen Augen, nicht aber böswillige Einflüsterungen ihrerseits den Sieg über unsere Rechte davongetragen haben? … Ach was, lassen wir die alten unerquicklichen Geschichten ruhen! … Wie, Herr von Oliveira, beginnt der Zauber zu wirken? Sie haben während der ganzen vortrefflichen Vertheidigungsrede Seiner Excellenz die Sirene dort mit Ihren brennenden Augen fast verschlungen!“

Wäre Serenissimus minder unbefangen in seiner Beobachtung gewesen, so hätte ihm auch der Farbenwechsel auf dem Bronzegesicht des Portugiesen nicht entgehen können. Alle Nüancen zwischen der geisterhaften Blässe und der jähen Flammengluth der Empörung und des auflodernden Grimmes spielten, so lange der Minister sprach, über die braunen Wangen des Mannes hin.

„Ich erliege allerdings in diesem Augenblick einem Zauber,“ entgegnete er mit leicht vibrirender Stimme. „Haben Durchlaucht nie gehört, wie sich die kleinen Vögel verhalten, wenn sie in das Bereich der Schlange gerathen? … Sie erstarren vor der tödtlichen Feindin, die unter den glatten, schillernden Windungen ihres Leibes den teuflischen Verrath verbirgt.“

O mon Dieu, welch’ ein Vergleich!“ rief die Gräfin Schliersen. [260] „Mein Herr, Sie sind bereits verloren – Sie schmähten die Frau, weil – Sie unterliegen!“

Ein sardonischer Zug bebte um die Lippen des Portugiesen – er antwortete nicht.

„Hm – der Vergleich hat doch Grund und Boden,“ lächelte der Fürst. „Herr von Oliveira will sich um keinen Preis besiegen lassen – ich kann es ihm darum nicht verdenken, wenn er seine Niederlage mit dem unerklärlichen Schlangenzauber des Weibes entschuldigt.“ Er trat wieder an das Bild heran. „Ist es nicht ein wahrer Jammer, daß mit dieser Frau die ganze berühmte Schönheit der Völdern erlöschen mußte? … Eh, was macht denn das gelbe, verkrüppelte Geschöpfchen, die kleine Sturm?“ wandte er sich an den Minister.

„Gisela lebt nach wie vor in Greinsfeld, hat den Veitstanz schlimmer als je und erfüllt uns mit der lebhafteste Besorgniß,“ entgegnete Seine Excellenz. „Die Angst um dieses Kind ist der Schatten, der auf mein Leben fällt.“

„Gott, wie lange braucht doch das arme, unglückselige Wesen, um zu sterben!“ rief die Gräfin Schliersen. „Dies ganze erbärmliche, kleine Dasein ist für mich stets ein Problem gewesen. … Wie kamen die bildschönen Eltern zu diesem non plus ultra von Häßlichkeit? … Das heißt,“ setzte sie nach einem momentanen Nachsinnen hinzu. „ich habe merkwürdigerweise trotz alledem in der kleinen unschönen Physiognomie stets und immer wieder die Grundlinien jenes Kopfes finden müssen.“ Sie zeigte nach dem Bild der Gräfin Völdern.

„Welche Idee!“ rief der Fürst, förmlich beleidigt durch den Vergleich.

„Ich sage ja nur ‚die Grundlinien‘, Durchlaucht! Im Uebrigen fehlt selbstverständlich gerade alles das, was einst die Völdern so bezaubernd machte. Das Kind hatte nur einen einzigen Reiz – ein Paar schöner, ausdrucksvoller Rehaugen –“

„Gott bewahre mich, Frau Gräfin!“ fiel die Hofdame lebhaft, fast wie erschrocken ein – „Diese Augen waren schrecklich! … Ich habe als siebenjähriges Kind viel mit der kleinen Gräfin Sturm verkehren müssen – Mama wünschte gerade diesen Umgang sehr lebhaft für mich.“ Sie wandte sich schelmisch lächelnd an den Minister. „Excellenz, damals bin ich immer mit entschiedenem Widerwillen die Treppe im Ministerhotel hinausgestiegen. Ich alterirte mich stets über die kleine Person, die ängstlich mit den Händen nach mir stieß, wenn ich ihr nahe kam. Sie haßte Alles, was ich liebte, Eleganz, Kinderbälle und Puppenhochzeiten … Verzeihen Euer Excellenz, aber sie war das boshafteste Geschöpf, das mir je vorgekommen ist! … Ich erinnere mich, daß sie eines Tages ein Paar entzückender, kleiner Brillantohrringe, die Sie eben von Paris mitgebracht, an die Ohren ihrer Katze gehangen hatte.“

„Nun, das finde ich weniger boshaft, als originell!“ lachte die Gräfin Schliersen. „Ich vermuthe, sie ist nicht ohne Geist, die Kleine. … Apropos, wie wär’s denn, wenn man auf eine Stunde hinüberführe nach Greinsfeld und ihr einen Besuch machte? – Der Gräfin Sturm gegenüber könnte man sich schon zu einer solchen Artigkeit herbeilassen, und der armen Herbeck wäre es auch zu gönnen, daß sie wieder einmal ein Gesicht aus der Welt zu sehen bekäme.“

Die Baronin Fleury hatte sich bis dahin völlig passiv verhalten. Bei der Frage des Fürsten nach ihrer Stieftochter hatte sie das Bouquet ergriffen und ihr Gesicht in die geruchlosen Blüthen versenkt – jetzt aber fuhr sie empor.

„Um Gotteswillen, Leontine, daran ist nicht zu denken!“ rief sie abwehrend. „Mit diesem Besuch würde dem Medicinalrath ein Streich gespielt, den wir nie verantworten könnten! Er befürchtet gerade in diesen Tagen einen heftigen Ausbruch der Anfälle und bietet Alles auf, um jede, auch die geringste Gemüthsbewegung von der Patientin fern zu halten. … Und dann, Du hast ja eben gehört, wie eigensinnig Gisela schon als Kind war. Sie hat ein, ich möchte sagen, galliges Temperament, das selbstverständlich bei dem einsamen Leben, zu welchem sie verurtheilt ist, unmöglich milder und liebevoller werde konnte – die Herbeck leidet schwer unter dem maßlosen Eigensinn und den raffinirten kleine Bosheiten, in denen sich ein solches durch und durch verbittertes Gemüth bekanntlich sehr gefällt! … Fern sei es von mir, Gisela’s Charakter verdächtigen zu wollen – im Gegentheil – ist ein Mensch geneigt, sie zu entschuldigen, so bin ich’s – sie ist ja zu unglücklich! … Ich darf aber auch nicht zugeben daß meine Gäste unter irgend einer Unart in Greinsfeld zu leiden haben, und schließlich – ist mir doch auch dieses Kind viel zu theuer, als daß ich es mit seinem abstoßenden Leiden neugierigen Augen – entschuldige, liebste Leontine – ausgesetzt sehen möchte.“

Die Gräfin Schliersen biß sich auf die Lippen; Seine Durchlaucht aber schien nach dem sehr scharfen Ton, mit welchem die schöne Excellenz geschlossen hatte, ein Auseinanderplatzen der Geister zu befürchten. Er trat rasch zu Oliveira. In dem Augenblick, wo der Name der jungen Gräfin Sturm zum ersten Mal genannt worden war, hatte sich der Portugiese unbemerkt dem Fenster genähert; seine Augen schweiften unablässig über die Gegend, auch nicht ein einziges Mal wandte er den Kopf nach den Anwesenden zurück – vermuthlich langweilte er sich, und Serenissimus mochte wohl fühlen, daß es nicht gerade sehr aufmerksam sei, in Gegenwart eines Fremden Verhältnisse zum Gegenstand der Conversation zu machen, die auch nicht das allergeringste Interesse für ihn haben konnte.

„Sie fühlen Sehnsucht nach Ihrem kühlen, grünen Wald, nicht wahr, mein bester Herr von Oliveira?“ fragte er gütig. „Auch mir wird es nachgerade ein wenig schwül hier. … Gehen Sie, liebe Sontheim,“ rief er der Hofdame zu, „und holen Sie ihr bezauberndes, malvengeschmücktes Hütchen – wir gehen an den See!“

Die Damen verließen schleunigst das Zimmer, während die Herren im Nebenzimmer ihre Hüte suchten.

[285]
19.

„Himmel, was für ein Mann!“ rief die Hofdame draußen im Corridor. „Da können sich unsere sämmtlichen Herren nur verstecken!“

„Ich fürchte mich vor ihm,“ sagte die zarte, blasse Blondine und legte stehenbleibend die gekreuzten schmalen Hände auf die Brust. „Der Mann kann nicht lächeln. … Clemence, Ihr Alle seid blind! Das ist keiner von den Unseren – er bringt Unheil – ich fühle es!“

[286] „Edle Kassandra, so viel wissen wir armen, blinden Sterblichen auch!“ spottete die Hofdame. „Freilich stiftet er Unheil – er macht dem Volke zu viel weis’; aber das giebt sich – lasse ihn nur erst heimisch werden in unserem Kreise! … Es ist wahr, er kann nicht lächeln; was er sagt, das klingt unbeugsam, und sieht aus wie ein Felsblock neben dem elegantes Conversationston unseres Durchlauchtigsten. … Liebste Lucie, diesen Mund lächeln zu machen, den stolzen Sinn zu brechen, alle die gerühmten Vorsätze über den Haufen zu werfen, einzig durch die Liebe – das wäre eine Aufgabe, eine Wonne!“ …

„Probir’s nur und verbrenne Dich!“ entgegnete die Blondine und verschwand hinter der Thür ihres Zimmers, die Hofdame aber fuhr erglühend empor – die Baronin Fleury war unbemerkt auf dem weichen Teppich hinter ihnen hergegangen und maß jetzt die junge Dame vorüberschreitend mit einem langen, spöttisch mitleidigen Blick.

Die schöne Excellenz war bereits zum Spaziergang gerüstet und betrat mit den Herren zugleich das Vestibüle. Die Thüren des Musiksalons standen weit offen, um die kühle Luft der Halle in den sonnenerhitzten Raum einströmen zu lassen. Es sah schwül aus da drinnen – die purpurnen Vorhänge verbreiteten einen gleichmäßigen dunkelblutigen Schein, den nur dann leuchtende Reflexe durchzuckten, wenn draußen der Windhauch einzelne Blätter her Orangenbäume bewegte und dem Sonnenlicht eine Bresche öffnete. Diese Lichtpunkte glitten unheimlich geschäftig über den Plafond und die weißen, mit vergoldeten Ornamenten bedeckten Wände; es lag etwas Beseeltes in dem huschenden Spiel, etwas wie ein Aufleben musikalischer Reminiscenzen – unter ihnen flatterte vielleicht auch jenes Notturno von Chopin, welches einst das Signal zu einem grausamen Verrath gewesen war.

Die Baronin trat rasch, mit ärgerlich gerunzelter Stirn, in den Salon – sie war heute plötzlich von ihren gewohnten Morgenübungen abgerufen worden und hatte vergessen, den Flügel zu schließen.

„O nein, meine Gnädigste,“ protestirte der Fürst, als sie den Deckel ergriff, „der Moment ist zu günstig für mich, der Flügel steht offen und die Noten liegen auf dem Pult – o bitte, nur eine einzige Pièce – Sie kennen ja meine Schwäche für Liszt und Chopin!“

Die Baronin lächelte, streifte aber sofort die Handschuhe ab, warf den Hut auf einen Stuhl und setzte sich an den Flügel. Sie legte das Notenblatt weg und griff präludirend in die Tasten. Das blendend schöne Weib war wie überschüttet von der rothen Gluth, und als die Saiten in stürmischer Gewalt unter den weißen Händen erbrausten, während sie langsam die Wimpern hob und die lodernden Augen wie in trunkener Selbstvergessenheit durch das Zimmer schweifen ließ, da erinnerte dieser Kopf freilich nicht an das keusche Gebild der heiligen Cäcilie, wohl aber an jene trojanische Helena, deren Gestalt noch zu uns herüberdämmert voll bestrickenden Liebreizes, aber auch angestrahlt von der Gluth, welche Dämonen schüren.

Die Herren traten geräuschlos in den Salon und verharrten an der Thür; der Portugiese dagegen hatte das Schloß verlassen er stand draußen unter den Orangenbäumen mit fest zusammengepreßten Lippen und schwerathmender Brust. … Lief nicht eine unverwischbare Linie über diesen weiten Platz hinweg durch die Alleen und weiter, die sumpfigen Wiesen drüben jenseits der Mauer durchschneidend? Eine Linie, geröthet von edlem Herzblut, das weder der strömende Regen, noch die bleichenden Sonnenstrahlen wegzulöschen vermochten? … Da war er ja gewandelt, der muthmaßliche Brandstifter, und neben ihm die hehre, schweigende Gestalt mit dem zu Tode getroffenen Herzen in der Brust! … Scholl nicht durch die rauschenden Accorde da drinnen der schrille Ton der Klingel, mittels dessen der Hochgeborene einst eine Meute elender Bedientenseelen auf das fliehende Brüderpaar hetzte? … Und da drüben starrte die schroffe Felsenkante in die Lüfte – golden floß das Sonnenlicht an den Zacken nieder und in die Ritzen und Spalten hinab, da, wo das verwitternde Gestein seinen eigenen Staub aufspeicherte, kroch das Grün des Waldbodens mit schmeichelndem Fuß. … Und wenn es den ganzen starren Block umwob, es konnte doch nicht die Fußstapfen Dessen verwischen, der einst, die hereinbrechende Nacht über dem Haupte und in der Seele, da droben seinen letzten furchtbaren Kampf gekämpft, während ihm unten die reißenden Wasser bereits das kühle Bett bereiteten, in welchem plötzlich Alles, Alles, das wilde Weh, die Verzweiflung und die nicht zubesiegende Liebe verstummen sollten. …

Ha, ha, ha, und die Frau da drin in dem Zimmer mit den rothglühenden Vorhängen spielte eben wieder Chopin! Sie hatte die Treue gebrochen und einen Mord auf der Seele – aber das gerade machte sie pikant. … Die Herren, die bewundernd um sie her standen, hatten ja alle, ehe sie sich standesgemäß verheirathet, kleine Liaisons gehabt – lächerlich, wer dabei an Sünde denken wollte! Aber ein nicht zu sühnendes Vergehen wäre es gewesen, aus einem solchen Spaß Ernst Zu machen und bürgerliches Element in das blaue Blut zu mischen. Die letzte Zweiflingen hatte mit bewundernswerthem Tact und Standesgefühl das Erniedrigende ihrer sogenannten Brautschaft begriffen und, vollkommen berechtigt, die Kette zerrissen, die sie hinabziehen wollte. Von dem, der darüber zu Grunde ging, sagte man einfach, im Hinblick auf die Motte, die sich an das strahlende Licht wagt und elend verbrennt: „Warum war er so einfältig!“ … Fluch, Fluch und ewigen Haß der ganzen Kaste, die Gottes Gebote und Absichten geradezu auf den Kopf stellt, die sich einen Thron baut aus zertrümmerten Menschenrechten und darüber hinaus in alle Welt ihr Banner flattern läßt mit der hohnvollen Devise: „Mit Gott und Recht.“

Der Portugiese stieß ein dumpfes, heiseres Hohnlachen aus, seine Rechte krümmte sich zur Faust und zuckte hoch in die Luft, als wolle sie mit einem zerschmetternden Schlag wieder niederfallen, während die Kiesel zu den Füßen des empörten Mannes umherstoben – diese kleinen, abgerundeten Steine glänzten in der Sonne und rollten flink und lustig weiter. … Waren nicht auch einstmals die blanken Kupferdreier der kleinen Gräfin Sturm über diesen Platz hingerollt? Und hatte nicht eine unbarmherzige Faust den armen, gebrechlichen Kindeskörper geschüttelt, in welchem ein mißverstandenes, barmherziges kleines Herz schlug? … Aus dem grüngoldenen Halblicht unter den Eichenwipfeln, umsprüht von den funkelnden Tropfen des Wasserstrahles, dämmerte ein Mädchenhaupt mit blond niederwallendem Haar empor, und die blaßrothen, unschuldigen Lippen sagten lächelnd: „Die schlimme Zeit liegt hinter mir.“

Die gehobene Faust des Portugiesen sank schlaff nieder, und seine Linke legte sich über die Augen. Er hörte nicht, wie drin das Musikstück, in welchem ein diabolischer Geist wühlte und sprühende Raketen auswarf, geschlossen wurde; er sah und hörte nicht, daß Frauengestalten an ihn heranschwebten und die feinen Lackstiefeln der Herren mit leisen Sohlen auf den Kies heraustraten. … Eine leichte Hand klopfte schmeichelnd auf die Schulter des „Träumers“.

„Nun, mein lieber Oliveira?“ sagte der Minister.

Der Portugiese fuhr bei dem Klang dieser Stimme empor und wich zurück, als sei die Hand, die ihn berührt, rothglühendes Eisen gewesen. Er stand plötzlich in seiner ganzen Majestät vor der „zutraulichen Excellenz“ und maß den schmächtigen Mann mit einem stolzen Bück von Kopf bis zu Füßen.

„Was wünschen Sie, Fleury?“ fragte er zurück, den Namen ohne jedwede Titelverzierung schwerbetonend.

Die Wangen Seiner Excellenz färbten sich mit einer fahlen, jäh aufflackernden Röthe, und die plötzlich entschleierten Augen, funkelten in maßloser Entrüstung; über die Gesichter der umstehenden Cavaliere aber glitt ein unverkennbarer Ausdruck von Schadenfreude: Sie sämmtlich waren Creaturen des Ministers; bei allem übermäßigen Dünkel auf ihre alten, aristokratischen Namen litten sie es doch stillschweigend, daß der allmächtige Minister ihre Standesattribute in seiner Anrede ignorirte, während sie die „Excellenz“ so ängstlich streng festhielten, wie die „Durchlaucht“ dem Fürsten gegenüber. Sie knirschten in den Zaum, und das Lächeln der Unbefangenheit wurde ihnen blutsauer, aber sie lächelten trotzdem – war doch Seine Excellenz in solch’ zutraulichen Momenten guter Laune und manchem stillen Wunsch zugänglich. … In diesem Augenblick aber hatte er seinen Meister gefunden – die Lehre war ihm zu gönnen.

Er machte ihnen übrigens nicht die Freude, seiner Verblüffung weiteren Ausdruck zu geben – Seine Excellenz bemerkte ja nie eine Niederlage, die zu strafen augenblicklich nicht in seiner Macht lag; er hatte die Antwort nicht verstanden und reichte mit bewunderungswürdiger Gelassenheit der sehr verlegenen Gräfin Schliersen den Arm.

[287] Der Fürst, welcher, die Baronin Fleury führend, achtlos an der kleinen Scene vorüber gegangen war, winkte Oliveira an seine Seite, und während die Gesellschaft langsam durch die schattigen Alleen wandelte, erzählte der Portugiese, von Serenissimus mit ziemlich fühlbarer Neugierde befragt, von seiner brasilianischen Heimath. Alles lauschte schweigend, der Mann sprach zu interessant. Der erste Eindruck, nach welchem dieser merkwürdige Fremde in steter Verneinung, ja, in unausgesetzter Kriegsbereitschaft Anderen gegenüberstand, verschwand vollständig. Die Damen waren bezaubert von dem Klang seiner Stimme, und manchem Cavalier, der nichts besaß als seine Hofcharge und die damit verbundenen ziemlich schmalen Einkünfte, schwindelte bei der Schilderung der großartigen Eisenbergwerke, die, durch einen regelrechten Betrieb ausgebeutet, dem Portugiesen kolossale Summen einbringen mußten.

Auf die Frage des Fürsten, weshalb er Brasilien verlassen und gerade Thüringen zu seinem Aufenthalte gewählt habe, schwieg Oliveira einen Moment, dann sagte er fest, mit einem ganz besonderen Nachdruck, wobei jedoch seine Stimme eigenthümlich bedeckt klang, er werde den Grund Seiner Durchlaucht in einer besonderen Audienz mittheilen.

Der Minister sah überrascht auf, und ein lauernder, tief mißtrauischer Blick hing sekundenlang durchbohrend an dem Profil des Portugiesen, und obgleich der Fürst in diesem Augenblick die Audienz gnädig in Aussicht stellte, konnte doch Jeder, der das Gesicht des Ministers nur einigermaßen kannte, sicher wissen, daß der Tag, welcher diese „besondere Audienz“ bringen sollte, niemals kommen werde.

Jenseits der Schloßgartenmauer blieb der Fürst unter den schattigen Ulmen stehen und betrachtete das Holzgerüst eines neuerbauten Hauses von ziemlich bedeutender Ausdehnung. Es lag, wenn auch nur in geringer Entfernung von Neuenfeld, doch ziemlich isolirt, gleichsam auf dem vorgestreckten Knie des gegenüberliegenden Berges und war wohl heute in seiner Aufstellung fertig geworden, denn ein Mann saß rittlings auf dem Firstbalken und befestigte die übliche Tanne, von deren Wipfel bunte Bänder flatterten.

„Es sieht aus wie ein Schlößchen,“ meinte Seine Durchlaucht. „Soll ein Asyl für arme Kinder werden?“ frug er über die Schulter den Portugiesen.

„Ich baue es zu dem Zweck, Durchlaucht.“

„Hm … ich fürchte nur, sie werden nicht wieder herauswollen, die kleinen Menschen, wenn sie einmal drin sind – ich kann’s ihnen auch nicht verdenken,“ bemerkte einer der Cavaliere; die Gräfin Schliersen aber hob warnend den Zeigefinger.

„Nur nicht verwöhnen, bester Herr von Oliveira!“ sagte sie. „Ich warne Sie lediglich aus Humanitätsrücksichten. Man macht diese Menschenclasse nur unglücklich, wenn man sie mit Ansprüchen erzieht, welche sie in ihrer angeborenen Lebensstellung, über die sie doch nun einmal nicht hinaus können, nothwendig aufgeben müssen.“

Die dunklen Augen Oliveira’s ruhten mit einem sarkastischen Ausdruck unabweisbar auf dem Gesicht der humanen Dame.

„Und weshalb sollten sie nicht über diese Lebensstellung, die da mit anderen Worten Noth, Elend und Entbehrung heißt, hinaus können, meine Dame?“ fragte er. „Haben sie nicht einen Kopf wie wir Alle? Und werden sie diese Mitgift des Himmels nicht genau so brauchen lernen – ich sage nochmals, wie wir Alle, meine Dame – wenn sie die richtige Erziehung und Anleitung erhalten? Schon dadurch allein sind sie vor dem Uebel geschützt, welchem Sie die Bezeichnung ‚angeborene Lebensstellung‘ geben. …. Uebrigens gehe ich auch noch ein wenig weiter – Neuenfeld hat Brod und ein heimathliches Dach für sie Alle, wenn sie später nicht vorziehen sollten, sich selbst draußen in der Welt eine ehrenhafte Existenz zu suchen.“

Niemand erwiderte ein Wort auf diese unumwundene Erklärung. Der Fürst schritt langsam weiter, aber er hatte durchaus keinen Zug der Mißbilligung auf seinem schmalen Gesicht, wie ihn die Gräfin Schliersen vielleicht zu sehen gewünscht hätte. Sie war offenbar eine jener energischen Frauen, die gewohnt sind, sich maßgebend sprechen zu hören, und die ein Thema um so hartnäckiger festhalten, als sie, mit demselben bereits eine Niederlage erlitten.

„Ohne Zweifel schweben Ihnen bei diesem Asyl unsere berühmten evangelischen Rettungshäuser vor?“ wandte sie sich nach einer Pause, stehenbleibend, wieder an den Portugiesen.

„Nicht ganz,“ entgegnete er gelassen. „Im Hauptprincip kann ich nicht mit ihnen gehen, weil ich nicht an die verschiedenen Confessionen rühren will. Ich habe da zum Beispiel gleich vier Judenkinder, die Waisen zweier sehr tüchtigen Arbeiter.“

Diese Antwort fuhr wie ein elektrischer Schlag durch die ganze Damengesellschaft. „Wie, Juden nehmen Sie auf?“ klang es im Chor von all’ den schönen Lippen.

Zum ersten Mal schwebte um den strengen, ernsten Mund des Mannes, „der nicht lächeln konnte“, ein leiser Zug der Belustigung.

„Halten Sie denn den Juden für so bevorzugt vom Himmel, daß er den Hunger weniger fühlt, als der Christ?“ fragte er.

Die Damen, über deren Gesichter sein durchdringender Blick hinglitt, schlugen unwillkürlich die Augen nieder.

„Jene zwei israelitischen Männer sind mit der heißen, dringenden Bitte auf den Lippen gestorben, daß ihre Hinterlassenen dem Glauben ihrer Väter nicht entfremdet werden möchten,“ setzte er tiefernst hinzu. „Ich ehre diesen letzten Willen und werde nicht dulden, daß man den Kindern einen anderen Glauben octroyirt.“

„O mein Gott,“ rief die Gräfin Schliersen empört, „liegt denn diese nicht genug zu verurtheilende Toleranz in der Luft des Neuenfelder Thales? … Da drüben predigt ein protestantischer Geistlicher unausgesetzt ‚Liebet Euch unter einander‘, und fragt viel danach, ob er zu Türken, Heiden und Juden spricht – und Sie? … Ach verzeihen Sie – ich vergaß – als Portugiese sind Sie ja jedenfalls Katholik?“

Abermals leuchteten die Augen des Mannes in einer Art von spöttischer Heiterkeit auf.

„Ah, Sie wünschen mein Glaubensbekenntniß, Frau Gräfin?“ fragte er. „Nun denn, ich glaube fest und unerschütterlich an einen allliebenden Gott, an die Unsterblichkeit meiner Seele und an meinen Beruf als Mensch, der mir die Pflicht auferlegt, mich der Mitwelt so nützlich zu machen, wie nur irgend in meiner Macht liegt. … Und was jenen protestantischen Geistlichen da drüben betrifft, so möchte ich Sie doch bitten, ein wenig vorsichtiger in Ihrem Urtheil zu sein – der Mann ist ein tadelloser Christ!“

„Davon haben wir uns nicht überzeugen können,“ warf der Minister mit gleichgültiger, aber scharfzugespitzter Stimme ein – seine Lider lagen tief über den Augen, und gaben der Physiognomie etwas unbeschreiblich Verächtliches. „Er ist ein erbärmlicher Prediger und giebt den gläubigen und heilsbedürftigen Seelen durch seinen saloppen Vortrag unausgesetzt Aergerniß. … Wir haben uns veranlaßt gesehen, ihn von der Kanzel zu entfernen.“

Die so völlig herz- und seelenlose Stimme, deren Klang darauf berechnet war, zu reizen, verfehlte ihre Wirkung nicht – die braunen Wangen des Portugiesen färbten sich dunkelroth und seine vornehm kühle Haltung schien ihm für einen Augenblick treulos zu werden, aber er bezwang sich.

„Das weiß ich,“ sagte er anscheinend gelassen. „Excellenz werden nach bestem Ermessen gehandelt haben. … Trotzdem möchte ich mich an die Gnade des Durchlauchtigsten Fürsten wenden und bitten, daß dieser Fall noch einmal in Erwägung gezogen würde. … Bei näherer Beleuchtung dürften sich diese gläubigen und heilsbedürftigen Seelen lediglich auf eine herrschsüchtige Frau und einige wegen Untreue und Arbeitsscheu aus dem Hüttenwerk entlassene Arbeiter reduciren –“

„Ein ander Mal, ein ander Mal, lieber Herr von Oliveira!“ unterbrach ihn der Fürst heftig abwehrend; seine kleinen, matten Augen streiften scheu und ängstlich das Gesicht des Ministers, auf welchem sich jetzt der tiefste Ingrimm unverhohlen spiegelte. „Ich bin hier, um mich zu erholen, und muß Sie dringend bitten, nichts Geschäftliches zu berühren – erzählen Sie uns lieber von Ihrem wundervollen Brasilien.“

Der Portugiese trat wieder an die Seite des Fürsten.

„Die Razzia auf diese im alten Schlendrian versunkenen, unverbesserlichen Geistlichen ist eine Ihrer vortrefflichsten Maßregeln, Excellenz – sie wird in den Annalen unseres Landes glänzen!“ sagte die Gräfin Schliersen zu dem Minister.

Diese Frau mußte doch das letzte Wort haben, und es war lediglich für die Ohren des Portugiesen bestimmt. Der Mann [288] stand mit beiden Füßen in einem aufgescheuchten Wespennest, und der gereizte Schwarm tobte und brauste um sein Haupt, allein dieses Haupt mit dem Ausdruck tödtlicher Verachtung in den Zügen saß majestätischer als je auf den Schultern; mit leise durchklingendem Spott erzählte er dem ängstlichen Landesherrn von den herrlichen Schmetterlingen und den berühmten, kostbaren Holzarten Brasiliens, von den Topasen und Amethysten, die auf seinem eigenen Grund und Boden in bedeutender Menge gefunden wurden – und damit war man wieder im alten Fahrgeleise der harmlosen Conversation, wie sie die einzig schickliche war auf diesem heiklen Boden, der das Kräutlein ,Rühr’ mich nicht an‘ so üppig wuchern und gedeihen ließ.

[302]
20.

Die Damen hatten anfänglich beabsichtigt, auf dem See zu fahren, allein der Fürst schritt, in Oliveira’s Schilderungen versenkt, achtlos am Ufer hin und betrat den Weg nach der Waldwiese – die Damen folgten wie magnetisch angezogen durch die erzählende Stimme. Beim Eintritt in den Wald hatten sie die Hüte abgenommen; sie flochten sich Glockenblumen, rothblühende Feldnelken und den wilden Hopfen mit seinen halbentwickelten, glöckchenartigen Zapfen in das Haar. … Wie taubenhaft unschuldig sahen sie aus in ihren fleckenlos weißen Gewändern, mit den jungen, frühlingsfrischen Gesichtern unter den nickenden Waldblumenglocken – und doch waren diese scheinbar kindlichen, unbefangenen Herzen bereits vortrefflich geschult und einexercirt nach dem feudalen Reglement, und zwischen ihnen und der übrigen, nicht hoffähigen Menschheit lag eine nie zu überbrückende Kluft voll Eis und tödtlicher Kälte.

Auf der Waldwiese angekommen, legte die junge hübsche Frau eines Cavaliers eine kleine Guirlande um den Strohhut ihres Gemahls; der Fürst bemerkte es und reichte lächelnd auch seinen Hut hin – das war das Signal zu einer allgemeinen Bekränzung. Die jüngeren Damen flatterten umher wie die Schmetterlinge und plünderten den Waldboden; es wurde viel gescherzt und gelacht – harmloser und naiver konnten sich auch die Dorfkinder nicht im frischen grünen Wald umhertummeln als diese blumensuchenden Hochgeborenen.

Der Portugiese hatte dem Tumult den Rücken gewendet; er stand mit rückwärts gekreuzten Händen vor der erzenen Büste des Prinzen Heinrich und studirte scheinbar mit großem Interesse die Züge des grünüberlaufenen fürstlichen Kopfes. Was keine der jungen Damen dem düsterernsten Mann gegenüber wagte, die Hofdame unternahm es. Sie trat geräuschlos an Oliveira’s Seite und hielt ihm mit einem schalkhaft bittenden, wenngleich schüchternen Blick die schmale weiße, mit Blumen gefüllte Hand hin. Das wäre wohl ein Moment gewesen, um auf diesen streng geschlossenen Mund ein Lächeln, in die dämonisch dunklen Augen ein freundliches Aufleuchten zu zaubern – vergebens – das Bronzegesicht veränderte sich nicht; wohl aber nahm er mit einer tadellos ritterlichen Verbeugung den Hut vom Haupte und reichte ihn dem jungen Mädchen hin. Sie eilte zu dem Damenkreis zurück, und der Portugiese folgte ihr langsam. Die ganze Gruppe stand inmitten der Waldwiese. Die kleine Lichtung erschien von diesem Punkt aus wie ein Stern, dessen Strahlen als schmale Wege in den Wald hineinliefen – der Blick konnte nach allen Richtungen hin in die gründämmernden Laubgänge dringen.

Oliveira’s Hut ging von Hand zu Hand, jede der Damen schmückte ihn mit einer Blume; zuletzt blieb er in den Händen der Baronin Fleury. Mit einem lächelnden Aufblick nach dem Portugiesen, der unfern von ihr stand, befestigte sie eine prachtvolle azurblaue Campanula und war eben im Begriff, den Hut zurückzugeben, als sie plötzlich wie versteinert stehen blieb und aufhorchte. Augenblicklich verstummte auch das Geplauder und Summen aller Stimmen – man hörte die dumpfdröhnenden Hufschläge eines herangaloppirenden Pferdes. … War es ein scheugewordenes Thier, das durch den Wald raste? … Es blieb [303] kaum Zeit, diesen Gedanken auszudenken, als auch bereits das Pferd auf dem Greinsfelder Wege herbrauste. Von seinem Rücken flatterte, wie eine leichte Sommerwolke, ein weißes Damenkleid, und über den hochaufbäumenden Kopf des Thieres hinweg wehte gelöstes blondes Haar. Auf Roß und Reiterin fielen aus den Wipfeln goldene Lichter nieder, und diese funkelnden, auf- und abhuschenden Flecken machten die jäh hervorstürzende Gesammterscheinung fast grauenhaft schön.

Die Damen stoben schreiend auseinander.

„Mein Gott!“ stieß der Fürst hervor – der alte Herr taumelte förmlich zurück, die Baronin Fleury aber streckte wie sinnverwirrt abwehrend ihre Arme aus.

„Kehre um, Gisela ich beschwöre Dich!“ rief sie völlig fassungslos. „Ich kann Dich nicht sehen! … Die Angst tödtet mich!“

Allein da stand schon das Pferd, ein schöner Araber, wie festgemauert mitten auf der Wiese; der Schaum floß vom Gebiß, und die Nüstern flogen – ein einziger Ruck seiner Herrin, die auf seinem nur mit einer leichten Decke gesattelten Rücken saß, hatte es zum Stehen gebracht.

„Greinsfeld brennt!“ rief sie hinab, ohne das halbwahnwitzige Gebahren der Stiefmutter zu beachten – ihr schönes Gesicht war todtenbleich.

„Das Schloß?“ fragte der Portugiese – er war der Einzige, der scheinbar seine Ruhe behauptete – alle Anderen standen so gänzlich bestürzt und fassungslos, als habe eine gewaltige Faust die überraschende Erscheinung aus dem Erdboden gehoben.

„Nein – im Dorfe brennen mehrere Häuser zugleich!“ antwortete das junge Mädchen mit halberstickter Stimme und warf die prachtvollen Haarsträhne zurück, die ihm über den Busen gefallen waren.

„Und um deswillen machst Du einen solchen tollen Ritt? … Wahnsinnige!“ rief der Minister maßlos empört, während sich der Portugiese mit einer tiefen Verbeugung und einigen Worten von Seiner Durchlaucht verabschiedete und gleich darauf im Walde verschwand.

Fast schien es, als habe die junge Reiterin von allen Anwesenden nur diesen Mann bemerkt; bei seiner Frage hatte sich ein wahres Rosenlicht über ihr blasses, erschrecktes Gesicht ergossen, und mit dem Verschwinden der hohen Gestalt erlosch es sofort.

Jetzt kam aber auch Leben in die erstarrte Versammlung – die Herren, unter ihnen die Gräfin Schliersen, umringten stürmisch Pferd und Reiterin; und wenn auch die jüngeren Damen infolge unliebsamer Ueberraschung und eines sehr erklärlichen Unbehagens sich fern hielten, so hingen doch alle diese schönen Augen mit wahrhaft verzehrender Spannung an dem Gesicht der jungen Einsiedlerin, die „der boshafte Zufall“ so unvorbereitet und plötzlich mitten in den Hofkreis hineinwarf. … Wie, die Erscheinung, die so ätherisch leicht da droben schwebte und doch mit so kühner und kräftiger Hand ihr Pferd beherrschte; sie sollte das verkrüppelte, gelbe Geschöpfchen sein, welches nach Aussage der Stiefeltern in tiefster Einsamkeit eines langsamen Todes starb? … Vor diesen wundervollen, keuschen braunen Mädchenaugen wollte sich einst die schöne Hofdame gefürchtet haben? Und hinter der leuchtenden, vom schönsten Blondhaar umflatterten Stirn sollte maßlose Bosheit brüten?

„Liebste Jutta, Du hast uns einen reizenden Fastnachtsschabernak gespielt!“ sagte die Gräfin Schliersen in ihrem beißendsten Ton zu der schönen Excellenz. „Zu Deiner Genugthuung will ich Dir gestehen, daß ich überrascht bin, wie noch nie in meinem Leben. … Deine schmerzliche Entrüstung über meine ,neugierigen Augen’ war aber auch zu gelungen!“

Die Baronin erwiderte auf diese Bosheit kein Wort. Sie sah aus wie ein Geist mit ihren schneeweißen Lippen und Wangen, hatte aber ihre Fassung vollständig wiedergewonnen. Sie schlug die dunklen Augen vorwurfsvoll zu der Stieftochter auf.

„Mein Kind – Gott mag Dir verzeihen, was Du mir angethan hast!“ sagte sie in weichen Tönen. „Diesen Augenblick verwinde ich nie! … Du weißt, daß es mir namenlose Angst macht, Dich auf dem Pferde zu wissen! Du weißt, daß ich fortwährend für Dein Leben zittere! … Was hattest Du mir versprochen?“

Gisela’s Blick war einen Moment verschüchtert über alle die fremden Gesichter hingeglitten – jetzt aber sprühten die braunen Augen auf.

„Ich hatte Dir versprochen, nicht in Deinen Gesichtskreis zu kommen, Mama!“ versetzte sie. „Aber soll ich mich denn wirklich rechtfertigen, daß ich mein Versprechen nicht halten könnte, weil ich Hülfe für mein armes Dorf holen muß? … Unsere Leute sind auf dem Jahrmarkt in A.; nur der alte Braun, der nicht reiten kann, und der lahme, kranke Stallknecht Thieme sind zu Hause. … Im Dorfe ist nicht ein einziger Mann – die Leute arbeiten ja fast alle in Neuenfeld – Frauen und Kinder laufen schreiend und rathlos um die brennenden Häuser –“

Sie verstummte – das ganze Entsetzen, das sie auf ungesatteltem Pferd über Berg und Thal getrieben, kam wieder über sie, und wenn auch ihr Aufenthalt auf der Wiese sich kaum auf wenige Minuten erstreckte, diese Minuten waren doch verloren …. Sie mußte weiter von all’ Denen, die sie umstanden, rührte auch nicht Einer Hand und Fuß; die vornehmen Herren schienen es nicht gehört oder bereits vergessen zu haben, daß es da drüben hinter dem Walde brannte. … Jener verächtliche Zug, welcher auch einst das schöne Gesicht der Gräfin Völdern charakterisirt hatte, bog ihre Mundwinkel herab. Ihr Blick flog über die Köpfe hinweg nach dem Neuenfelder Weg – man sah, sie war im Begriff, den Kreis, der sie umringte, ohne Weiteres zu sprengen.

Wären nicht Aller Augen beharrlich auf die Reiterin gerichtet gewesen, dann hätten diese Hofschranzen ein Schauspiel haben können, für sie vielleicht interessanter noch, als die „hereingeschneite Schönheit“ auf dem Pferde. Der Minister, dieses Urbild eines Diplomaten, Seine Excellenz mit der ehernen Stirn, an der alle Angriffe wirkungslos abprallten, der Mann mit den schlaffen Augenlidern, die sich hoben und senkten, wie der Theatervorhang, um gerade nur das zu zeigen, was gesehen werden sollte – der gewaltige, gefürchtete Minister war augenblicklich schwächer als seine gewandte Gemahlin; er rang, vergebens nach äußerer Ruhe, und Fassung – er konnte weder die fahle Blässe, noch den verzweifelten Grimm von seinen Zügen wegwischen.

Bei der Bewegung des jungen Mädchens griff er mit rauh zufassender Hand in die Zügel des Pferdes, und ein dämonisch wilder, furchtbar drohender Blick traf ihr Auge. … Sie erbebte er hatte sie vorhin in Bezug auf ihre Handlungsweise eine Wahnsinnige genannt – er hielt offenbar seine gräfliche Stieftochter in den Augen des Hofes für compromittirt, weil sie um einiger elender, zusammenprasselnder Schindeldächer willen ihre Standeswürde und die strengen Gesetze der Etikette achtlos bei Seite setzte – er wollte sie an einer weiteren „Tollheit“ verhindern – was kümmerte ihn der verzweifelnde Jammer da drüben in dem Nest, über dessen Wohl und Wehe die gehorsame Stieftochter früher mit denselben gleichgültigen Augen hinweggesehen hatte wie er?

Infolge dieser blitzschnell kreisenden Gedanken flammten die Augen der jungen Gräfin auf. … Seine Excellenz hatte die Kraft in diesen schmalen, weißen Händen, unterschätzt – mit einem einzigen Rucke zog sie den Zügel gegen sich, das Pferd stieg kerzengerade in die Höhe, und die Umstehenden wichen erschrocken zurück.

„Papa, Du wirst mir erlauben, nach Neuenfeld zu reiten,“ sagte sie sehr energisch, wenn auch ohne alle Heftigkeit, und hob die Reitgerte, um das Thier anzutreiben – in demselben Augenblick krachte ein Schuß dumpf herüber.

„Aha, der erste Alarmschuß in Neuenfeld!“ rief der Fürst. „Herr von Oliveira muß geflogen sein! … Beruhigen Sie sich, schöne Gräfin Völdern!“ wandte er sich an Gisela: „Sie brauchen nicht weiter zu reiten. Glauben Sie denn, ich würde so ruhig geblieben sein, wenn ich nicht gewußt hätte, daß da drüben“ – er deutete nach der Neuenfelder Richtung „bereits alle Vorkehrungen zur schleunigsten Hülfe getroffen würden?“

Jetzt erst bemerkte Gisela den alten Herrn, die schmächtigste, unscheinbarste Gestalt unter den Versammelten. Er hatte sie mit dem Namen ihrer Großmutter angeredet – das klang sonderbar, fast wie verwirrt – sie wußte ja nicht, daß er in ihr die unvergleichlichen Formen seiner „Protégé“ wiedererstanden sah – indeß, was er sagte, klang so gütig beruhigend, und das wohlbekannte schmale Gesicht mit den kleinen, grauen Augen – dieser fürstliche Kopf, mit welchem Frau von Herbeck einen wahren Cultus trieb, hing photographirt, lithographirt und in Oel gemalt in allen Zimmern der Gouvernante – das Gesicht erschien so harmlos und freundlich neben den unheimlichen verwandelten Zügen des [304] Stiefvaters, daß sie plötzlich die aufquellende Bitterkeit in ihrem Herzen weichen fühlte.

Sie neigte sich mit einem unnachahmlichen Gemisch von mädchenhaft herber Zurückhaltung und graciöser Geschmeidigkeit tief vom Pferde und sagte mit kindlichem Lächeln: „Ich bin Euer Durchlaucht sehr dankbar für diese Beruhigung –“

Sie wollte offenbar noch einige Worte hinzufügen, allein der Minister hatte abermals den Zügel erfaßt, diesmal jedoch mit wahrhaft eisernem Griff – jetzt war er vollkommen Herr seiner Aufregung geworden, ja, er brachte sogar ein bedeutungsvoll mitleidiges und zugleich entschuldigendes Lächeln fertig, mit welchem er nach dem Fürsten hinsah, während er das Pferd rasch wendete und den Kopf des Thieres dem Greinsfelder Wege zukehrte.

Er deutete gebieterisch nach dem Laubgang.

„Du wirst jetzt ohne Aufenthalt nach Greinsfeld zurückkehren, meine Tochter,“ sagte er mit jener eiskalten, geschärften Stimme, die jedes Wort zu einem eisernen Gebot machte. „Ich hoffe, heute noch Zeit und Gelegenheit zu finden, mich mit Dir über einen Schritt zu verständigen, der schwerlich seines Gleichen in den Annalen der Häuser Sturm und Völdern finden dürfte.“

Das stolze Blut der Reichsgrafen Sturm und Völdern, an welches er eben appellirte, übergoß das Gesicht des jungen Mädchens mit einem flammenden Roth; Gisela richtete sich hoch empor, allein die feinen Lippen preßten sich fest aufeinander – sie wollte ja niemals heftig werden. Es war auch nicht nöthig; das leichte, ausdrucksvolle Achselzucken, mit welchem sie sich auf dem Pferd zurecht setzte, wies die beißende Bemerkung Seiner Excellenz beschämender und treffender zurück, als es vielleicht ein rasches, gereiztes Wort gethan hätte.

„Aber, mein bester Fleury“ – rief der Fürst in lebhaft bedauerndem Ton.

„Durchlaucht“ – unterbrach ihn der Minister mit verbindlicher Haltung und fast devot niedergeschlagenen Lidern, aber auch mit einem Nachdruck, den Seine Durchlaucht als unbeugsam nur allzugut kannte, – „ich handle in diesem Augenblick als Vertreter meiner Schwiegermutter, der Gräfin Völdern. Sie würde ihrer Enkelin dies phantastische, zigeunerhafte Auftreten niemals verziehen haben … Ich kenne leider den abenteuerlichen Hang meiner Tochter sehr gut, und wenn ich außer Stande war, diese peinliche Situation zu verhüten, so will ich mich wenigstens nicht der Taktlosigkeit schuldig machen, den Scandal, der mir sehr bei den Haaren herbeigezogen erscheint, verlängert zu haben.“

Jedes andere junge Mädchen würde höchst wahrscheinlich diesen zermalmenden Worten gegenüber in Thränen der Hilflosigkeit ausgebrochen sein – die braunen, in diesem Moment zu schwarz sich verdunkelnden Augen feuchteten sich nicht. Mit jenem tief forschenden Ausdruck, der leidenschaftlich nach dem wahren Ursprung einer Handlung in der Seele Anderer sucht, heftete sich ihr Blick fest und durchdringend auf das Gesicht des Mannes, welcher sie als elendes, hinsterbendes Kind mit einer Art von Vergötterung auf den Händen getragen und systematisch verzogen hatte und der nun seit wenigen Tagen urplötzlich, ohne irgend welchen erklärlichen Uebergang, eine so tödtliche Kälte und Rücksichtslosigkeit ihr gegenüber entwickelte.

Sie saß nicht da droben wie eine Angeklagte – weit eher als Verurtheilende – an dem ruhigen Schweigen ihrer leicht erblichenen Lippen, die sich in den Winkeln verächtlich senkten, zersplitterte die Waffe ihres Verleumders.

Mit einer stolzen Geberde warf sie das Haar nach den Schultern zurück; dann neigte sie sich grüßend nach allen Seiten, während sie mit der Reitgerte das Pferd leicht berührte. Es flog wie ein Pfeil in den Laubgang zurück, und nach wenigen Augenblicken verschlang die grüne Waldesdämmerung die schwebende weiße Gestalt und das flatternde Goldhaar der Reiterin. …

[305] Einen Moment starrten die Anwesenden auf der Wiese schweigend Gisela nach, dann aber schwirrten die Stimmen aufgeregt durcheinander.

Der Fürst sandte zuvörderst einen der Herren nach mehreren Wagen in das weiße Schloß; er wollte, begleitet vom Minister und von den Herren seines Gefolges, in höchsteigener Person den Schauplatz des Brandunglücks besichtigen – der alte Herr entwickelte plötzlich sehr viel Hast und Lebendigkeit.

„Aber, mein lieber Baron Fleury, waren Sie nicht ein wenig zu hart und grausam gegen Ihre reizende Pflegebefohlene?“ sagte er vorwurfsvoll zu dem Minister, während er sich anschickte, die Wiese zu verlassen, um nach dem Greinsfelder Fahrweg zu gehen, wo er einsteigen wollte.

Ein kaltes Lächeln zuckte flüchtig über das fahle Gesicht Seiner Excellenz.

„Durchlaucht, in meiner öffentlichen Stellung bin ich gewohnt, im ehernen Panzer einherzuschreiten – ich wäre ja längst eine Leiche, wenn ich nicht die Pfeile der Berurtheilung an mir abprallen ließe,“ entgegnete er leichtscherzend. „Sehr viel anders organisirt bin ich dagegen als Privatmann,“ fügte er ernster hinzu. „Ein Vorwurf, noch dazu aus dem Munde Euer Durchlaucht, schmerzt mich – ich leugne es nicht. … Ich habe in diesem Augenblick die niederschlagende Bemerkung gemacht, daß ich lediglich aus Liebe und Verblendung ein sehr fahrlässiger Pflegevater gewesen bin –“

„Klage Dich nicht allein an, mein Freund,“ unterbrach ihn seine Gemahlin mit süß beschwichtigender Stimme; „auch ich trage viel Schuld. So lange wir Gisela mit ihren Extravaganzen hinter den Arnsberger und Greinsfelder Schloßgartenmauern wußten, waren wir schwach genug, die grenzenloseste Nachsicht zu üben – ich habe gerade deshalb manch harten Strauß mit der Herbeck gehabt, die mehr Strenge angewendet wissen wollte.“

„Aber ich kann mit dem besten Willen diese himmelschreiende Extravaganz nicht einsehen,“ meinte die Gräfin Schliersen sehr gleichmüthig. „Ein etwas tollkühner Ritt – weiter nichts. … Im Uebrigen hatte die reizende Kleine augenscheinlich keine Ahnung von unserer Anwesenheit auf der Wiese –“

„Wenn ich Dir aber sage, liebste Leontine, daß sie im Stande ist, sich, so wie wir sie eben gesehen, auf dem Marktplatz in A. vor allem Volk zu zeigen!“ fiel ihr die schöne Excellenz ziemlich aufgeregt in’s Wort. „Sie springt von einem Extrem in das andere, leider – ich muß es abermals aussprechen – sehr oft in der Absicht, kleine Bosheiten gegenüber der Herbeck auszuüben. … Sie besteht z. B. heute darauf, in die Gesellschaft eintreten zu wollen – mein Gott, bei ihrer Krankheit ist ja das geradezu eine Lächerlichkeit – und eine Stunde später –“

„Spricht sie womöglich den unerschütterlichen Entschluß aus, in’s – Kloster zu gehen,“ unterbrach und ergänzte der Minister die Schilderung. Das sollte scherzhaft klingen, und doch legte er, fast wie unwillkürlich, einen ganz eigenthümlichen Nachdruck auf diesen Ausspruch.

Alle Damen lachten – nur die Gräfin Schliersen verzog keine Miene. Sie hatte jenen starren Ausdruck von Consequenz und Hartnäckigkeit im Gesicht, den die geschmeidigen Hofleute entsetzlich fürchteten – er war oft der Vorläufer großer Verlegenheiten für sie.

„Du betontest eben wieder das Leiden Deiner Stieftochter, Jutta,“ sagte sie, den Gegenstand des Gesprächs beharrlich festhaltend. „Sage mir einmal aufrichtig, glaubst Du denn in der That, lediglich auf den vagen Ausspruch des Arztes hin, daß dieses schöne Geschöpf mit dem lebensfrischen Teint und den urgesunden, kräftigen Bewegungen in seinen früheren Zustand zurückfallen könne?“

Die dunklen Augen der schönen Excellenz richteten sich unverhohlen in wahrhaft verzehrendem Haß auf das kaltlächelnde Gesicht der unerbittlichen Fragerin.

„In den früheren Zustand zurückfallen?“ wiederholte sie. „Ei, meine gute Leontine, wenn es nur das wäre, da wollte ich mich gern beruhigen, aber leider war Gisela noch nie hergestellt.“

„Davon habe ich mich überzeugt,“ rief sehr eifrig die Hofdame. „Die Gräfin zuckt mit dem rechten Arm noch genau so krampfhaft, wie damals, wo ich mich so entsetzlich vor ihr fürchtete.“

„Die unheimliche Bewegung hat mich auch erschreckt!“ versicherte die blasse, ätherische Blondine, und sämmtliche junge Damen bestätigten wie aus Einem Munde die traurige Wahrnehmung.

„Meine Damen,“ sagte die Gräfin Schliersen und neigte das Haupt graciös, aber mit unbeschreiblicher Ironie nach den jungen Damen hin, „Sie mögen Recht haben. Dagegen werden Sie mir gewiß nicht bestreiten wollen, daß die junge Gräfin sehr elegant und sicher zu Pferde saß, während ihre armen, kleinen zuckenden Hände das feurige Thier vortrefflich zu beherrschen verstanden – das Handhaben des Ballfächers erfordert bei Weitem nicht diesen Kraftaufwand. … Ich bin sicher, die reizenden Füßchen, die unter dem weißen Kleid hervorsahen, können auch ganz allerliebst [306] tanzen. ….Meinen Sie nicht auch, daß die eben entdeckte Schönheit eine prachtvolle Requisition für unsere Hofbälle sein würde?“

Sie verzichtete auf eine Antwort der Damen, die unter ihrem klugen, satirischen Blick wie die Päonien erglühten, und wandte sich an den Fürsten, der ohne Aufenthalt weiter schritt.

„Darf ich mir eine Ehrenerklärung für mein künstlerisches Auge ausbitten, Durchlaucht?“ fragte sie scherzend. „Ich erhielt vor kaum einer Stunde einen sehr ungnädigen Blick, weil ich mich unterfing, in dem häßlichen Kinderkopf der kleinen Sturm die Grundlinien eines berühmt schönen Gesichts wiederzufinden. … Wie, war es nicht in jedem Zug, in jeder Bewegung die stolze Gräfin Völdern, die wir eben in den Wald zurücksprengen sahen?“

„Ich bekenne mich überwunden,“ entgegnete der Fürst. „Die schöne Amazone stellt meine Protégée sogar in den Schatten – sie hat zwei Reize mehr: die Jugend und den Zauber der Unschuld.“

Ein leiser Wehruf der Baronin Fleury unterbrach das Gespräch. Die schöne Excellenz hatte hastig und unvorsichtig in einen wilden Rosenbusch gegriffen – ein spitzer Dom war tief in die weiche, weiße Hand gedrungen, das Blut quoll durch das dünne Battisttaschentuch, und das war ein so bedauerlicher Unfall für alle die jungen, weichen Mädchenherzen, daß sie nicht begriffen, wie Seine Durchlaucht den Brand drüben hinter dem Walde wichtiger finden und sie gerade in diesem Augenblick verlassen konnte, noch dazu in Begleitung sämmtlicher Herren.


21.

Mittlerweile stürmte der Araber durch den Wald heimwärts. War es doch, als fühle das edle, kluge Thier, daß es auf der Waldwiese die Widersacher seiner jungen Herrin zurücklasse und den Raum zwischen Beiden nicht schnell genug erweitern könne. Die feinen Hufe berührten flüchtig den moosigen Boden, es flog fast lautlos dahin – nur dann und wann erklang ein funkensprühender Stein, oder das Schnauben der Nüstern durch die Waldesstille.

Gisela ließ das Thier laufen, wie es wollte. Noch saß sie mit der stolzen, festen Haltung und zurückgewandtem Gesicht auf seinem Rücken, als gelte es, die vernichtenden Blicke des Stiefvaters, seine abscheuliche Beschuldigung abzuwehren, und die strenggeschlossenen Lippen, die jedes Wort der Entrüstung consequent zurückgehalten, lagen noch fest aufeinander – der Zug der Verachtung aber, der den schweigenden Mund in so herben Linien umschrieb, hatte sich vertieft. Während ihre eigene Erscheinung für die auf der Wiese Stehenden längst im Waldesdämmern untergegangen war, erschien ihrem scharfen Auge die ferne, sonnenüberstrahlte Lichtung am Ende des Laubganges wie ein Miniaturbild auf Goldgrund … ein Miniaturbild – ja, das war’s! Zierliche Gestalten voll Eleganz und Geschmeidigkeit, aber um Alles keine Heroen, keine Rittergestalten mit dem unleugbaren Herrscherblick und dem unverwischbaren Adelsgepräge auf der Stirn, wie ihre kindliche Phantasie von den ersten Begriffen an bis noch vor wenigen Augenblicken die gefeite Tafelrunde der Fürsten sich ausgeschmückt.

Das war also der Hofkreis, die Quintessenz der hochgeborenen Menschen im Lande, und unter ihnen der Mächtige, der die höchste Weisheit hinter der Stirn, die größte Selbstbeherrschung in der Seele tragen mußte; er war ja von Gottes Finger bezeichnet, er regierte von Gottes Gnaden, und sein Ausspruch über Leben und Tod des Einzelnen, über das Wohl und Wehe des Landes war der letzte, endgültige. Die Natur hatte mit jenem höchsten Gesetz nicht Schritt gehalten – sie hatte die Herrschermacht mit einer unscheinbaren Hülle umkleidet; die Bilder in Frau von Herbeck’s Zimmer logen, sie hauchten den Glanz hoher Geisteswürde und Majestät um das schmale Gesicht, das nur Freundlichkeit in seinen matten Augen hatte. … Und um einen Schimmer dieser Augen zu erhaschen, würde Frau von Herbeck stundenweit gelaufen sein; jedes Wort, das einst „in der glücklichen Zeit ihres Erscheinens bei Hof“ jener Mund zu ihr gesprochen, wurde heilig aufbewahrt im Reliquienschrein ihres Herzens. … Und die Großmama hatte sich die Stirn wund drücken lassen von ihren schweren Diamanten, um standesgemäß und jenes Kreises würdig zu erscheinen – sie selbst aber hatte ihre junge, einsame Seele genährt an glänzenden Bildern des Hoflebens, sie war in der Idee aufgewachsen, dermaleinst eine Erhabene unter den Erhabenen sein zu müssen. … Welche Enttäuschung! … Jener Kreis dort war nur exclusiv durch die streng festgehaltenen Gesetze der Etikette, nicht aber durch irgend einen Stempel äußerer Bevorzugung eine Landpartie gewöhnlicher Sterblicher unterschied sich in nichts von jenem Miniaturbild auf der Wiese.

Nur Einer war der Erhabene gewesen – aber er hatte auch das kindisch schäferhafte Spiel mitgespielt, über seinem tiefernsten Bronzegesicht hatten Waldblumen genickt – Waldblumen, die sie so zärtlich liebte, denen sie aber jetzt fast zürnte, weil sie einem unbewußt gehegten Bild die Weihe hoher, ernster Männlichkeit nahmen. Er hatte in dem Augenblick, wo sie auf der Wiese erschienen, seinen Hut aus Damenhänden zurückempfangen – die Hände der schönen Stiefmutter waren es gewesen, die den Hut geschmückt. …

Und dicht neben dem Portugiesen hatte ein wunderschöner brauner Lockenkopf gestanden – sie kannte dieses Mädchen – es war noch derselbe Kinderkopf, den sie einst verabscheut hatte, weil stets in die braunen Locken schreiend bunte Bänder eingeflochten waren und weil dieser Kopf nichts Anderes denken konnte, als elegante Kleider, Kinderbälle und Puppenhochzeiten. Dabei hatten die kleinen, sorgfältig gepflegten weißen Finger den armen Puß heimtückischerweise gezwickt und sehr geschickt hinter Frau von Herbeck’s Rücken Kuchen und Früchte wegescamotirt. … Jetzt war sie Hofdame und die gefeiertste und geistreichste Schönheit am Hof, wie die Gouvernante oft versicherte. … Wie war die kleine, unermüdliche Plaudertasche mit der platten Geschwätzigkeit plötzlich, zu der Himmelsgabe gekommen, die Gisela „Geist“ nannte? … Schön, blendend schön war sie geworden und, mit Ausnahme der reizenden Stiefmutter, die Einzige, die sich neben den hohen, majestätischen Mann stellen durfte. … Ob es Zufall war, daß sie an seiner Seite stand? … Oder hatten die Zwei gefunden, daß sie zu einander gehörten? …

Das junge Mädchen, „das nie heftig werden wollte“, zog plötzlich so jäh und gewaltsam am Zügel, daß das Pferd hoch aufbäumte.

Und weiter ging es im rasenden Galopp. … Das sonnenbeleuchtete Miniaturbild da hinten im Walde erlosch, und selbst das brennende Dorf, dem die Reiterin zueilte, trat mit all’ seinen Schrecknissen momentan zurück vor den zwei Gestalten, die das junge Gemüth unter den bittersten Schmerzen in sich heraufbeschwor.

Das Sonnenlicht, das plötzlich grell und sengend auf ihren Scheitel fiel, riß sie aus ihrem qualvollen Sinnen und Brüten empor. Sie hatte ziemlich das Ende des Waldes erreicht; die undurchdringlich ineinander verschränkten Aeste hoch oben in den Lüften lösten sich und ließen den weiten Himmel durch das zerfließende Blättergewebe hereinscheinen, während unten von den letzten gewaltigen Stämmen hinweg halbversengtes, krüppelhaftes Gestrüpp in das Blachfeld hinein lief.

Gisela hielt ihr Pferd an und ließ es einen Moment verschnaufen, ehe sie sich hinauswagte in die Gluth, die funkelnd und zitternd über der unbeschützten Fläche brütete.

Dort gegenüber lagen die großen Steinbrüche, die sie passiren mußte, wenn sie nicht den weiten Umweg nach der Fahrstraße machen wollte. Ein schmaler, für Reiter ziemlich gefahrvoller Fußweg lief an den Abgründen vorüber. Der Gedanke an Gefahr kam der Reiterin nicht, sie war unerschrocken und konnte sich auf Miß Sarah’s sichere Füße und klugen Kopf verlassen.

Hinter den Steinbrüchen, begann wieder der Wald – jene Linie, die sich so erquickend dunkel lang hindehnte; über ihr kräuselten durchsichtige Wolkengebilde, die hoch in der Lust schleierartig zerflossen – bei weniger heller Beleuchtung würden sie wohl schwarzgrau ausgesehen haben – es waren die Rauchwolken des brennenden Dorfes.

Eine leichte Berührung mit der Reitgerte scheuchte Miß Sarah hinaus auf das Feld – mit Gisela zugleich erschien aber auch ein zweiter Reiter am Saum des Waldes – der Mann, der nach Frau von Herbeck’s Ausspruch „wie ein Gott“ zu Pferde saß.

Der Portugiese kam vom Waldhause her, und wenn auch jetzt wieder sein plötzliches Erscheinen an die scherzhafte Bemerkung des Fürsten, daß Herr von Oliveira fliegen könne, erinnerte, so war diese zauberhafte Geschwindigkeit erklärt durch das prächtige, schnellfüßige Thier, welches er ritt – es war ein Gegenstand der Bewunderung und des Staunens für die ganze Umgegend.

[307] Miß Sarah scheute zurück vor der gewaltigen Erscheinung, die linker Hand so unerwartet aus dem Dickicht hervorbrach – die Reiterin aber erstarrte in jener Art von lähmendem Schrecken, der das Herz erfaßt beim Ertapptwerden auf unrechtem Wege. … War doch eben noch ihre ganze Seele erfüllt gewesen von ihm, der dort hervorstürmte. … Noch in diesem Augenblick hatte sie mit leidenschaftlicher Angst jeden Zug seines Gesichts, jede seiner Bewegungen sich vergegenwärtigt und jenen schönen, braunen Lockenkopf dicht daneben gehalten, um unter qualvollen Leiden nach der Beziehung zwischen Beiden zu forschen. … Das Gefühl der Abneigung gegen die reizende Hofdame war bei dieser Untersuchung zur heftigsten Erbitterung geworden, während sie es muthlos aufgeben mußte, auch ihm zu zürnen, oder gar sein Bild aus ihrer Seele zu verscheuchen. … Stand das nicht Alles auf ihrer Stirn zu lesen? …

Die Empfindung vernichtender Scham kam mit aller Wucht über sie. Die Blutwellen ergossen sich verrätherisch und unaufhaltsam über ihre Wangen – sie war verloren den dunklen, durchdringenden Augen gegenüber, wenn sie nicht floh. …

Nie hatte wohl Miß Sarah die Reitgerte so energisch empfinden müssen, wie in diesem Augenblick – sie stieg in die Höhe, dann flogen Roß und Reiterin wie toll über das Blachfeld.

Oliveira verharrte, wie es schien, unbeweglich auf der Stelle, wo er aus dem Walde hervorgekommen – außer den Hufschlägen ihres Pferdes hörte Gisela keinen Laut; das hielt sie jedoch nicht ab, ihre Flucht in unverminderter Sturmeseile fortzusetzen. … Schon tauchte ihr schwindelnder Blick in die Steinbrüche hinab, die, urplötzlich nahe gerückt, ihre Klüfte und Abgründe vor ihr aufthaten – da stampfte und schnaubte es hinter ihr – der Reiter war ihr auf den Fersen.

Mit jenem Renner, der wie ein Blitz über den Boden hinfuhr, konnten sich freilich die Füße der kleinen, zierlichen Miß Sarah nicht messen – ein Augenblick noch, und der Portugiese erschien an der Seite der jungen Dame, während er mit rascher Hand in die Zügel ihres Pferdes griff.

„Ihre Furcht macht Sie blind, Gräfin!“ zürnte er.

Sie war keines Lautes fähig. Ihre Hände, die sich widerstandslos den Zügel hatten entwinden lassen, sanken langsam in den Schooß. Das Mädchen im weißen Kleide mit dem erschreckten Gesicht, aus welchem alles Blut entwichen, saß dort wie eine Taube, die, vom Entsetzen gelähmt, dem über ihr kreisenden Todfeind nicht mehr zu entfliehen vermag.

Vielleicht drängte sich auch dem Mann, der mittels einer einzigen Bewegung die Herrschaft über Roß und Reiterin erlangt hatte, dieser Vergleich auf – ein schmerzlicher Zug bebte um seine Lippen.

„War ich zu ungestüm?“ fragte er sanfter, zog aber den Zügel noch mehr gegen sich, so daß die Pferde Seite an Seite hielten. Seltsam – Miß Sarah, die leicht ungeberdig unter fremder Hand wurde, mußte ihren Herrn und Meister erkennen; sie stand mit zitternden Beinen, sonst aber wie eine Mauer, und senkte fügsam den Kopf.

Gisela antwortete nicht – sie sah auch nicht auf. Oliveira’s braunes Gesicht war ihr so nahe, daß sie meinte, seinen Athem über ihre Stirn hinwehen zu fühlen.

„Sie haben mir bereits gesagt, daß Sie mich fürchten,“ hob er wieder an. „Ich will diese Empfindung, welche Sie vor mir, als Ihrem Widersacher, instinctmäßig warnt, durchaus nicht bekämpfen – ich darf nicht einmal, ja, so oft ich in Ihr schuldloses Gesicht sehe, möchte ich Ihnen sagen: ,Fliehen Sie mich, so weit Sie können!’ … Wir sind eben zwei jener Gottesgeschöpfe, denen vom Uranfang an auf die Stirn geschrieben ward: ,Ihr sollt Euch bekämpfen mit allen Waffen’ –“

Er hielt inne. Gisela hatte die braunen Augen groß und erschreckt zu ihm aufgeschlagen. Sein Mund, den die Linien schneidender Ironie, aber auch die eines verhaltenen Schmerzes umzuckten, sprach das Wort ewiger Feindseligkeit ungescheut aus – und doch, wie leuchteten seine gefürchteten Augen auf, als sie die ihren in einem Blick berührten!

Sie konnte diesen Blick nicht ertragen. Er zog Alles, was sie gewaltsam in sich Niederkämpfen wollte, unwiderstehlich an’s Tageslicht. Ihr war es sicher nicht auf die Stirn geschrieben worden, gegen ihn zu kämpfen – sie liebte ihn bis in alle Ewigkeit – das wußte sie. Alles, was ihr Herz in der liebeleeren Einsamkeit an reiner Gluth, an zärtlicher Innigkeit in sich aufgespeichert, gab sie ihm hin, und er stieß sie zurück – das aber sollte er nun und nimmer wissen. …

Mit namenloser Angst entriß sie ihm die Zügel. Ihr Oberkörper bog sich mit einer fast krampfhaften Bewegung nach der entgegengesetzten Seite, während ihre Augen scheu den Abgrund suchten.

Bei dieser Geberde erblaßte Oliveira.

„Gräfin, Sie mißverstehen mich –“ sagte er mit bebender Stimme, aber er brach sogleich ab, und jetzt glitt ein schönes, sarkastisches Lächeln Über sein Antlitz hin.

„Sehe ich aus wie ein Wegelagerer?“ fragte er. … „wie Einer, der ein wehrloses Geschöpf – sei es wer immer – dort hinabstoßen könnte?“

Er deutete nach dem Steinbruch.

Daran hatte ihre Seele nicht gedacht. Wie war ein solches Mißverständniß möglich, und wie sollte sie es anfangen, ihre heftige Bewegung anders zu motiviren?

Er ließ ihr keine Zeit.

„Wir müssen weiter,“ sagte er, während sein Auge am Horizont hing – die Rauchwolken verdichteten sich augenblicklich, zwei dunkle Säulen fuhren gen Himmel; das Feuer gewann sichtbar an Ausdehnung.

Oliveira sah wieder auf die junge Dame nieder – seine Züge hatten jenen entschiedenen Ernst angenommen, der ihr so mächtig imponirte.

„Ich bin eine feige Natur, Gräfin,“ sagte er weiter. „Ich kann es nicht sehen, wenn ein Pferd auf schmalem Wege an einem Abgrund hinschreitet. … Hinüber müssen wir – aber ich bitte Sie, zuvor das Pferd zu verlassen.“

„O, Sarah geht sicher! Sie scheut nicht!“ versicherte Gisela mit einem leisen Anflug ihres kindlichen Lächelns. „Ich habe ja vorhin erst die Stelle passirt – sie ist ganz und gar ungefährlich.“

„Ich bitte Sie!“ wiederholte er statt aller Antwort.

Sie glitt, gehorsam wie ein Kind, von Miß Sarah’s Rücken – in demselben Augenblick sprang auch er auf den Boden, und während sie, ohne sich umzusehen, nach dem Fußweg hinschritt, band er die Thiere fest.

Gisela schrak zusammen – er stand an ihrer Seite, als sie den schmalen Weg betrat. Ihr zur Rechten stieg die Felswand in jäher Steilheit empor, und links schritt er dicht an der Tiefe hin.

Schüchtern glitt ihr Blick seitwärts an der mächtigen Gestalt empor – es lagen in Wirklichkeit nur wenige Linien Raum zwischen ihnen, und doch sollte sie für ewig eine geheimnißvolle Kluft trennen, die nur er kannte. … Ihr einst so kalt erwägender Verstand, der die Schranken der sogenannten weltlichen Ordnung streng respectirt und sich in all’ seinen Schlüssen an sie angelehnt hatte, was war er jetzt dem überwältigenden Ausspruch ihres Herzens gegenüber? … Und wenn der Mann neben ihr seine Rechte gehoben und gesagt hätte: ,Gehe weiter mit mir, so wie Du da neben mir herschreitest – lasse Alles zurück, was sie Dein nennen und was Du doch nie geliebt hast, gehe mit mir in unbekannte Ferne und in eine dunkle Zukunft’ – sie wäre gegangen – dem Arm, der das hülflose Weib getragen, vertraute sie blindlings. … Aber jener Hochgeborne drüben auf der Waldwiese, der Diplomat mit dem eiskalten Gesicht und den schlaffen Lidern, der sie „meine Tochter“ nannte, er hatte den letzten Rest ihres Vertrauens verwirkt. … Er wußte auch, daß sie den Steinbruch passiren mußte, und doch hatte er sie förmlich dahin zurückgejagt er war keine „feige Natur“, wenn es sich um Leben und Tod handelte, ihn verließ nur die Fassung und Selbstbeherrschung dem Verbrechen der Etikettenverletzung gegenüber.

Nicht ein Wort fiel zwischen den Dahinwandernden – Oliveira’s Gesicht sah aus wie von Erz – kein Blick fiel auf das Mädchen; er hob auch die Rechte nicht, die bewegungslos niederhängend das weiße Kleid streifte, aber er schritt beharrlich als Schutz und Wehr neben ihr, und sie sah, wie ihm das Blut in die braunen Wangen schoß, wenn ihr Fuß an einem Stein abglitt und ihre Gestalt erschüttern machte.

So kamen sie an die Stelle, wo sich der Weg auf wenige Fuß breit verengte. Gisela fühlte ihre Pulse stocken – um sie [308] nicht zu berühren, hielt Oliveira consequent die Linie fest, auf der er bisher geschritten. … Die junge Dame sah, wie sich die wenigen Nesseln, die den Wegrand besäumten, unter seinem Fuß in die Tiefe hinunterbogen – sie hörte, wie die Steine und Erdbrocken sich ablösten und polternd hinabstürzten – das scheue Mädchen, das ängstlich vor jeder Berührung zurückwich, es ergriff plötzlich mit beiden Händen den Arm des Mannes.

„Ich habe Angst um Sie!“ stammelte sie mit flehendem Blick – es waren Laute der tiefsten Zärtlichkeit, in denen diese liebliche, aber keusch kalte Stimme urplötzlich ausbrach.

Er stand wie festgewurzelt, ja, wie versteinert unter der Berührung der schmalen kleinen Hände, unter der Wirkung dieser Töne. … Vielleicht lief jener grellrothe Streifen wieder über die geheimnißvoll gezeichnete Stirn, von dem man meinen konnte, er concentrire den ganzen fluthenden Lebensstrom in sich und mache momentan Herz- und Pulsschlag ersterben. … Bis da hinauf wagte sich Gisela’s Blick nicht – so hoch aufgebaut auch ihre geschmeidige Gestalt erschien, der blonde Scheitel reichte doch nicht viel über die Brust des gewaltigen Mannes, und jetzt sah sie in nächster Nähe, wie diese breite Brust mühsam nach Athem rang. Welcher Art der Kampf war, der sie hob und senkte – Gisela wußte es nicht, es blieb ihr auch keine Zeit, darüber zu denken. … Oliveira ergriff mit der Linken sanft ihre Hände, löste sie von seinem Arm und ließ sie langsam niedergleiten – die schöne, kräftige Hand zitterte heftig, aber sie übte nicht den leisesten Druck.

„Ihre Besorgniß ist grundlos, Gräfin Sturm,“ sagte er mit fester, aber vollständig klangloser Stimme. „Gehen wir weiter. … Es ist meine Aufgabe, Sie so hinüber zu geleiten, daß Sie an diesen Weg niemals mit Schrecken zurückdenken sollen.“

Davor konnte er sie nicht mehr schützen, sie mußte, so lange sie lebte, mit Schrecken an diesen Weg zurückdenken. Sie hatte sich verrathen gegen Den, der am wenigsten in ihrer Seele lesen durfte. … Und wenn auch aus jenen verschleierten Tönen unverkennbar Trauer und Resignation geklungen hatten, wenn er auch vor ihr stand, als wolle er in der That seine Hände behütend über jeden ihrer Schritte halten – das versöhnte sie nicht wieder mit sich selbst.

Sie schritt ohne Zögern weiter mit tiefgesenkter Stirn und dem dumpfen Gefühl in Kopf und Herzen, als sei plötzlich Alles zertreten, was sie Gutes und Edles in sich gehabt – die Liebe, eine himmlisch schöne Hoffnung und die eigene Würde.

Die kleine Strecke Weges, die noch vor ihnen lag, war bald zurückgelegt, und nun eilte der Portugiese wieder hinüber, um die Pferde zu holen. Während er die Thiere losband, entfiel ihm der Hut, er nahm ihn auf – gleich darauf taumelte die azurblaue Campanula, begleitet von all’ ihren farbenbunten Schwestern, in den Abgrund; Oliveira schleuderte sie mit einer unzweideutigen Geberde des Abscheues weit von sich.

Er schwang sich auf sein Pferd und nahm Miß Sarah am Zügel, die ihm wie ein Lamm folgte. … Das war freilich ein halsbrechender Ritt! … Gisela legte die Hände über die Augen – sie begriff, daß ein Mann eine Dame, und wenn sie ihm noch so gleichgültig war, nicht ohne Angst diesen Weg passiren sehen konnte.

Sie athmete tief auf, als nach wenigen Minuten Miß Sarah freudig wiehernd neben ihr stand. Sie sprang auf einen Felsblock und von da auf den Rücken des Thieres, und fort flogen die zwei Reiter, dem Walde zu.

Die Felsenwand, auf der eben eine junge stolze Menschenseele eine tiefe Wunde empfangen, badete nach wie vor ihre narbenvolle Brust in dem Gluthstrom der Julisonne – die Nesseln, auf die der Fuß des Mannes getreten, richteten sich wieder gerade und elastisch in die Höhe, und um die Steinritzen flatterten kreischend und lärmend die brütenden Vögel, welche die Menschentritte für einen Moment von ihren Nestern verscheucht hatten – lauter fröhlich aufsprudelndes, sonnendurchglühtes Leben. … Nur unten auf dem erhitzten Gestein lag verscheidend die arme, kleine, blaue Glockenblume und büßte für die verrätherische Hand, welche so wundervoll „Chopin“ spielte und einst mit so viel Grazie und Willenskraft den drückenden Verlobungsring abzustreifen verstanden hatte. …

[321]
22.

Der Waldweg, in welchen die Reitenden einlenkten, war ziemlich breit – die Pferde konnten neben einander laufen; er mündete nach kurzer Strecke in der Fahrstraße, die Neuenfeld mit Greinsfeld verband.

Bei dem Knotenpunkt dieser zwei Wege angekommen, hörten die Reiter ein fernes Tosen und Brausen. Oliveira hielt die Pferde zurück, und kurze Zeit darauf stürmten zwei Feuerspritzen, gefolgt von einem großen Theil des Neuenfelder Arbeitspersonals auf Leiterwagen, vorüber.

Wie flogen die Mützen von den Köpfen dieser Leute bei Erblicken ihres Herrn! Wie strahlten ihre kräftigen Gesichter in freudiger Ueberraschung auf! … Das waren die Menschen, denen Frau von Herbeck nicht mehr dankte, weil sie weniger devot als ehemals grüßten, weil sie nicht mit tiefgebogenem Rücken verharrten, bis die kleine fette Frau aus ihrem Gesichtskreis entschwunden war. … Was hatte diese Frau je gewirkt, das sie berechtigte, den Tribut tiefster Verehrung zu beanspruchen? War sie ein bedeutender Geist, der neue Ideen in die Weltanschauung warf? Förderte sie in irgend einer Weise das allgemeine Menschenwohl? War sie eines jener gottbegnadeten Wesen, denen das Talent in überwältigender Macht verliehen? Das Gegentheil von alledem. Sie verabscheute die bedeutenden Geister mit neuen Ideen als revolutionär, und ihr eigener Gedankengang war ein beschränkter, in der Bahn engherziger Gesetze kreisender – sie rührte keinen Finger für das allgemeine Menschenwohl und begnügte sich, in ihrem stumpfen Gebet Gottes Gnade für die frommen Lämmer, die Gläubigen, und seinen Fluch, sein Strafgericht auf die Häupter der Gottlosen zu erflehen – sie bezeichnete die Ausübung der Künste als „nicht passend“ für hochgeborene Leute – Alles in Allem verlangte sie die sclavische Unterwerfung anderer Menschenkinder gegenüber ihrer Person, einzig um der Thatsache willen, daß die Eltern, von denen sie stammte, das „von“ vor ihren Namen setzen durften.

Bei dem nothwendigen Schluß dieser kritischen Beleuchtung erröthete Gisela vor Unwillen – es geschah zum ersten Mal, daß sie mit prüfendem Auge das eigentliche Wesen ihrer Erzieherin zergliederte. … Mit welcher rapiden Schnelligkeit entwickelte sich die Urtheilsschärfe dieses jungen, unterdrückten und vernachlässigten Menschengeistes unter dem befruchtenden Element der Humanität; aber auch welch’ seltene Kraft wohnte ihm inne, daß er sich von dem Herzen zu isoliren vermochte in einem Augenblick, wo es aus tiefster Seele blutete!

Noch ein dritter Wagen voll Menschen jagte an den neben dem Fahrweg Haltenden vorüber – da sah man viel bleiche, verstörte Gesichter.

„Das sind die Greinsfelder,“ sagte Oliveira.

„Die trifft das Unglück nicht,“ entgegnete Gisela mit bedeckter Stimme. „Die neuen Häuser der Neuenfelder Arbeiter, welche Sie, mein Herr, gebaut haben, liegen auf der entgegengesetzten Seite des Dorfes – die Häuserreihe der Taglöhner brennt, die auf dem Gute arbeiten –“

„O weh, das sind Schindeldächer –“

„Und armselige, verwitterte Lehmwände, und die zerbrochenen Fensterscheiben sind mit Papier verklebt –“

Oliveira sah überrascht auf – das klang schneidend aus dem Mädchenmunde.

„Und drin leben Menschen, die für uns arbeiten müssen – als Dank für diese Anstrengungen mißachten wir sie; wir essen das Brod, das sie bauen, und sehen zu, wie sie selbst hungern; wir machen uns weis, sie seien zum Elend geboren, sie seien ein Etwas, das mit uns nicht verglichen werden könne, sie seien geistig nichtige Geschöpfe, und doch verlangen wir von ihnen dasselbe Verständniß des höchsten Wesens und seiner Gebote, wie wir es haben, und wenn sie sterben, verheißt ihnen der liebe Gott dasselbe Himmelreich wie uns. Wenn dort ihre Seelen uns ebenbürtig sind, warum auf Erden nicht? … Ich weiß, daß wir grausame Egoisten sind, aber ich weiß es erst seit Kurzem –“

Sie brach ab. In fast athemloser Hast hatte sie gesprochen, während Oliveira schweigend neben ihr verharrte. Sie waren bisher im Schritt geritten, weil Miß Sarah bei dem sinnverwirrenden Getöse der vorüberrasselnden Wagen gescheut hatte. Auch jetzt streckte der Portugiese zurückhaltend seinen Arm aus, als Gisela das Pferd antreiben wollte.

„Noch nicht!“ wehrte er. „Wir dürfen dem Lärm nicht wieder so nahe kommen.“

„So reiten Sie voraus, mein Herr! Ihr Pferd scheut nicht“

„Nein – ich darf nicht, um dort vielleicht einige arme Habseligkeiten zu retten, hier ein Menschenleben preisgeben. … Sie behaupten, Ihr Pferd sei sicher, und es bringt Sie doch jeden Augenblick in Gefahr – dabei reiten Sie tollkühn, Gräfin. [322] Ich sah bereits auf der Waldwiese mit prophetischem Blick, wie Sie sich beim Heimritt in den Steinbrüchen zerschmettern würden. … Wäre ich Seine Excellenz der Minister, ich würde Ihnen dies Pferd sofort confisciren.“

Oliveira zog bei diesen Worten den Hut in die Stirn, so daß Gisela, deren Blick anfänglich schüchtern auffordernd an dem braunen Gesicht gehangen hatte, von seinen Augen nichts mehr sah. … Sein Erscheinen an den Steinbrüchen wäre also kein zufälliges gewesen? Er wäre einzig und allein gekommen, um sie zu behüten? Das junge Mädchen schauerte in sich zusammen.

„Uebrigens wird wohl für mich und die dort“ – hob er wieder an und deutete nach der Richtung, von wo das ferne Rasseln der Feuerspritzen noch herüberklang – „nichts mehr zu retten übrig sein – solche altersmorsche Hütten brennen rasch zusammen, und die Häusergruppe, die Sie mir bezeichnet haben, steht isolirt. … Dafür wird schleunigst eine andere Hülfe und Thätigkeit beginnen müssen – es gilt, Obdachlose unterzubringen, und da Sie Schindeldächer und Lehmwände abscheulich finden –“

„O mein Herr!“ unterbrach ihn Gisela, „die sollen in Greinsfeld für immer und ewig verschwinden! Es wird Niemand mehr darben – es soll Alles anders werden! … Der alte, strenge Mann im Waldhause hat Recht gehabt – ich war gefühllos wie ein Stein. Ich habe es selbstverständlich gefunden, daß die arbeitende Classe auch elend und verkümmert aussehen müsse – ich habe niemals Widerspruch erhoben gegen das Uebereinkommen zwischen Frau von Herbeck und dem Greinsfelder Schullehrer, nach welchem in den Köpfen dieser Leute die Unwissenheit erhalten werden sollte – ich habe die Dorfkinder zerlumpt und verwildert an meinem Wagen vorüberlaufen sehen, ohne daß mir je der Gedanke gekommen wäre, sie zu bekleiden und ihre Seele zu bessern. … Sie haben mich bereits gerichtet – ich weiß es – und wenn Ihr Spruch auch noch so strenge lautet – ich habe ihn verdient!“

Oliveira hatte mit tiefgesenktem Kopf zugehört; kein Wort des Mannes unterbrach die vernichtende Selbstkritik, die das junge, liebliche Geschöpf da neben ihm mit der tiefernsten und doch so kindlichklingenden Stimme gegen sich schleuderte – er verhielt sich still und zuwartend, wie der Arzt, der eine Wunde ausbluten läßt, aber er war kein Arzt, den die Leiden bei diesem Ausbluten kalt lassen – er war ein leidenschaftlicher Mann, der mit sich ringen mußte, um sein heißes Mitgefühl nicht zu verrathen.

„Sie vergessen, Gräfin,“ sagte er nach einem momentanen Schweigen, während dessen Gisela mit zuckenden Lippen vor sich niedersah, „daß Ihre frühere Anschauungsweise durch zwei Einflüsse bedingt worden ist: durch den ausschließlichen Umgang mit Ihren Standesgenossen und durch die Art und Weise Ihrer Erziehung.“

„Mag ihnen ein Theil zufallen,“ entgegnete sie erregt; „das entschuldigt meine Denkfaulheit, meine Herzenskälte nicht!“

Sie sah ihn mit einem traurigen Lächeln an.

„Ich muß Sie sogar bitten, diese Erziehungsweise nicht anzutasten,“ sagte sie weiter. „Man wiederholt mir täglich, ich sei streng im Geist meiner Großmama erzogen worden.“

Oliveira’s Gesicht verfinsterte sich.

„Ich habe Sie dadurch verletzt?“ fragte er – sein Ton hatte plötzlich eine unverkennbare Härte.

„Sie haben mir wehe gethan, mein Herr. … Mir war in diesem Augenblick, als hörte ich zum ersten Mal meine Großmama schmähen. … Das ist nie geschehen. Wie wäre es auch möglich? Sie ist ja das Musterbild einer erhabenen deutschen Frau gewesen.“

Ein unbeschreibliches Gemisch von Ironie und tödtlicher Verachtung glitt durch die Züge des Portugiesen.

„Und deshalb würden Sie selbstverständlich Den entschieden verabscheuen, der es wagen wollte, an das Andenken dieser edlen Frau zu rühren.“ Er sagte das mit sinkender Stimme; es sollte keine Frage sein, und doch ließ sich das leidenschaftliche Verlangen nach einer Antwort in Blick und Stimme nicht verkennen.

„Sicher,“ versetzte sie rasch, mit einem energischen Aufblick ihrer braunen Augen. „Ich könnte ihm so wenig verzeihen, wie Einem, der das Muttergottesbild vor meinen Augen zertreten wollte –“

„Auch wenn es sich um einen falschen Heiligenschein handelte –“

Sie ließ die Zügel fallen und streckte ihm flehend die Hände entgegen.

„Ich weiß nicht, aus welchem Grunde Sie einen solchen Zweifel aussprechen!“ sagte sie in bebenden Tönen. „Vielleicht haben Sie Schlimmes erfahren an den Menschen, und es wird Ihnen schwer an den makellosen Heiligenschein einer Verstorbenen zu glauben. … Sie sind ja fremd und können von meiner Großmama nichts wissen – aber gehen Sie durch das ganze Land, Sie werden sich überzeugen, daß man nur mit Ehrfurcht von der Reichsgräfin Völdern spricht.“

Sie deutete nach dem Himmel, während ihre Augen innig fragend und fest den seinen begegneten.

„Haben Sie kein Wesen da droben, das Ihnen heilig ist?“ fragte sie, das schöne Haupt leise schüttelnd. „Wissen Sie nicht, daß man über dem Namen der Todten streng wachen soll, weil sie es selbst nicht mehr können? –“ Sie sah vor sich nieder, und in die klare Stirn gruben sich leise Linien des Schmerzes. „Das Andenken an meine Großmama ist das Einzige, was ich rette aus der Sphäre, in der ich geboren bin. … Wie Vieles muß ich verachten! … Ich will auch etwas behalten, das ich verehren darf, und wer es mir zu rauben versucht, der macht sich einer schweren Sünde schuldig – er macht mich arm.“

Sie ritt weiter.

Daß der Portugiese hinter ihr verharrte, als seien die Hufe seines Pferdes an den Waldboden festgezaubert, bemerkte sie nicht; sie sah auch nicht, wie er die Hand über die Augen legte und vergebens mit dem Ausdruck der bittersten Verzweiflung kämpfte, die um seinen Mund zuckte.

Nach einigen Augenblicken war er wieder an ihrer Seite. Noch lag eine fahle Blässe auf den braunen Wangen, aber die verräterischen Linien des inneren Sturmes waren wie weggelöscht. … Wer hätte bei dem Gepräge eiserner Entschlossenheit und Energie, welches diesen stolz getragenen Männerkopf, die ganze gewaltige Erscheinung charakterisirte, annehmen mögen, daß der Mann innerlich für Momente auch zusammenbrechen könne!

Nun wurde nicht mehr gesprochen. Es ging weiter wie auf Sturmesflügeln. Der Wind trieb ihnen einen unerträglichen Brandgeruch entgegen, und oben durch die lichter werdenden Wipfel zogen die letzten Ausläufer der Rauchwolken.

Oliveira hatte Recht gehabt, die altersmorschen Hütten waren in unglaublicher Schnelligkeit niedergebrannt. Als die Rettenden aus dem Wald hervorkamen, da lagen bereits drei rauchende kleine Brandstätten vor ihnen – ein Haus stand noch in vollen Flammen, und auf dem fünften und letzten der Reihe begannen eben die grauen Schindeln lustig aufzulodern.

Aber man hätte sich fast versucht fühlen mögen, den ungeheuren Wasserstrahl aufzufangen, der jetzt zum ersten Mal emporschoß, um prasselnd und zischend in die Flamme niederzustürzen – die Feuerspritzen thaten wacker ihre Schuldigkeit; diese Anstrengung erschien geradezu wie ein Hohn gegenüber der Menschenhabe, die sie retten sollte. … Waren diese vier windschiefen Wände mit den papierverklebten Fensterlöchern in der That eine menschliche Wohnung? Und sollten und mußten diese Wahrzeichen irdischer Ungerechtigkeit stehen bleiben, damit das Elend wieder unterkriechen und eine gott- und menschenverlassene Kaste ein ihrer „angeborenen Lebensstellung“ entsprechendes Obdach behalten sollte?

Die fünf Hütten bedeckten kaum so viel Raum des Erdbodens, wie der große Saal im schönen, stolzen Greinsfelder Schlosse beanspruchte. Fünf Familien hausten eingepfercht zwischen den zerbröckelnden Wänden, die jeder starke Sturmwind über den Haufen blasen konnte – sinkendes und aufblühendes Leben athmete zugleich durch Sommer und Winter hindurch in der Handvoll eingesperrter, ungesunder Luft. … Und im großen Saal des Schlosses, das in diesem Augenblick fern und nebelhaft durch den Qualm herüberschimmerte, standen die todten Bronzefiguren auf ihrem Marmorsockel, und die Krystalltropfen der mächtigen Kronleuchter schaukelten in der Luft, die sorgfältig erneuert wurde, ohne je verbraucht zu werden; und wenn die Stürme draußen an den Wänden hinbrausten, da bewegten sich nicht einmal die Damastgardinen vor den Fensternischen – die aufgethürmten Steinquadern [323] und die festen Fensterläden schützten Bronzefiguren, Kronleuchter und Damastgardinen vor jeder unsanften Berührung. …

Ein entsetzlicher Lärm tobte um das sonst so stille Dorf. Der Portugiese begleitete Gisela, immer den rechten Arm emporgehoben, um im geeigneten Moment der scheuenden Miß Sarah in die Zügel fallen zu können, bis an das Thor des Schloßgartens; dann verabschiedete er sich schweigend mit einer tiefen Verbeugung.

Da sprengte er hin nach dem Brandplatz! … Gisela preßte die Hand auf ihr zuckendes Herz – wie brach hatte diese Mädchenseele gelegen – zum ersten Mal wieder seit ihren Kinderjahren verdunkelte eine Thräne die braunen Augen. … Nun fiel sicher kein Wort mehr zwischen ihr und jenem Mann! Hatte sie doch nicht einmal den Muth finden können, ihm für seinen Schutz zu danken; sie war wie versteinert gewesen gegenüber dem höfisch ritterlichen Gruß, der eine unverwischbar traurige Erinnerung für ihr ganzes Leben gleichsam besiegelte. … Wie mochte er aufathmen, daß er seiner Beschützerrolle ledig war! … Und wenn dort die Rauchwolken sich verzogen hatten, da kehrte er zu dem Hofkreis zurück. … Die schöne, braunlockige Hofdame hatte ja die Blumen nicht gepflückt, die jetzt welkend in den Steinbrüchen lagen – mit ihr sprach er gewiß heute noch; sie wandelten am See hin, wo der Pirol flötete und kühle Lüste in das Ufergebüsch quollen – und sie erfuhr im Laufe des Gesprächs nebenbei die Thatsache, daß er ein paar arme Habseligkeiten und ein tollkühnes, unvernünftiges Menschenkind vor dem Untergang bewahrt habe. …


23.

Gisela ritt in den Schloßgarten, sprang von Miß Sarah’s Rücken und band sie an die nächste Linde. Von der Dienerschaft mußte noch kein Einziger vom Jahrmarkt in A. zurückgekehrt sein, es war todtenstill im ganzen weiten Gatten. Nur durch das ferne Gebüsch, in der Nähe des Schlosses, leuchteten, hie und da auftauchend, ein helles Frauenkleid und der Strohhut eines Herrn – es schien der jungen Dame, als ob Frau von Herbeck in Begleitung des Arztes eilig auf- und abgehe.

Sie trat wieder vor das Thor und schritt die obere Dorfgasse hinab. Da standen zu beiden Seiten die neuerbauten Häuser der Neuenfelder Hüttenarbeiter.

Noch nie hatten die Füße der jungen Dame dieses Pflaster betreten – fremdartiger kann sich der Besucher von Pompeji nicht angemuthet fühlen, als die Herrin des Dorfes inmitten dieser Wohnstätten und des Lebens, das sich vor ihren Augen entwickelte.

Man hatte die Habseligkeiten aus den brennenden Häusern hierher gerettet. … Welch’ ein armseliger Haufe! Und diesem wurmstichigen verbrauchten Gerümpel, das sie nicht mit dem Fuß berühren mochte, gab man die hochtönende Bezeichnung: Eigenthum!

Eine Gruppe wehklagender Frauen stand dabei. Sie rangen die Hände und erschöpften sich in Muthmaßungen, wie der Brand ausgekommen sein möge. Die Kinder dagegen hatten sichtlich große Freude an dem seltenen Ereigniß und seinen Folgen. Es war doch zu wunderbar, daß Tische und Bänke auf einmal unter Gottes freiem Himmel standen – und das schmutzige Bettzeug erschien in der dumpfen Kammer sicher nicht so einladend, wie hier auf dem Pflaster; die kleinen Köpfe guckten seelenvergnügt aus dem improvisirten „Häuschen“, das sie sich zurecht gewühlt hatten.

Gisela schritt auf die Frauen zu. Sie verstummten erschrocken und stellten sich scheu und ehrerbietig zur Seite.

Wäre der Mond vom Himmel heruntergestiegen und durch die Straße gewandelt, es hätte sie vielleicht weniger befremdet, als die weiße Gestalt, die so plötzlich an sie heranschwebte; denn der Mond war ja ein so guter, alter Freund, dem sie von Kindesbeinen an ungescheut in’s gemüthliche Antlitz, sehen durften dieses vornehme Mädchengesicht jedoch kannten sie nur bedeckt vom Schleier und fern zu Roß oder Wagen an ihnen vorüberfliegend.

„Ist Jemand beim Brande verletzt worden?“ fragte die junge Dame gütig.

„Nein, gnädige Gräfin, bis jetzt – Gott sei Dank – Niemand!“ erscholl es von allen Lippen.

„Nur dem Weber seine Ziege ist mit verbrannt,“ sagte eine alte Frau. „Dort unten steht er – er weint sich fast die Augen aus dem Kopf.“

„Und wir haben keine Unterkunft für die Nacht,“ klagte eine andere. „Drei Familien können in den neuen Häusern untergebracht werden, mehr aber nicht – wir sind übrig, und ich habe ein kleines Kind, das zahnt.“

„So kommt mit mir,“ sagte Gisela. „Ich kann Euch Alle unterbringen.“

Die Frauen standen wie versteinert; sie sahen sich scheu unter einander an. Damit war doch unmöglich das Schloß gemeint! Denn dort konnten sie doch nirgends den Fuß hinsetzen, ohne vor „unterthäniger“ Angst zu vergehen! Und gar drin schlafen mit dem Kind, das Zähne kriegte und Tag und Nacht schrie! Bei jedem Tritt und Schritt hallte es ja in den vornehmen Hallen, Gängen und Sälen, daß man sich vor seiner eigenen unverschämten Stimme fürchtete. … Und das mochte Alles noch sein – aber die böse, böse gnädige Frau! Vor der versteckten sich selbst die Männer im Dorf!

Gisela ließ den Frauen nicht länger Zeit zum Ueberlegen.

„Nehmen Sie nur Ihr Kind, liebe Frau,“ ermuthigte sie das Weib, das gesprochen hatte, „und gehen Sie mit – und wer ist noch obdachlos?“

„Ich,“ sagte ein junges Mädchen schüchtern. „Unser Häuschen steht zwar noch, und die Männer sagen, es würde nun auch nicht abbrennen – die Neuenfelder Spritzen sind gerade noch zur rechten Zeit gekommen … ’neinziehen können wir freilich so bald nicht wieder es wird zu sehr eingeweicht. … Gnädige Gräfin, ich bin aber nicht allein; da ist der Großvater und die Eltern, und Bruder und Schwestern und die alte, blinde Muhme –“

Gisela lächelte – wie ein tröstender, erquickender Strahl ging es von diesem jungen, holdseligen Gesicht aus.

„Nun, die werden wir doch nicht draußen lassen,“ sagte sie. „Holen Sie getrost Ihre ganze Familie – ich werde sogleich für eine Wohnung sorgen.“

Das junge Mädchen sprang fort; die Frau aber nahm ihr leidendes Kind auf den Arm, während zwei andere sich an ihren Rock hingen. Sie bat eine Nachbarin, ihrem Mann, der noch nicht von A. zurück war, zu sagen, wo sie sei, und folgte, wenn auch mit beklommenem Herzen, der jungen Gräfin nach dem Schloßgatten.

Gisela band ihr Pferd los, nahm es beim Zügel und betrat den Hauptweg, der nach dem Schloß führte.

Jetzt kam das helle Frauenkleid, wie vom Sturmwind getrieben, auf sie zugeflogen. Das junge Mädchen fühlte doch eine Art von Mitleiden für die kleine, fette Frau, die den Stempel des Entsetzens und der Angst auf dem echauffirten Gesicht trug.

Zuerst kam sie mit ausgebreiteten Armen gelaufen, wobei sich ihre große Mantille wie ein Segel aufblähte, dann schlug sie die Hände zusammen und ließ sie gerungen wieder sinken.

„Nein, nein, liebe Gräfin – das war mehr, als sich ertragen läßt!“ rief sie mit halberstickter Stimme. „Das Dorf brennt – unserer gottverlassenen Dienerschaft fällt es nicht ein, wieder nach Hause zu kommen, und Sie verschwinden für eine volle Stunde! … Ich leide oft und schwer unter Ihren Capricen, füge mich aber stets willig – Liebe und Anhänglichkeit helfen Einem über Vieles hinweg – aber der Streich, den Sie mir heute gespielt haben, war denn doch zu stark. Verzeihen Sie, aber das muß heraus! … Mir fallen nur für einen Moment die Augen zu, und diese augenblickliche Schwäche benutzen Sie, um ohne meine Erlaubniß das Schloß zu verlassen – nein, nein, es ist zu unverantwortlich! … Und nun weckt mich der Feuerlärm – mein erster Gedanke gilt Ihnen – ich laufe durch Haus und Garten, laufe sogar hinunter in das brennende Dorf – Niemand hat Sie auch nur mit einem Auge gesehen. … Fragen Sie den Medicinalrath, was ich gelitten habe!“

Der Herr im Strohhut, der sie jetzt eingeholt hatte, bestätigte mit einem Kopfnicken, wobei er sich ehrfurchtsvoll vor der jungen Gräfin verbeugte.

[324] „Ganz außerordentlich, ganz außerordentlich hat sie gelitten, die arme Gnädige!“ schnarrte er in tief bedauerndem Ton.

„Und nun, ich bitte Sie, liebste Gräfin, wie kommen Sie auf die Idee, in der glühenden Nachmittagssonne auszureiten?“ examinirte die empörte Frau. … „Wo ist der Hut? … Wie, ohne Handschuhe –“

„Glauben Sie denn, ich sei zu meinem Vergnügen fortgeritten und hätte mir Zeit genommen, zu überlegen, welche Handschuhfarbe am besten zu meiner Toilette passe?“ unterbrach sie das junge Mädchen ungeduldig. „Ich bin fortgewesen, um Löschmannschaft zu holen.“

Frau von Herbeck fuhr zurück und schlug abermals die Hände zusammen.

„Und wo waren Sie?“ fragte sie athemlos und bebend.

„Ich wollte nach Neuenfeld, aber auf der Waldwiese traf ich Papa und Mama.“

Diese Antwort traf die Gouvernante wie ein Blitzstrahl, dennoch behielt sie so viel Geistesgegenwart, zu stammeln: „Waren die Excellenzen allein?“

„Es mag wohl die ganze Hofgesellschaft gewesen sein, die auf der Wiese stand – was weiß ich!“ entgegnete Gisela achselzuckend. „Den Fürsten erkannte ich –“

„Allmächtiger Gott, der Fürst hat Sie gesehen?“ schrie die Gouvernante völlig fassungslos auf. „Das ist mein Tod, Medicinalrath!“

Sie war in der That blaß wie eine Leiche, aber auch der angerufene Medicinalrath hatte die Farbe gewechselt.

„Gnädige Gräfin,“ stotterte er, „was haben Sie gethan!… Das wird Seine Excellenz, den Papa, ganz außerordentlich – betrübt haben!“

Gisela schwieg und sah einen Moment aufmerksam und nachdenklich vor sich hin.

„Wollen Sie mir nicht sagen, Frau von Herbeck, aus welchem Grunde der Fürst mich durchaus nicht sehen soll?“ fragte sie plötzlich mit einem raschen Aufblick ihrer Augen und fixirte fest das Gesicht der kleinen fetten Frau.

Diese directe Frage gab der Gouvernante die Fassung zurück.

„Wie – Sie fragen noch?“ rief sie. „Werden Sie sich denn gar nicht bewußt, in welchem Aufzug Sie sind? … Ich kann mich in die Seele der Excellenzen hineindenken – sie werden trostlos sein! … Ihr abenteuerliches Auftreten wird Ihnen bei Hofe sicher nie vergessen, Gräfin! Man wird flüstern und spötteln, so oft der Name Sturm genannt wird. … Barmherziger Gott, und wie wird es mir armer Creatur ergehen!“

„Und mich schmerzt es ganz außerordentlich, gnädige Gräfin, mich immer wieder überzeugen zu müssen, daß alle meine treugemeinten ärztlichen Rathschläge in den Wind gesprochen sind!“ fiel der Medicinalrath ein. „Wie soll ich es nur anfangen, Ihnen klar zu machen, daß das Damoklesschwert stündlich über Ihnen schwebt? … Wie leicht, wie leicht“ – er hob den Zeigefinger – „konnte Sie einer Ihrer ominösen Anfälle angesichts des Hofes überrumpeln – welch’ ein Scandal, gnädige Gräfin!“

Der Mann zitterte innerlich vor Aerger, das war nicht zu verkennen, wenn auch seine hervortretenden, verquollenen Augen mit einer gewissen Sanftmuth und devoten Nachgiebigkeit am Boden hingen.

„Daß Sie nach dem aufregenden Ritt ohne Nervenalteration vor mir stehen, erscheint mir wie ein Wunder Gottes“ – hob er wieder an.

„Auch ich halte es für ein Wunder, für das ich dem lieben Gott inbrünstig danke,“ unterbrach ihn die junge Dame, die bis dahin mit gerunzelter Stirn, allein sonst sehr gleichmüthig die Vorwürfe über sich hatte ergehen lassen – „indeß so sehr befremden sollte es Sie doch nicht mehr, Herr Medicinalrath, denn Sie sehen es seit einem halben Jahre täglich vor sich.“

Eine Kinderstimme wurde hinter den Sprechenden laut. Die Taglöhnerfrau hatte sich bei Erblicken der Gouvernante sofort hinter das nächste Bosket geflüchtet – sie mochte viele Mühe gehabt haben, unterdeß ihre Kinder zu beschwichtigen, damit sie die böse, böse gnädige Frau nicht bemerke. In diesem Augenblick aber war ihr doch ein kleiner Knabe entwischt. Er stand breitspurig im Weg und versuchte mit einem kräftigen „Hott!“ Miß Sarah aus der Fassung zu bringen.

„Was soll das? Wie kommst Du hierher, Junge?“ fuhr Frau von Herbeck auf.

Jetzt trat die Mutter ängstlich hinter dem Gebüsch hervor.

„Die Frau ist abgebrannt!“ erklärte Gisela.

„So – das ist schlimm für Euch, Frau,“ sagte die Gouvernante in etwas milderem Ton. „Es thut mir leid. … Die Hand des Herrn ruht schwer auf Euch, aber leider – das wißt Ihr am besten – nicht allein als Prüfung und unverdientermaßen. … Erinnert Euch nur, wie oft ich Euch gesagt habe, daß das Strafgericht Gottes nicht ausbleiben kann – Ihr Alle lebt zu gottlos in den Tag hinein und habt zum Beten niemals Zeit. … Nun, ich will nichts weiter sagen, Ihr seid gestraft genug. … Da geht nur einstweilen wieder hin – wir wollen sehen, was sich thun läßt.“

„Wohin soll sie denn gehen, Frau von Herbeck?“ fragte Gisela sehr ruhig, wenn auch ihre Wangen anfingen, sich leise zu röthen. „Sie hören, daß das Haus der Frau niedergebrannt ist, daß sie mithin kein Obdach hat.“

„Nun, mein Gott, wie soll ich denn wissen, wo sie unterkommt?“ fragte Frau von Herbeck ungeduldig zurück. „Es giebt Häuser genug im Dorfe –“

„Aber nicht für fünf obdachlose Familien,“ entgegnete die junge Dame – die schöne, schlanke Gestalt stand plötzlich in gebietender Hoheit der kleinen fetten Frau gegenüber. „Die Frau bleibt vorläufig mit Mann und Kindern hier im Schlosse,“ erklärte sie entschieden, „und sie nicht allein, es kommt auch noch eine zweite Familie. … Komm’ her, mein Junge!“

Sie ergriff mit der Linken das Händchen des kleinen Knaben und machte sich bereit, ihren Weg fortzusetzen.

„Gerechter Gott, welcher Wahnsinn! … Ich protestire, ich protestire!“ schrie Frau von Herbeck auf und vertrat mit ausgebreiteten Armen der jungen Herrin des Schlosses den Weg.

[337] Bei dieser leidenschaftlichen Geberde der Frau von Herbeck fuhr Miß Sarah schnaubend zurück; sie stellte sich auf die Hinterbeine, dann stürmte sie im blinden Schrecken ziellos durch den Garten. Während aber Frau von Herbeck schreiend im nächsten Seitenweg verschwand und auch der Medicinalrath entsetzt retirirte, ließ sich Gisela ein Stück Weges fortschleifen. Sie hielt den Zügel mit kraftvollen Händen; ihrer Geistesgegenwart und dem unausgesetzten schmeichelnden Zuruf ihrer weichen Stimme gelang es endlich, das erschreckte Thier zum Stehen zu bringen.

[338] Der alte Braun, der wahrscheinlicherweise Frau von Herbeck’s Schreien gehört hatte, kam vom Schlosse hergelaufen. Gisela übergab ihm das Pferd, trug ihm auf, die Beschließerin zu schicken, und kehrte schleunigst zu ihren Schutzbefohlenen zurück.

Sie kam rechtzeitig genug, um zu sehen, wie die rasch erholte Frau von Herbeck scheltend nach dem Thorweg zeigte, während der Medicinalrath den widerstrebenden Knaben grimmig bei der Schulter packte und sein kleines, trotziges Gesicht dem Ausgang des Gartens zuwendete.

„Ihr bleibt!“ rief Gisela und ergriff den Arm des Weibes, das sich eben mit den Kindern entfernen wollte. … Sie war athemlos, nicht allein infolge des wilden Laufes, sondern auch vor Erbitterung. Nie hatte sie dieses Gefühl tiefer Indignation gekannt, das sich jetzt ihrer bemächtigte.

„Frau von Herbeck, auf wessen Grund und Boden stehen wir?“ fragte sie, sichtlich nach äußerer Ruhe und Haltung ringend.

„O liebe Gräfin, das will ich Ihnen mit Freuden deutlich machen! … Wir stehen auf dem Grund und Boden der alten Reichsgrafen Völdern. … Dort unter dem Dach haben genug gekrönte Häupter als Gäste geschlafen; nie aber hat es Raum gehabt für Leute von obscurem Namen. … Die Völdern haben sich niemals der Berührung mit dem Gemeinen schuldig gemacht – sie sind von jeher der Schrecken der Zudringlichen und Unverschämten gewesen. … Und nun sollte dieser geheiligte Boden profanirt werden? … nie und nimmermehr! So lange ich meine Zunge rühren kann, werde ich protestiren! … Liebste Gräfin, ich will nicht allein auf die Rücksicht hinweisen, die Sie Ihren erlauchten Vorfahren unerläßlich schuldig sind – denken Sie doch auch an Ihr eigenes Interesse – wo bleibt der Respect –“

„Ich will keinen Respect, wie Sie ihn meinen – ich will Liebe.“

Die Gouvernante stieß ein höhnisches Gelächter aus.

„Liebe, Liebe? Von diesen da?“ rief sie in ein impertinentes Kichern übergehend, indem sie auf die Taglöhnerfamilie zeigte – „Ein unbezahlbarer Einfall! … Den hätte die Großmama hören sollen!“

„Sie hat ihn gehört,“ sagte Gisela gelassen. „So lange ich denken kann, versichern Sie mir unausgesetzt, der Geist meiner Großmama sei mir nahe – sie richte mein Thun und Lassen – in diesem Augenblick wird sie zufrieden mit mir sein.“

„Glauben Sie? … Da gilt es, einen schweren Irrthum aufzuklären. … Für die majestätische Gräfin Völdern war diese Menschenclasse gar nicht auf der Welt, und kamen ihr ja einmal dergleichen Zudringlichkeiten zu nahe, da war ich in dem Fall, zu hören, wie sie drohte, ,das Gesindel’ mit Hunden forthetzen zu lassen.“

„Ja, ja, die hochselige Frau Gräfin machte nicht viel Federlesens,“ bestätigte der Medicinalrath. „Sie hatte ein ganz außerordentlich entwickeltes aristokratisches Gefühl!“

Gisela war todtenbleich geworden. … Diese zwei Menschen da zerpflückten erbarmungslos den Heiligenschein, den sie eben noch mit glühendem Eifer vertheidigt hatte. … Wußte sie auch, daß die Großmama immer auf isolirter Höhe gestanden, von der es ihr liebeheischendes Kindesherz stets kalt angeweht hatte, so war sie doch nie im Zweifel gewesen, daß dieses zurückweisende Etwas einzig der Sittenstrenge und der Erhabenheit der stolzen Frauenseele entsprungen sei. … Und nun sollte die Vergötterte unmenschlich gewesen sein!

Frau von Herbeck irrte schwer, wenn sie glaubte, mit ihren Enthüllungen das altgewohnte Fahrwasser wieder erlangt zu haben – sie hatte unvorsichtig genug den Zauber selbst gebrochen, dem die junge Seele in blinder Pietät bis dahin unterworfen gewesen war.

Die braunen Augen des jungen Mädchens sahen wohl erloschen, aber mit tiefem Ernst in das Gesicht der Gouvernante.

„Frau von Herbeck, Sie nannten vorhin den Brand im Dorfe ein Strafgericht Gottes,“ sagte sie. „Das Haus dort aber steht noch“. – sie zeigte nach dem Schlosse – „in welchem Jahrhunderte hindurch ein so grausames Unrecht geschehen ist. … Der liebe Gott hat es anders gemeint, als Sie sagen – er hat nicht strafen, sondern segnen wollen – die elenden Häuser mußten niederbrennen, damit es endlich besser werden konnte für die armen Unterdrückten!“

Die Beschließerin kam eilig vom Schlosse her.

„Schließen Sie sogleich die Räume im Erdgeschoß des linken Flügels auf!“ befahl Gisela.

„Mein Gott, gnädige Gräfin, wollen Sie trotz aller Vorstellungen Ernst machen?“ rief der Medicinalrath – der würdige Vermittler zwischen Leben und Tod zitterte innerlich vor Zorn, aber er beherrschte sich doch, während Frau von Herbeck, sprachlos vor Erbitterung, unverhohlen an ihrem Taschentuch riß und zerrte. „So hören Sie wenigstens auf einen vernünftigen Rath!“ beschwor er die junge Dame. „Bringen Sie die Leute nicht in’s Schloß selbst – das geht ein für allemal nicht. … Ich schlage Ihnen den Pavillon dort drüben vor – er ist geräumig –“

„Sie haben wohl vergessen,“ fiel ihm Gisela empört in’s Wort, „daß Sie sich gestern weigerten, auch nur für einige Augenblicke in diesen Pavillon einzutreten, weil die feuchte Luft äußerst nachtheilig auf Ihr rheumatisches Leiden wirke? Sie sagten, der Raum sei höchst ungesund.“

„Ja, das Wasser läuft von den Wänden,“ bestätigte die Beschließerin, unbekümmert um den Basiliskenblick des Doctors. „Auf den Möbeln sitzt der dicke Moder.“

Ohne noch ein einziges Wort zu verlieren, wandte sich die junge Gräfin ab von den zwei Menschen, deren öde Seelen sich plötzlich in ihrer ganzen Nichtswürdigkeit enthüllten.

„Kommen Sie, liebe Frau, Sie sollen für Ihr leidendes Kind ein sonniges Zimmer haben,“ sagte sie zu dem armen Weibe, das an allen Gliedern bebend neben ihr stand. Sie ergriff die Hände der beiden größeren Kinder, die sich ängstlich an den Rock der Mutter gehangen hatten, und schritt mit ihnen nach dem Schlosse.

Die Beschließerin lief voraus.

„Frau Kurz, ich rathe Ihnen wohlmeinend, erst den speciellen Befehl Seiner Excellenz abzuwarten!“ rief ihr die Gouvernante mit erstickter Stimme nach; allein das wackere Weib ließ sich nicht irre machen – die „böse, böse gnädige Frau“ hatte lange genug geherrscht und die Geißel geschwungen, es war hohe Zeit, daß die eigentliche Herrin von Greinsfeld die Zügel ergriff.

„Gott, Gott, welche Scenen erwarten mich!“ stöhnte die Gouvernante und fuhr mit beiden Händen nach dem Kopfe. „Nun wird Er wieder sagen: ,Sie sind alt geworden, Frau von Herbeck!’ … Wenn ich nur an diese impertinente Stimme denke, da zittern mir alle Nerven – ich möchte mich am liebsten gleich im Erdboden verkriechen! … Und Sie werden auch nicht leer ausgehen, Medicinalrath, darauf verlassen Sie sich!“ …

Der Medicinalrath sagte keine Silbe. Er legte den prächtigen, ciselirten Stockknopf an die gespitzten Lippen und pfiff mechanisch, aber fast unhörbar: „Schier dreißig Jahre bist du alt!“ vor sich hin – das that er immer, wenn er ,ganz außerordentlich’ ergrimmt war.


24.

„Alles unverändert, mein lieber Baron Fleury!“ sagte plötzlich eine Stimme hinter dem Bosquet, welches sich vor dem Haupteingang des Schloßgartens hinzog. … Das Pfeifen verstummte sofort, und der Stock mit dem ciselirten Knopf fiel zur Erde.

„Alles unverändert,“ fuhr die Stimme fort, „und wenn jetzt die junge Gräfin Sturm auf dem Balcon dort erschiene, dann würde ich meinen, die letzten fünfzehn Jahre seien nur ein Traum gewesen.“

Der Medicinalrath hob geräuschlos seinen Stock wieder auf, fuhr eiligst abstäubend über seinen Rockkragen, tastete nach der Stirn, ob die blonden, künstlerisch vertheilten Haarreste die gewohnte Linie beschrieben, und stellte sich neben Frau von Herbeck, die athemlos vor Ueberraschung und Aufregung zur Seite des Weges getreten war – hier mußte ja der Fürst vorüberkommen.

Und nach wenigen Augenblicken stand die schmächtige Gestalt des Durchlauchtigsten Herrn in der That vor den zwei bis zur Erde sich Verbeugenden.

„Ah, sieh da – eine alte Bekannte!“ sagte Serenissimus sehr gnädig und reichte der hocherglühenden Gouvernante die feinen Fingerspitzen. „Eine treu ausharrende Einsiedlerin! … Haben schwere Opfer bringen müssen, arme Frau! … Aber das ist nun überstanden – wir werden Sie von nun an oft in A. sehen.“

[339] Frau von Herbeck’s demüthig gesenkte Wimpern hoben sich bei den letzten Worten Seiner Durchlaucht in einem seltsamen Gemisch von Freude, Angst und Schrecken – die schwimmenden Augen streiften verzagt über das Gesicht des Ministers – in welch’ eisiger Kälte waren diese Züge erstarrt! … Die kleine, fette Frau empfand abermals den heißen Wunsch, sich in den Erdboden verkriechen zu dürfen.

„Sie haben einen heftigen Schrecken gehabt,“ sagte der Fürst weiter – „der Brand im Dorfe konnte recht bedenklich werden – aber beruhigen Sie sich, es hat nichts mehr zu bedeuten. Ich komme eben vom Brandplatze.“

„Ach Durchlaucht, das hätte sich überstehen lassen! … Ich kann viel weniger die Alteration über den tollkühnen Ritt meiner kleinen Gräfin verwinden! … Excellenz, ich bin unschuldig!“ wandte sie sich mit flehender Stimme an den Minister.

„Lassen Sie das jetzt!“ sagte er mit einem ungeduldigen Handwinken. „Wo ist die Gräfin?“

„Hier, Papa!“

Das junge Mädchen trat aus dem Seitenweg.

War sie in den wenigen Tagen ihrer Verbannung noch gewachsen? Und was mußte in dieser Seele vorgegangen sein, daß auch der letzte Rest kindlicher Unterwürfigkeit von der Erscheinung abgestreift schien? … So, wie sie da aus dem Gebüsch hervortrat, war sie die gebietende Herrin des Schlosses. Die ganze anmuthvolle Hoheit, mit der einst die Gräfin Völdern die Wirthin gemacht, umfloß auch diese jugendliche Gestalt; nur das verführerische Lächeln fehlte – auf der Stirn des jungen Mädchens lag ein tiefer Ernst.

Der Minister wollte ihre Hand ergreifen, um Serenissimus die Stieftochter in aller Form vorzuführen. Sie schien diese Absicht nicht zu verstehen – Seine Excellenz begnügte sich demzufolge, die Vorstellung mittels einer zierlichen Handbewegung einzuleiten, und das ,Meine Tochter!’ klang so zärtlich innig von seinen Lippen, als sei das verknüpfende Band zwischen ihm und der gräflichen Waise nie fester gewesen, als in diesem Augenblick.

Gisela verbeugte sich mit ungezwungener Grazie. Frau von Herbeck’s Blicke hingen in verzehrender Angst an dieser Verbeugung – sie war „lange, lange nicht tief genug!“ Aber die Züge des Fürsten verloren das Gepräge herzlichen Wohlwollens und lebhafter Freude darum nicht.

„Liebe Gräfin – Sie ahnen nicht, wie viel schöne Erinnerungen Ihre Erscheinung in mir weckt!“ sagte er fast bewegt. „Ihre Großmama, die Gräfin Völdern, der Sie zum Verwechseln ähnlich geworden sind, war einst, wenn auch nur für wenige Jahre, die Seele meines Hofes. Wir Alle werden die Zeit nie vergessen, wo dieser funkensprühende Geist uns das Leben von einer ganz neuen Seite zeigte – damals vergaß man, daß das menschliche Dasein auch Schattenseiten habe. … Die Gräfin Völdern war für uns eine beglückende Fee! –“

„Die ihre bittenden Untergebenen mit Hunden forthetzen ließ,“ dachte Gisela, und ihr Herz wand und krümmte sich unter diesem Schluß, der sich ihr unerbittlich aufdrängte. … Noch vor einer Viertelstunde würde sie der emphatische Nachruf des Fürsten beglückt und stolz gemacht haben – jetzt klang er ihr wie der schneidendste Sarkasmus.

Sie fand nicht ein Wort der Erwiderung auf die schmeichelnde Anrede. Seiner Durchlaucht galt dieses Verstummen für „reizende Blödheit des einsamen Kindes“. Er half ihr rasch über die anscheinende Verlegenheit hinweg, indem er ihre Hand faßte und sie nach der prächtigen Linde führte, die nahe am Gitterthor des Schloßgartens ihr uraltes, dickbelaubtes Geäst über eine Gruppe eiserner Möbel breitete.

„Im Schlosse will ich für dieses Mal nicht einkehren,“ sagte er, sich niederlassend. „Die Zeit des Diners rückt heran und wir dürfen die Damen in Arnsberg nicht warten lassen. … Aber einen Augenblick muß ich unter dieser Linde ruhen. … Wissen Sie noch, lieber Baron Fleury? – hier saßen wir meist in den italienischen Nächten, welche die Gräfin so wundervoll in Scene zu setzen wußte. … Da lag das Schloß dort drüben in feenhafter Beleuchtung – der Garten, den Jugend und Schönheit reizend belebten, schwamm in einem Meer von Licht und Duft - welch’ eine berauschende Zeit war das! … Vorüber, vorüber!“

Man übersah von diesem Platz aus allerdings das imposante Schloß und einen großen Theil des herrlich angelegten Gartens. Seitwärts, hinter dem Bronzegitter des Thores breitete sich aber auch das Thalgelände aus – über diesem sonnigen Streifen ballten sich augenblicklich die Rauchwolken in unverminderter Dichtigkeit und ließen den weiterhin dämmernden Bergwald fast verschwinden.

Und wenn man auch alle weitere Gefahr für das heimgesuchte Dorf beseitigt hatte, Gisela begriff doch nicht, wie es dem alten, neben ihr sitzenden Herrn möglich war, angesichts einer solchen Wirklichkeit, sich so schwermüthig in die todte Vergangenheit zu versenken.

Vom Dorfe her kamen jetzt auch die Herren des Gefolges. Frau von Herbeck eilte nach dem Schloß, um Erfrischungen zu bestellen; aber als sie das erste schützende Gebüsch hinter sich wußte, da streckte sie in verzweifelter Angst die Hände gen Himmel – das Gesicht des Ministers verwandelte sich ja heute, sobald er sich auch nur einen Moment unbeobachtet glaubte, in wahrhaft entsetzlicher Weise – nie hatte sie Grimm und verhaltene Wuth so unverhohlen in den steinernen Diplomatenzügen ausgeprägt gesehen.

Eben erhob sich Seine Excellenz, um die Herren seiner Stieftochter vorzustellen, als ein dumpfes Krachen vom Brandplatz herüberscholl, dem ein gellendes Aufschreien vieler Stimmen folgte.

Der Fürst sprang auf man trat in den Thorweg.

„Das letzte brennende Haus ist zusammen gestürzt, Durchlaucht. Dabei war keine Gefahr mehr,“ beruhigte einer der Cavaliere.

„Gehen Sie und bringen Sie sofort Nachricht!“ befahl der Fürst.

Mehrere Herren stoben dahin, als blase der Sturmwind hinter ihnen her.

Fast unmittelbar darauf kam ein Mann um die Ecke der oberen Dorfgasse gesprungen. Es war der Greinsfelder Schullehrer, der nach seiner in der Nähe des Schlosses gelegenen Wohnung lief.

„Was giebt es da drüben, Herr Wöllner?“ fragte Frau von Herbeck, aus dem Thor tretend.

„Gnädige Frau, des Nickel’s Haus ist eingestürzt und hat einen Antichristen unter sich begraben,“ antwortete der Mann fast feierlich, aber auch mit einer Art von fanatischer Wildheit. „Soviel ich gesehen habe, liegt der Amerikaner aus dem Waldhause d’runter. … Gnädige Frau, dort richtet der Herr in seinem gerechten Zorn! Alle Abgebrannten haben ihre Ziegen gerettet, nur dem Weber seine ist verbrannt – er hat auch die Petition unterschrieben, die um Belastung des Neuenfelder Pfarrers in seinem Amt bitten soll!“

„Alberner Schwätzer!“ schalt der Minister verächtlich. Er und der Medicinalrath waren die Einzigen, die neben der Gouvernante das Ende des Berichtes abgewartet hatten.

Der Fürst schritt mit bleichem Gesicht nach der Dorfgasse – vor ihm her aber flog Gisela. … Ein Aufschrei der Verzweiflung hatte sich auf ihre Lippen gedrängt, allein sie waren stumm geblieben – die Kehle hatte sich krampfhaft geschlossen…. Aber die Füße trugen sie ja noch.

Was wollte sie dort? … Die Trümmer wegreißen, die auf seinem Gesicht lagen, mit ihrem eigenen Körper die Flammen ersticken, die ihn verzehren wollten! … Sterben, sterben, elend ersticken unter der grausen Last von Trümmern und glühender Asche sollte so viel Majestät und Herrlichkeit, so viel Thatkraft und mächtiger Wille, ein so zärtlich geliebtes Leben, das sie mit Augen und Händen, mit allen Kräften ihrer Seele behüten mochte!

Eine Säule schwarzen Qualms stieg an dem Ort des Unglücks kerzengerade gen Himmel. Gisela fühlte bei diesem Anblick ihre Füße treulos werden – es legte sich wie eine Wolke vor ihre Augen; sie wankte und schlug mechanisch die Arme um den nächsten Baum.

„Armes Kind!“ rief der Fürst herzuspringend. „Wie mögen Sie aber auch hierher gehen? Das ist nichts für Sie! … Ich beschwöre Sie, kehren Sie mit mir zurück!“

Sie schüttelte den Kopf und rang nach Fassung.

Seine Durchlaucht sah sich rathlos um. Auch die Herren, die anfänglich mit ihm am Thorweg stehen geblieben, waren [340] bereits eiligen Schrittes in der Dorfgasse verschwunden. Zu diesem Augenblick aber schlugen ihre bekannten Stimmen wieder an sein Ohr – heitere Ausrufungen, denen lebhaftes Geplauder folgte. Und jetzt kamen sie zwischen den Häusern hervor – bei Erblicken des Fürsten deuteten sie hinter sich in die Gasse – da bog eben die hohe Gestalt des Portugiesen, inmitten der anderen Herren, um die Ecke.

„Mein Himmel, da sind Sie ja!“ rief ihm der Fürst froh überrascht entgegen. „Welchen Schrecken haben Sie uns gemacht!“

Mit wenigen Schritten stand Oliveira neben dem Fürsten; aber auch vor dem jungen Mädchen, das jetzt auch den Kopf hülf- und haltlos an den Baum zurücklehnte. … Der Mann war ja kein Stein – er hatte ein leidenschaftliches Herz in der Brust, das in diesem Moment aufschrie und gebieterisch seine Rechte verlangte. … Er wußte nur zu gut, was diese braunen, hinsterbenden Augen erlöschen gemacht – er las in dem herzzerreißenden Lächeln, das um die erblaßten Kinderlippen glitt, die ganzen Qualen der letzten Minuten. – Vergangenheit und Zukunft, Pläne und Vorsätze, Welt und Leben verloren plötzlich alle Ansprüche an den Mann – er sah nur das bleiche Mädchengesicht.

Er löste ihre schmalen Hände von dem Baum, legte den Arm stützend um die zarte Gestalt und zog sie fest und innig an sich, als sei es nun auch für immer und ewig. Er sprach kein Wort, während der Fürst und sein Gefolge sich in Phrasen des Bedauerns erschöpften. Niemand fiel die seltsame Situation auf, in der diese beiden Menschen sich befanden. Der hünenhafte Portugiese war ja mehr als jeder Andere dazu berufen, Stütze der Schwachen zu sein – möglicherweise machte es sich sogar nothwendig, daß er die halbohnmächtige Dame auf seinen Armen nach dem Schloß zurücktrug. Zwischen den beiden jungen Leuten lag ja die weite Kluft völligen Fremdseins – man wußte, sie waren sich noch nicht einmal vorgestellt. … „Honni soit qui mal y pense!

Mittlerweile waren der Minister, Frau von Herbeck und der Medicinalrath hinzugekommen – sie standen sprachlos vor der Gruppe.

„Ein Todtgeglaubter ist, Gott sei Dank, wieder auferstanden,“ sagte der Fürst. „Dafür haben wir hier einen Unfall zu beklagen – der armen Gräfin ist übel geworden.“

Der Medicinalrath nahm sofort das Handgelenk des jungen Mädchens zwischen die Finger.

„Nehmen Sie mir die Sorge vom Herzen, Herr Medicinalrath,“ bat Seine Durchlaucht. „Es sind doch wohl nur die schnell vorübergehenden Folgen eines heftigen Schreckens?“

Der Medicinalrath knickte zusammen wie ein Taschenmesser – Serenissimus würdigte ihn zum ersten Mal einer Anrede.

„Ich hoffe es, Euer Durchlaucht, obschon man bei dem eigenthümlichen Leiden der gnädigen Gräfin fast nie den Verlauf eines Anfalles mit Bestimmtheit voraussagen kann. … Gestehen muß ich indeß, daß es mich ganz außerordentlich schmerzt, durch diesen unglücklichen Zufall die mögliche Heilung meiner gnädigsten Patientin Nunmehr wieder hinausgeschoben zu sehen.“

Jetzt trat das Blut wieder in die weißen Wangen und Lippen des jungen Mädchens zurück; aber es ergoß sich erschreckend stürmisch über Gesicht und Hals. Sie war empört über die zweideutige Zunge des Arztes, die auch diese Anwandlung von Ohnmacht mit ihrem früheren Leiden in Verbindung brachte. … Warum sollte und mußte ihr immer und immer wieder diese verhaßte Krankheit unerbittlich octroyirt werden? Und noch dazu diesen vielen Männeraugen gegenüber, die sie neugierig anstarrten.

„Ich danke Ihnen,“ sagte sie mit leiser, inniger Stimme zu dem Portugiesen. „Ich will versuchen, allein zu gehen.“

Er trat sofort zurück, und sie ging schwankend einige Schritte. Frau von Herbeck wollte ihr die Hand reichen, allein sie wies sie zurück. Stolz, Indignation, aber auch das beseligende Gefühl, daß er unversehrt an ihrer Seite schreite, halfen ihr rascher über die augenblickliche Schwäche hinweg.

Der Fürst warf einen triumphirenden Blick auf den Arzt, als ihre Bewegungen mit jedem Schritt sicherer und elastischer wurden, und nachdem man glücklich den Schloßgarten erreicht hatte, nahm er froh aufathmend seinen früheren Platz wieder ein und zog die junge Dame neben sich nieder.

„Da sehen Sie den Verlauf des Anfalles, mein Herr Medicinalrath!“ sagte er, augenscheinlich sehr heiter gestimmt. „Die braunen Augen unserer Gräfin haben allen Schmelz wieder, und morgen werde ich Ihre letzten Besorgnisse aus dem Felde schlagen. … Aber nun sagen Sie mir um’s Himmelswillen, mein bester Herr von Oliveira, wie war es möglich, daß man uns eine so wahnwitzige Nachricht über Sie bringen konnte?“

Der Portugiese war der Einzige, der sich nicht gesetzt hatte – er lehnte unfern an einem Baum. … Mußte denn dieser merkwürdige Fremde stets aussehen, als protestire er gegen jegliche Gemeinschaft mit denen dort? …

„Wahrscheinlich hielt der Ueberbringer diesen Abschluß des Dramas für sehr pikant,“ entgegnete er mit jenem leisen Zug der Belustigung, der, weit entfernt ein Lächeln zu sein, doch das düster verschlossene Gesicht erhellte. „Er hat gar nicht abgewartet, ob sich der Vorhang von Rauch und Qualm noch einmal heben werde, und so wurde ich zum sterbenden Helden des Stückes.“

Man lachte.

„Wie man mir erzählt hat,“ berichtete einer der Herren, da der Portugiese durchaus keine Lust zu haben schien, den Hergang mitzutheilen, „ist der Eigenthümer des letzten brennenden Hauses gerade in dem Augenblick, wo es dem Zusammenbrechen nahe war, aus A. zurückgekehrt. Er ist wie ein Wahnsinniger nach der Thür gestürzt, um noch Etwas zu retten – Herr von Oliveira aber hat es für angemessen gefunden, ihn zurückzuhalten, und da der Mann in dem Kampfe eine bärenhafte Kraft entwickelt hat, so sind Beide in die gefährliche Nähe des Hauses gerathen. Es ist zusammengestürzt, und einige Augenblicke lang hat man allerdings geglaubt, die Ringenden seien von den Trümmern verschüttet worden. … Durchlaucht, der Mann hat sein Baarvermögen retten wollen, das in irgend einem geheimen Versteck des Hauses verborgen gewesen ist – baare neun Thaler!“

Es wurde wieder gelacht, und nun begann eine allgemeine lebhafte Conversation. Der alte Braun kam und reichte Eis herum.

Währenddem hatte der Portugiese den Baum verlassen und war in die Nähe des Thores getreten – er wies die Erfrischung zurück, die ihm der Lakai bot. … War er so tief versunken in dem Verfolgen der kämpfenden Wolkengebilde am Himmel, daß er zusammenschrak, als eine weiche, bittende Stimme an sein Ohr schlug?

Gisela stand neben ihm. Sie hatte dem alten Braun den Präsentirteller abgenommen und bot ihn dem Portugiesen nochmals hin.

„Mein Herr,“ sagte sie schüchtern, „wollen Sie nicht mit mir unter die Linde zurückkehren?“

„Sehen Sie mich an, ob ich es wagen kann, dem gefeiten Kreis dort nahe zu kommen!“ entgegnete er ironisch, indem er auf seinen Rock deutete – er war noch mit einer dicken Staub- und Aschenschicht bedeckt. „Ich werde im Gegentheil diesen unbewachten Augenblick benutzen, um mich zurückzuziehen.“

Sie hob die braunen Augen bittend zu ihm empor.

„Nun, dann verschmähen Sie wenigstens diese kleine Erfrischung nicht – ich bin so stolz, Ihnen auf meinem Grund und Boden Etwas bieten zu dürfen!“ .

Wie klang das demüthig und unterwürfig von den Lippen, die einst so leicht jenen wegwerfenden Zug annehmen konnten, der auch das Gesicht der hochmüthigen Gräfin Völdern charakterisirt hatte!

Eine leichte Blässe überflog die Wangen des Portugiesen; aber er lächelte.

„Haben Sie vergessen, daß ich Ihnen mit den Waffen in der Hand gegenüberstehe? … Ich verwirke das Recht der Feindseligkeit in dem Augenblick, wo ich die Gastfreundschaft annehme.“

Er sagte das scherzend, und doch lag in Ton und Lächeln eine schmerzliche Beklommenheit.

[353] „Herr von Oliveira hat ganz Recht, wenn er kein Eis annimmt,“ sagte der Minister hinzutretend, „er kam sehr echauffirt vom Brandplatze. … Du aber solltest Deine Pflichten als Dame des Hauses nicht so exaltirt auffassen, mein Kind!“ – Er nahm ihr mit einem finstern Blick den Präsentirteller aus den Händen und übergab ihn dem herbeieilenden Lakai. – „Uebrigens, wie ich bereits im Dorfe hörte, gefällst Du Dir ja heute in der Rolle der heiligen Landgräfin Elisabeth. … Schloß Greinsfeld ist avancirt zur Herberge der Obdachlosen und Bettler!“ –

„O, lassen Sie doch der Jugend ihre Ideale!“ rief der Fürst herüber, indem er sich erhob. „Mein lieber Baron Fleury, wir wissen ja am besten, daß man sie selten mit in das höhere Alter hinübernimmt! … Sorgen Sie getrost für Ihre Schützlinge, meine liebe, kleine Gräfin – auch ich werde nicht ermangeln, mein Scherflein beizutragen. … Und nun, ehe ich gehe, eine herzliche Bitte! … Ich kehre übermorgen nach A. zurück, werde mir aber morgen erst noch die Freude machen, ein kleines Amüsement im Walde zu veranstalten – wollen Sie als mein Gast kommen?“

„Ja, Durchlaucht, von Herzen gern,“ entgegnete sie ohne Zögern.

„Das ist’s aber nicht allein, was ich wünsche,“ fuhr der Fürst lächelnd fort. „Ich sehe ein, daß ich Ihrem allzu ängstlichen und zärtlichen Papa zu Hülfe kommen muß – er läßt Sie möglicherweise noch Jahre lang in der Einsamkeit schmachten, aus unbegründeter Angst vor der Wiederkehr Ihres Leidens. … Ich setze deshalb Ihre Vorstellung bei Hofe für die nächste Woche fest und freue mich kindisch auf das Erstaunen der Fürstin, wenn sie urplötzlich die wiedererstandene Gräfin Völdern vor sich steht.“

Der Minister verhielt sich vollkommen ruhig und schweigend bei dieser Eröffnung. Die Lider lagen tief über den Augen, und kein Muskel des eisernen Gesichts bewegte sich; aber die Farbe der Wangen spielte in’s Grünliche.

Dagegen fuhr der Medicinalrath empor, als habe ihn eine elektrische Batterie getroffen.

„Halten Euer Durchlaucht zu Gnaden, aber diese allergnädigsten Maßregeln erschrecken mich ganz außerordentlich!“ stammelte er. „Meine heilige Pflicht als Arzt –“

„Ah bah, Herr Medicinalrath,“ unterbrach ihn Serenissimus, und die kleinen grauen Augen blickten ziemlich ungnädig. „Mir scheint, Sie überschätzen den Umfang Ihrer Pflichten. … Ich möchte Ihnen fast zürnen, daß Sie Seine Excellenz so ganz und gar nicht zu ermuthigen verstehen!“

Der Medicinalrath brach zusammen und zog sich in tiefster Zerknirschung zurück. … Fürstliche Ungnade! O Donnerwort! …

Frau von Herbeck stand erstarrt vor dieser Niederlage. Sie hatte anfänglich nach einem Blick auf das verfärbte Gesicht Seiner Excellenz sehr resolut und kampffertig ausgesehen – das war vorbei. Dennoch fand sie den Muth zu einer schüchternen Einwendung.

„Ich habe nur ein Bedenken, Durchlaucht,“ wagte sie einzuwerfen. „Die Gräfin besitzt nicht eine einzige Toilette –“

„Lassen Sie das!“ unterbrach sie der Minister finster. „Seine Durchlaucht haben befohlen, und das genügt, sofort jedes Bedenken fallen zu lassen. … Für die Toilette wird die Baronin Sorge tragen.“

Gisela fuhr bei dieser Versicherung zurück.

„Nein, Papa – ich danke!“ rief sie erregt. „Durchlaucht,“ wandte sie sich mit einem lieblichen Lächeln an den Fürsten, „darf ich nicht im weißen Muslinkleid kommen?“

„Versteht sich – kommen Sie, wie Sie da vor mir stehen! Wir sind ja nicht am Hofe zu A. … Und nun à revoir!

Die Wagen hielten bereits am Thor. Man hatte auch das Pferd des Portugiesen gebracht.

Nach wenigen Minuten lag der Greinsfelder Schloßgarten wieder im tiefsten Schweigen. Gisela aber stand noch lange unter der Linde und verfolgte die Staubwolken, welche die Wagen aufwirbelten. … Durch ihre Seele zogen Wonnen und Schmerzen. … Bis in alle Ewigkeit konnte sie den Blick nicht vergessen, mit dem er sie an seine Brust gezogen hatte. … Und doch, und doch wollte er die Waffen gegen sie erheben! …

Mittlerweile lief Frau von Herbeck wie wahnwitzig im Schlosse umher – ihre sämmtlichen Roben waren zum Verzweifeln unmodern. Dazu hing ein furchtbares Gewitter in den Lüften, das sich unausbleiblich auch über ihrem Haupte entladen mußte. … Auch bei den heftigsten Affekten hatte sie ja das Gesicht Seiner Excellenz noch nie „grünlich“ gesehen. …


[354]
25.

Es war sieben Uhr Abends, als der Wagen der jungen Gräfin Sturm durch den Arnsberger Schloßgarten rollte. Das Fest im Walde sollte allerdings erst nach acht Uhr beginnen, allein Frau von Herbeck hatte einige Zeilen von seiner Excellenz eigener Hand erhalten, die sie aufforderten, die Gräfin eine Stunde früher zu bringen.

Diese Zeilen, um welche Gisela nicht wußte, waren wie ein linder, wundervoll erquickender Thau auf die fiebernden Lebensgeister der Gouvernante gefallen; sie waren im altgewohnten, vertraulichen Ton gehalten, und die schließliche Versicherung, daß man ihrer klugen Umsicht, gegenüber der widerspenstigen gräflichen Waise, jetzt mehr als je bedürfe, versetzte sie in den siebenten Himmel.

Seine Excellenz machte also gute Miene zum bösen Spiel – er fügte sich der verhaßten Nothwendigkeit und machte die Gouvernante nicht verantwortlich dafür, was der tückische Zufall und die eigenmächtige Handlungsweise der störrigen Stieftochter verschuldet. Nun kam es vor Allem darauf an, die vernachlässigte Erziehung des jungen Mädchens, bei der man eine lebenslängliche Verborgenheit unerschütterlich im Auge gehabt hatte, geschickt zu verdecken, bis den Mängeln abgeholfen sein würde – diese Mission legte man vertrauensvoll auf ihre Schultern. … Sie war offenbar dazu berufen, die junge Gräfin bei ihrem jedesmaligen Erscheinen am Hofe zu begleiten – endlich nach langen Jahren der Verbannung sollte sie wieder Hofluft athmen! Entzückende Aussicht!

Freilich ein bedenklicher Schatten fiel noch auf das gelobte Land – das war die Unlenksamkeit und sogenannte Indolenz ihrer Schülerin. … Gisela saß in ihrem despectirlich schlichten Anzug so nachlässig in sich zusammengesunken neben ihr, daß sich die erbitterte Gouvernante sägen mußte, das junge Mädchen denke an alles Mögliche, nur nicht an den hochwichtigen Moment, der ihr bevorstehe. … Frau von Herbeck dachte an ihr eigenes erstes Erscheinen inmitten des Hofkreises, auch an verschiedene junge Damen, die sie bei diesem erstmaligen Debüt beobachtet – da hatte es stets fieberrothe Wangen und todesängstliche, verzagte Augen gegeben. Gisela’s selbstbewußte Ruhe und Zuversicht empörte sie geradezu, und zahllose „voraussichtliche Schnitzer“ tauchten wie drohende Gespenster vor ihr auf.

Nun fuhr der Wagen durch den Schloßgarten. … Um die Beweisführung seiner ungeschmälerten Gnade, seines unwandelbaren Vertrauens für den Minister recht eclatant zu machen, hatte der Fürst Alles, was noch an hoffähigen Leuten in A. auszutreiben war, zu dem Fest im Arnsberger Wald eingeladen – es sollte das Tagesgespräch im Lande werden. …

Frau von Herbeck’s Herz schwoll, sie vergaß ihrer Aengste, als sie den belebten Garten überblickte. … Die buntfarbigen Toiletten lustwandelnder Damen schimmerten aus den Alleen und durch die Bosquets herüber, und unter der Orangerie saßen verschiedene Gruppen plaudernder und rauchender Herren; man vertrieb sich die Zeit bis zum Beginn des Festes möglichst angenehm. Wo aber auch der Wagen vorüberkam, überall erfolgte ein erstauntes, fast erschrockenes Aufblicken nach der jugendlichen Erscheinung mit dem blond niederwallenden Haar und der fremdgleichgültigen Haltung – ein zweiter Blick fuhr rasch musternd über die kleine, fette Frau; dann flogen sofort die Hüte von den Köpfen der Herren, und die Damen schwenkten grüßend die Taschentücher – das war eine Art von Triumphzug für Frau von Herbeck – „die lieben alten Bekannten“ freuten sich sichtlich, sie wiederzusehen. …

Der heute erhaltenen Instruction zufolge führte sie die junge Gräfin nach den Appartements, die der Minister und seine Gemahlin bewohnten.

Während alle Gänge und Treppen des weißen Schlosses widerhallten von den Fußtritten eilig hin und wiederkehrender Menschen; war es in dem Corridor, den die beiden Damen betraten, lautlos still. Die dunkelblauen Rouleaux hingen glatt vor den Fenstern; sie hielten die glühende Abendsonne, aber auch jeden eindringenden Luftzug zurück – das blaue Dämmerlicht und die schwülbrütende Stille halten etwas Herzbeklemmendes.

Gisela huschte flüchtigen Fußes an den Thüren vorüber, hinter denen sie den Mann mit den steinernen Zügen wußte. … Das Verhältniß zwischen ihm und ihr hatte plötzlich eine völlig veränderte Gestalt angenommen – sie stand ihm in offener, erklärter Opposition gegenüber und wußte, daß jedes zwischen ihnen fallende Wort ein Funke war, der Stahl und Stein entsprang; sie war auch fest entschlossen, den einmal betretenen Weg unerschrocken weiterzuwandeln, und doch blieb ihr jene echt mädchenhafte Scheu, die vor jedem harten Zusammenstoß zurückbebt. … Sie fürchtete sich vor einem Alleinsein mit ihrem Stiefvater – das aber blieb ihr nicht erspart.

In dem Augenblick, wo sie vorüberschlüpfen wollte, wurde die Thür des wohlbekannten Arbeitscabinets zurückgeschlagen – der Minister stand auf der Schwelle. … Der bleichende, blaue Schimmer floß über sein Gesicht und machte es gespensterhaft fahl.

Er sagte kein Wort des Grußes – es schien, als vermeide er geflissentlich jeden Laut – aber er faßte sanft, wenn auch mit festem Drucke, die Hand der jungen Dame und zog sie über die Schwelle – seine Finger waren kalt wie Eis; Gisela schauderte, ihr war, als schliche die tödtliche Kälte bis in ihr warmes, pochendes Herz hinein.

Ein Wink seiner Hand verabschiedete die verblüffte Gouvernante bis auf Weiteres; dann fiel die Thür hinter Vater und Stieftochter geräuschlos in’s Schloß.

War es schon draußen im Corridor unheimlich schwül gewesen, so glaubte Gisela, in dem nicht sehr großen Zimmer, das sie wider Willen betreten, ersticken zu müssen. … Die Jalousieen lagen dicht vor den Fenstern; durch die schmalen Spalten drang das Licht nur spärlich – es blieb gleichsam hinter den türkischen Gardinen hängen, in denen es hie und da eine große, orangefarbene Arabeske grell aufleuchten ließ.

Und jetzt schloß der Minister auch noch sorgfältig den letzten offenen Fensterflügel – die Lust war erfüllt von jenem betäubenden Parfüm, welches ihr Stiefvater sehr liebte, und das, so weit sie zurückdenken konnte, stets die Person Seiner Excellenz umschwebt hatte – Gisela verabscheute diesen Geruch.

Sie blieb, während der Minister mit dem sorglichen Schließen des Fensters beschäftigt war, regungslos an der Schwelle stehen; ihre Hand hatte unwillkürlich das Thürschloß ergriffen, als gelte es, den Rückweg zu sichern. … In dem ganzen ihr von Kindheit an verhaßten Zimmer war nur ein Gegenstand, auf welchem ihr Auge haften mochte – das lebensgroße, in Oel gemalte Kniestück ihrer verstorbenen Mutter; es hing über dem Schreibtisch des Ministers. Der breite, goldene Rahmen blinkte freilich nur matt durch das Halbdunkel und die Linien der reizenden, hellen Gestalt mit den Feldblumen im Schooße und auf dem goldblonden, demüthig gesenkten Lockenköpfchen zerflossen unter dem Schatten; dennoch suchte Gisela’s Blick die großen, grauen Taubenaugen, die so unschuldig und glückselig in die Welt hineinschienen, als sei der ganze Weg durch diese Welt voll jener harmlosen Blüthen, mit denen auch die schlanken Kinderhände gestillt waren.

„Gisela, mein liebes Kind, ich habe mit Dir zu reden,“ sagte der Minister vom Fenster zurücktretend. Sein Ton klang weich, zärtlich, aber auch trauervoll. Gisela kannte diesen ominösen Stimmenklang sehr gut – sie hatte ihn jedesmal hören müssen, wenn sie sich, unsäglich elend und hinfällig fühlte, wenn der Medicinalrath mit Achselzucken und weisem Kopfschütteln und Frau von Herbeck händeringend an ihrem Bett standen – er vervollständigte auch jetzt nur den peinlich beklemmenden Eindruck, den ihr die ganze augenblickliche Situation machte.

Wahrscheinlich stand das sehr deutlich auf ihrem Gesicht geschrieben – der Minister blieb dicht vor ihr stehen und musterte einen Moment schweigend und stirnrunzelnd ihre fluchtbereite Haltung.

„Nur jetzt keine Thorheit, Gisela!“ warnte er, feierlich drohend den dünnen, bleichen Zeigefinger hebend. „Ich bin genöthigt, an Deinen Verstand, an Deine Entschlossenheit, vor Allem aber an Dein Herz zu appelliren. … Nach Verlauf von einer Stunde wirst Du wissen, daß es überhaupt von jetzt ab ein Ende haben muß mit Deinen Tollheiten und Extravaganzen!“ …

Er lud sie mit einer Handbewegung ein, auf dem nächsten Fauteuil Platz zu nehmen. … In demselben Augenblick aber flog die Portiere einer der Seitenthüren auseinander, und die schöne Stiefmutter stand im Zimmer, so plötzlich und unerwartet, als sei sie von den rosa Gazewolken, in denen ihre wundervolle Gestalt förmlich schwamm, hereingetragen worden. … Gegen diese Annahme protestirten indessen Haltung und Gesichtsausdruck der schönen Frau energisch. Es sah aus, als wollten die kleinen Füße am liebsten den Zimmerteppich zerstampfen, – auf den [355] Wangen brannte die Fieberröthe, welche Frau von Herbeck heute so schmerzlich an Gisela vermißte, und die dunklen Augen loderten in entfesselter Leidenschaft.

Sie trat mit gesenktem Kopf vor das junge Mädchen, und ihn langsam hebend, ließ sie den Blick messend von den Fußspitzen an bis hinauf zu dem blonden Scheitel ihrer Stieftochter gleiten. … Gisela schrak zurück vor dem satanischen Ausdruck, der die feinen Nasenflügel der Frau beben machte und ihre Lippen so fest aneinander schloß, daß die purpurne Linie für einen Moment völlig verschwand.

„Ei steh doch, da bist Du ja!“ sagte sie mit heiserer Stimme. „Also richtig durchgesetzt, mein Püppchen? … Und nächste Woche ist große Vorstellung bei Hofe! … Nun, die Fürstin wird sich gratuliren, eine junge Hopfenstange mehr um sich zu haben!“

Der Minister, der eben im Begriff gewesen war, sich zu setzen, schnellte empor. Durch die offen gebliebene Thür strömte volles Licht in das verdunkelte Zimmer – es wob eine Art Glorie um die Frau im rosa Gazekleide, aber es fiel auch auf die Züge ihres Gemahls – sie zeigten unverhohlen Zorn und Bestürzung.

„Jutta, lasse Dich nicht fortreißen!“ sagte er zwischen den Zähnen. „Du weißt, daß ich in meinem Arbeitszimmer ein Anderer bin, als in Deinen Salons, und daß ich Dir seit Anbeginn unserer Ehe ein plötzliches Eintreten untersagt habe.“

Sein Blick heftete sich finster auf den Anzug der trotzig schweigenden Frau.

„Uebrigens muß ich fragen, warum schon in der Bühnentoilette?“ fuhr er in etwas verändertem Ton fort. „Ist die Dame des Hauses, das voller Gäste steckt, gar nicht mehr nöthig? –“

„Ich bin heute nicht Dame des Hauses, sondern Gast des Fürsten – die Gräfin Schliersen macht die Honneurs, mein Herr Gemahl!“ versetzte sie schneidend. „Und mit meiner Toilette habe ich so früh begonnen, weil ihr Arrangement Zeit beansprucht und Mademoiselle Cecile über alle Begriffe langsam ist.“

Sie wandte Gisela verächtlich den Rücken und warf mit beiden Händen den silberdurchwobenen Schleier zurück, der ihr wie Mondschein vom Haupte floß. Ihre unvergleichliche Schönheit kam in diesem idealen Anzug voll zur Geltung – dafür schien aber ihr Gemahl vollständig unempfindlich zu sein. Seine Brauen falteten sich noch finsterer – er fuhr unwillig mit der Hand über die Augen, wie wenn sie unangenehm geblendet würden; und in der That, von der Erscheinung ging ein so buntfarbiges Sprühen und Blitzen aus, als habe sie den ganzen Sternenhimmel über sich hergestreut. Auf den Gazewogen lagen zwar nur einfache, unschuldige weiße Rosen, aber in jedem Kelch, auf den zartgebogenen milchweißen Blättern schaukelten Brillanten als Thautropfen; auch hie und da funkelten, als sei der Thau den Blumen entfallen, einzelne hingesäte Steine aus den rosigen Falten. Durch die schwarzen Locken der Dame wanden sich auch Blüthenzweige, aber keine lebensfrischen – es waren aus Brillanten zusammengesetzte Fuchsien – aus ihren Kelchen fielen leuchtende Staubfäden auf die Stirn.

„Soll ich diesen Anzug für das Zigeunercostüm halten, in welchem Du heute erscheinen wolltest, Jutta?“ fragte der Minister, nicht ohne eine beißende Beimischung in seiner Stimme, indem er auf das Kleid seiner Gemahlin zeigte.

„Die Zigeunerrolle habe ich der Sontheim überlassen. Euer Excellenz – es gefällt mir besser, für heute Titania zu sein,“ versetzte, sie impertinent.

„Und war dazu eine solche Brillantenverschwendung nöthig?“ – Er war unverkennbar tief gereizt – „Du kennst meine Antipathie gegen dieses Ueberladen mit Steinen –“

„Erst seit Kurzem, mein Freund,“ unterbrach sie ihn. „Und ich zerbreche mir vergebens den Kopf, was Dich plötzlich zu einem solch’ entschiedenen Verächter des Schmuckes macht, dessen Glanz Du einst selbst bei jedem öffentlichen Erscheinen Deiner Gemahlin für unentbehrlich gehalten hast. … Uebrigens, mag sich Dein Geschmack verändert haben – was kümmert’s mich! Ich liebe diese Steine bis zur Vergötterung! Ich werde mich mit ihnen schmücken, so lange mein Haar schwarz ist und meine Augen leuchten können, oder besser, so lange mir der Athem aus- und eingeht! … Ich habe und ich halte sie und werde das Eigenthumsrecht zu vertheidigen wissen, selbst – wenn es sein müßte – mit Händen und Zähnen!“

Wie leuchteten diese kleinen, weißen Zähne hinter der emporgezogenen Oberlippe der reizenden Titania!

„Auf Wiedersehen im Walde, schöne Gräfin Völdern!“ rief sie mit einem halb wahnwitzigen Auflachen dem jungen Mädchen zu, dann flog sie, wie von einem Wirbelwind erfaßt, wieder über die Schwelle.

Der Minister sah ihr nach, bis der letzte rosige Schein der Gaze verschwunden und das flüchtige Klappern der kleinen Absätze hinter einer fernen Thür verklungen waren. Er schloß die Thür leise wieder, zog aber die Portière nicht zusammen – Portièren sind vortreffliche Schlupfwinkel für Lauscher.

„Mama ist sehr aufgeregt,“ sagte er scheinbar ruhig zu Gisela, die wie erstarrt und festgewurzelt noch auf derselben Stelle stand. „Die Furcht, daß ein plötzliches Hervorbrechen Deiner Anfälle die heutige Festlichkeit unangenehm stören könnte, bringt sie ganz außer sich. Dabei quält sie die Angst, Dein unvorbereitetes Erscheinen am Hofe könne Dich und uns rücksichtlich Deiner großen Unerfahrenheit in Welt und Leben in endlose Verlegenheiten und Unannehmlichkeiten verwickeln. … Sie hat ja keine Ahnung, die arglose Frau, daß diese Vorstellung bei Hofe nie stattfinden kann und wird – diese Beruhigung aber darf ich ihr nicht einmal geben – sie muß aus Deinem Munde kommen, Gisela!“

Er griff wieder nach ihrer Hand und nahm sie zwischen die seinigen – diese eisigen Finger zitterten, und als das junge Mädchen erstaunt forschend in das fahle Gesicht des Stiefvaters sah, da wichen die Augäpfel unter den schlaffen Lidern seitwärts. Mit sanfter Gewalt zog er Gisela neben sich auf ein Sopha, sprang aber noch einmal auf, öffnete die Thür nach dem Corridor und überzeugte sich, daß derselbe menschenleer sei.

„Es handelt sich um ein Geheimniß,“ sagte er zurückkehrend mit gedämpfter Stimme, „um ein Geheimniß, dem ich nur dies eine Mal Worte geben darf – sie sollen von meiner Lippe zu Deinem Ohr gelangen, dann aber muß ihr Klang erlöschen für alle Zeiten … Armes Kind, ich hätte Dir von Herzen gern noch ein Jahr der ungebundenen Freiheit gegönnt – leider trägst Du selbst die Schuld – Dein unüberlegter Ritt giebt Deinem Leben eine überraschend schnelle Wendung; ich bin gezwungen das auszusprechen, was ich am liebsten für immer und ewig verschwiegen hätte. …“

Diese Einleitung war geheimnißvoll, dunkel wie die Nacht selbst und wohl geeignet, ein unerfahrenes achtzehnjähriges Mädchengemüth einzuschüchtern. Jener furchtsame Schrecken, der uns überrieselt angesichts einer Nachricht, welche das Schlimme nicht direct bringt, sondern es erst in unheimlicher, halbverwischter Perspective auftauchen läßt, er schlich auch lähmend durch die Glieder der jungen Dame; gleichwohl veränderte sich kein Zug des erblaßten Gesichts. Athemlos aufhorchend, die braunen Augen voll Mißtrauen, saß sie ihrem Stiefvater gegenüber – sie glaubte der trauervollen, einschmeichelnden Stimme nicht mehr, seit sie wußte, daß sie spitz und einschneidend werden konnte, wie ein scharfgeschliffener Dolch.

Er deutete nach dem Bild ihrer Mutter. Jetzt hatten sich ihre Augen bereits an das gedämpfte Licht des Zimmers gewöhnt; sie sah die Contouren der Gegenstände kräftiger hervortreten; auch die helle Gestalt mit dem blumengeschmückten Haupt hob sich aus dem Schatten, die seelenvollen Augen lächelten nach ihr hinüber, und man hätte meinen können, die gehobene blumengefüllte Hand wolle die blühenden Lieblinge der verwaisten Tochter zuwerfen.

„Du warst noch sehr jung, als sie starb – Du hast sie nie gekannt,“ sagte der Minister weich. „Und deshalb konnten wir uns bei Deiner Erziehung auch weniger auf ihr Andenken, als auf das Deiner Großmama beziehen. … Aber sie war ein Engel, sanft und fromm wie eine Taube – ich habe sie sehr geliebt!“

Ein ungläubiges Lächeln glitt flüchtig Über das Gesicht des jungen Mädchens – er hatte den „Engel“ sehr schnell vergessen über dem furienhaften Geschöpf, das dort eben zur Thür hinausgeflogen war. Das Bild hing unbeachtet in diesem Zimmer, welches Seine Excellenz nach jahrelanger Unterbrechung immer nur auf wenige Tage benutzte, während im Ministerhôtel zu A. die dämonisch schwarzen Augen der zweiten Gemahlin über seinem Schreibtisch funkelten.

[356] „Sie ist bis jetzt einflußlos auf Dein Leben gewesen,“ fuhr er fort. „Von nun an aber wirst Du einen Weg gehen, den sie Dir selbst, kurz vor ihrem frühen Tode, mit fester, sicherer Hand vorgezeichnet hat. Das darauf bezügliche Schriftstück liegt in A. – es soll in Deine Hände gelangen, sobald ich nach der Stadt zurückgekehrt sein werde.“

Er hielt inne, als erwartete er irgend einen unterbrechenden Ausruf, eine Frage seiner Stieftochter; allein sie schwieg beharrlich und erwartete scheinbar gelassen die weitere Entwicklung seiner Mittheilungen. Er sprang in sichtlicher Ungeduld auf und ging rasch einmal im Zimmer auf und ab.

„Du weißt, daß der größte Theil der Völdern’schen Besitzungen vom Prinzen Heinrich herstammt?“ fragte er, plötzlich stehenbleibend, in so kurzem, unumwundenem Ton, als gelte es, mittels eines einzigen Hiebes den dunklen Knoten durchzuhauen.

„Ja, Papa!“ entgegnete Gisela, den Kopf neigend.

„Du weißt aber nicht, auf welche Weise sie in die Hände der Großmama gekommen sind?“

„Man hat nie mit mir darüber gesprochen; aber ich kann mir selbst sagen, daß sie die Güter gekauft haben wird,“ versetzte sie vollkommen ruhig und harmlos.

Ein häßliches Lächeln zuckte um den Mund Seiner Excellenz. Er setzte sich rasch wieder nieder, ergriff die schlanken Hände, die gefaltet auf den Knieen der jungen Dame lagen, und zog sie vertraulich an sich heran.

„Komm einmal her, mein Kind,“ flüsterte er, „ich habe Dir Etwas zu sagen, das voraussichtlich Dein unschuldiges Gefühl für einen Augenblick alteriren wird. … Aber ich füge ausdrücklich hinzu, daß dergleichen Fälle zu Tausenden Vorkommen, und daß die Welt sie sehr nachsichtig beurtheilt. … Du bist achtzehn Jahre alt – man kann und darf nicht immer Kind bleiben hinsichtlich gewisser Begriffe – die Großmama war die Freundin des Prinzen. …“

„Das weiß ich, und so wie ich dieses Freundschaftsverhältniß beurtheile, muß er sie verehrt haben wie eine Heilige!“

„Denke Dir die Sache minder heilig, mein Kind –“

„O Papa, wiederhole das nicht!“ unterbrach sie ihn in flehendem Ton. „Ich weiß es ja seit gestern, daß die Großmama – wenig Herz gehabt hat.“

„Zu wenig? …“ Er bog sich lächelnd zurück – zahllose Linien und Runzeln gruben sich für einen Moment in das Steingesicht, es konnte überraschend ausdrucksvoll und sprechend sein, sobald es frivol wurde. „Zu wenig?“ wiederholte er nochmals. „Wie soll ich das verstehen, meine Kleine?“

„Sie war schlimm gegen die Nothleidenden – sie hat gedroht, die Armen mit Hunden forthetzen zu lassen.“

Der Minister sprang abermals auf – diesmal jedoch in ausbrechendem Zorn. Sein Fuß stampfte den Boden, und auf der Lippe schien ihm eine Verwünschung zu schweben.

„Wer hat Dir diese Schnaken in den Kopf gesetzt?“ rief er grimmig. Er sah sich weit vom Ziel zurückgeschleudert – die unschuldige Kindesseele entfaltete ihre weißen Flügel, sie schwebte über ihm und machte es ihm sehr schwer, den Schmutz seiner Erfahrungen, seines Weltwitzes auf ihr fleckenloses Gefieder zu schleudern.

„Nun denn,“ – sagte er nach einer kurzen Pause stirnrunzelnd, indem er sich mit einer ungeduldigen Bewegung wieder niederließ – „wenn Du es durchaus so willst, die Großmama war also die Heilige des Prinzen – er liebte sie so abgöttisch, daß er in den Zeiten seiner höchsten Verehrung ein Testament verfaßte, in welchem er seine Verwandten verstieß und – die Gräfin Völkern zur Universalerbin einsetzte.“

Jetzt kam eine lebhafte Bewegung in die Züge des jungen Mädchens – sie hob unterbrechend die Hand – „Natürlicherweise hat die Großmama gegen eine solche Ungerechtigkeit energisch protestirt!“ sagte sie in athemloser Spannung, aber doch mit unerschütterlicher Zuversicht.

„O Kind, es kommt ganz anders, als Du denkst! … Das muß ich Dir übrigens sagen, die ganze Welt würde gelacht haben, wenn die Großmama in Deinem Sinn gehandelt hätte – gegen die Annahme einer halben Million protestirt man nicht so ohne Weiteres, Liebchen! … In diesem Fall ist das Verhalten der Großmama, welches die Erbschaft ruhig acceptirte, nicht im Entferntesten anzutasten – der Fehlende war Prinz Heinrich, nicht sie! … Dagegen kommen wir jetzt an einen Punkt, den auch ich nicht entschuldige –“

„Papa, ich möchte lieber sterben, als diesen Punkt hören,“ fiel das junge Mädchen mit vollkommen klangloser Stimme ein. Sie saß da mit blutlosem Gesicht und zuckenden Lippen und lehnte den Kopf an das Sophapolster zurück.

„Herzenskind, es stirbt sich nicht so leicht. … Du wirst weiterleben, auch wenn Du diesen dunklen Punkt kennst, und wenn ich Dir rathen soll, so suchst Du ihn möglichst schnell wieder zu vergessen. … Das Testament des Prinzen lag also bereits seit Jahren da, und sein Verhältniß zu Deiner Großmama blieb ein ungetrübtes, bis sich plötzlich böswillige Einflüsterungen zwischen die beiden Menschen drängten – es geschah öfter, daß sie im Groll von einander schieden. … Da gab die Gräfin Völkern einen großen Maskenball in Greinsfeld – der Prinz war nicht erschienen, – man hatte sich wieder einmal gezankt. … Plötzlich gegen Mitternacht wird der Großmama gesagt, Prinz Heinrich liege im Sterben – wer ihr die Nachricht zugeflüstert, weiß bis heute Niemand. – Sie stürzt aus dem Saal, wirft sich in einen Wagen und fährt nach Arnsberg – Deine Mutter, damals ein siebzehnjähriges Mädchen, das den Prinzen geliebt hatte, wie einen Vater, begleitete sie.“ …

Er schwieg einen Moment. Der gewiegte Diplomat zögerte doch unwillkürlich, ehe er den falschen Zug in dem entworfenen Bild weiter vertiefte. Er ergriff ein Flacon und hielt es an das todtenbleiche Mädchengesicht, das mit zugesunkenen Wimpern an dem Polster lehnte. Bei dieser Berührung fuhr Gisela, die Augen aufschlagend, empor – sie stieß seine Hand zurück.

„Mir ist nicht übel – erzähle weiter,“ sagte sie hastig, aber mit ungewöhnlicher Energie. „Meinst Du, es sei süß, auf der Folter zu liegen?“ Ein herzzerreißender Blick brach aus den braunen Augen.

„Das Ende ist rasch erzählt, mein Kind,“ fuhr er mit gedämpfter Stimme fort. „Aber ich muß Dich dringend bitten, den Kopf oben zu behalten – Du siehst sehr verstört aus! … Du wirst bedenken, wo Du bist, und daß gerade heute die Wände Ohren haben! … Der Prinz lag eben im Verscheiden, als die Gräfin Völkern athemlos an seinem Bett zusammenbrach; aber er hatte noch so viel Bewußtsein, sie hinwegzustoßen – er muß ihr bitter gegrollt haben. … Auf dem Tisch lag ein zweites, eben vollendetes Testament, unterschrieben von der Hand des Sterbenden und von den Herren von Zweiflingen und Eschebach, welche zugegen waren – es setzte das fürstliche Haus in A. zum Universalerben ein. … Ich selbst befand mich in jener verhängnißvollen Stunde auf dem Weg nach der Stadt, um den Fürsten zu einer Versöhnung an das Sterbebett zu holen. … Der Prinz starb, eine Verwünschung gegen die Großmama auf den Lippen, und eine halbe Stunde darauf warf sie – im Einverständniß mit den Herren von Zweiflingen und Eschebach – das neue, ebenvollendete Testament des Prinzen in die Kaminflamme und– trat die Erbschaft an!“ – – –

Gisela stieß einen markerschütternden Schrei aus. … Ehe es der Minister verhindern konnte, sprang sie empor, riß einen Fensterflügel auf und stieß die Jalousie zurück, so daß der letzte, volle Strahl der Abendsonne purpurn über Parquet und Wände hinfloß.

„Nun wiederhole mir im hellen Tageslicht, daß meine Großmama eine Verworfene gewesen ist!“ schrie sie auf – ihre süße, weiche Stimme brach in einem gellenden Aufschluchzen.

Wie ein Tiger stürzte sich der Minister auf das Mädchen und riß es vom Fenster hinweg, während er die bleichen, knöchernen Finger roh auf ihre zarten Lippen preßte.

„Wahnwitzige, Du bist des Todes, wenn Du nicht schweigst!“ stieß er zwischen den Zähnen hervor.

[382] Der Minister zog Gisela unwiderstehlich nach dem Sopha zurück – sie sank zwischen den Polstern zusammen und vergrub das Gesicht in den Händen. … Einen Moment stand er schweigend vor ihr, dann ging er langsam nach dem Fenster und schloß es wieder. Seine Füße glitten unhörbar über den Teppich, den sie eben noch wüthend gestampft, und die Fäuste, die vorhin den zarten Mädchenkörper in grimmer Kraft geschüttelt, legten sich geschmeidig, in ihrer vollendeten Anmuth und aristokratischen Schlankheit auf den Scheitel der Stieftochter – schneller kann das Raubthier seine Krallen nicht in das sammtene Fell zurückziehen, als dieser Mann seine thierisch wilde Heftigkeit nach außen hin zu maskiren verstand.

„Kind, Kind, in Dir steckt ein Dämon, der das friedfertigste Gemüth zur Wuth reizen kann,“ sagte er und zog ihr mit sanfter, behutsamer Berührung die Hände vom Gesicht. – „Kleine Unberechenbare! … Man wird förmlich überrumpelt und läßt sich im ersten Schrecken zu Ausdrücken hinreißen, von denen die Seele nichts weiß. … Rief ich nicht eben, Du seiest des Todes?“ – Er lachte laut auf. – „Classisch! Ein theatralischer Gemeinplatz, wie ihn der geharnischte Bühnenritter nicht wirksamer hinschleudern kann! Was Einem nicht Alles in der Herzensangst passirt! … Die aber habe ich eben gründlich durchgemacht, Gisela,“ fuhr er sehr ernst fort. „Alle diese plaudernden, lächelnden Menschen, die, Schmeichelei und Honigseim auf den Lippen, draußen das Schloß umkreisen, sie wären sofort zur lästernden, zeternden Meute geworden, wenn Dein unvorsichtiger Ausruf ihr Ohr erreicht hätte. … Dieses ganze erbärmliche Geschmeiß hat vor der glänzenden Gräfin Völdern im Staube gelegen – es hat seiner Zeit von den Reichthümern der schönen Frau vortrefflich zu zehren verstanden – nichts destoweniger ist gerade in diesem Kreise die geflüsterte Behauptung, die Völdernsche Erbschaft sei eigentlich ein Diebstahl gewesen, mit liebevollster Beharrlichkeit gepflegt worden.“

„Die Leute haben Recht – das Fürstenhaus ist auf die gemeinste Weise bestohlen worden!“ sagte Gisela mit dumpfer, aber leidenschaftlich ausbrechender Stimme – es klang mehr wie ein Aufstöhnen.

„Sehr wahr, mein Kind, aber kein menschliches Ohr darf das jemals hören. … Ich kenne bereits Deine unumwundene, rücksichtslose Art, Dich auszudrücken, ich bin ein Mann – kein zartempfindendes Mädchenherz – und Deiner Großmama nicht einmal blutsverwandt – und dennoch berührt mich der harte, wenn auch immerhin gerechte Ausspruch aus Deinem Munde wie ein Dolchstich – ich würde nie diese Worte für das Vergehen gefunden haben.“

Er hielt lauernd inne. Seine beißende Zurechtweisung übte nicht die geringste Wirkung auf das schöne, bleiche Gesicht neben ihm; es lag etwas Unerbittliches in den Linien, die den kindlich geschwellten Mund fremdartig umzogen.

„Glaube ja nicht,“ fuhr er rascher fort, „daß ich damit das geschehene Unrecht entschuldigen will – weit entfernt – ich sage im Gegentheil: Es muß gesühnt werden!“

„Es muß gesühnt werden,“ wiederholte das junge Mädchen, „und zwar sofort!“

Sie wollte aufspringen, aber der Minister hatte bereits seine Arme um ihre Taille geschlungen und hielt sie fest.

„Willst Du nicht die Freundlichkeit haben, mir mitzutheilen, wie Du das anzufangen gedenkst?“ fragte er, während sie angstvoll strebte, der verabscheuten Berührung zu entfliehen.

„Ich gehe zum Fürsten –“

„So – Du gehst zum Fürsten und sagst: ,Durchlaucht, da stehe ich, die Enkelin der Gräfin Völdern, und klage – ich klage meine Großmutter der Betrügerei an; sie war eine Verworfene, sie hat das fürstliche Haus bestohlen! … Was kümmert’s mich, daß mit dieser Anklage der edelste Name im Lande, eine lange Reihe tadelloser Männer gebrandmarkt wird, die im Leben ihren Namen als das höchste Kleinod rein bewahrt haben! – Was kümmert’s mich, daß diese Frau die Mutter meiner Mutter war, und meine ersten Lebensjahre treu behütet hat – ich will nur Sühne, augenblickliche Sühne, gleichviel, ob ich das haarsträubende Unrecht begehe, anzuklagen, wo ein todter Mund sich nicht mehr [383] vertheidigen kann! … Die Frau liegt still und stumm unter der Erde; sie muß die ganze, furchtbare Last der Schuld bis in alle Ewigkeit auf sich wälzen lassen, während sie vielleicht bei Lebzeiten viele Milderungsgründe in die Wagschale hätte werfen können!’ … Nein, mein Kind,“ fuhr er nach einer kurzen Pause mild fort, während welcher er vergebens sich bemüht hatte, das Mädchengesicht zu erforschen, das sich hinter den schmalen Fingern verbarg, „so rasch und rücksichtslos dürfen wir den Knoten nicht lösen, wenn wir uns nicht selbst der schwersten Sünde schuldig machen wollen. Es wird im Gegentheil noch so manches Jahr vergehen müssen, bis das erschlichene Erbe wieder in die rechtmäßigen Hände übergehen kann. Bis dahin gilt es, Opfer zu bringen, – sie werden übrigens nicht allein von Dir, sondern auch von mir verlangt, und ich füge mich freudig. … Arnsberg, das ich auf die rechtmäßigste Weise für baare dreißigtausend Thaler an mich gebracht habe, gehört auch in jene Erbschaftsmasse – ich werde testamentlich das Fürstenhaus als Erben des Gutes einsetzen und damit die Mama um ein bedeutendes Capital dereinst verkürzen – Du siehst, daß auch wir verurtheilt sind, für den Namen Völdern und das Andenken Deiner Großmutter zu leiden!“

Die junge Dame schwieg beharrlich – ihr verhülltes Gesicht sank immer tiefer auf die Brust.

„Und so wie ich, hat auch Deine Mutter, Deine gute, unschuldige Mutter, gedacht – das Vergehen darf nur stillschweigend gesühnt werden,“ sagte der Minister weiter. „Sie hat in jener Nacht, am Sterbebette des Prinzen knieend, das Unrecht mit ansehen müssen – sie ist durch das Leben gewandelt, das schlimme Geheimniß tief in der Brust – nie hat sie gewagt, die Großmama an den Vorgang zu erinnern, sie war zu schüchtern; aber bei jedem Kind, das ihr der Tod genommen, hat sie sich schaudernd gesagt, das sei das gerechte Walten der Nemesis! … Kurz vor ihrem Hinscheiden habe ich aus ihrem eigenen Munde erfahren, was ihre lieben Augen oft so unsäglich traurig und schwermüthig gemacht – ich darf Dir wohl sagen, mein Kind, ich habe oft und schwer unter dieser stummen Klage gelitten –“

„Ich möchte das Ende wissen, Papa!“ stieß Gisela hervor. Sie wollte tausendmal lieber die Stimme dieses Mannes drohend, zornig, schneidend vor Ingrimm, als in diesem vertraulich schmeichelnden Flüsterton hören.

„Also kurz und bündig, meine Tochter,“ sagte er eiskalt. Er lehnte sich steif und vornehm in die Kissen zurück. „Wenn es Dir so gefällt, werde ich einfach als Beauftragter referiren. … Deine Mutter hat mich autorisirt, Dir, als der einzigen Erbin des Völdernschen Besitzthums, im neunzehnten Lebensjahre das Geheimniß mitzutheilen, gleichviel, ob die Großmama diesen Zeitpunkt erlebe oder nicht. Wenn ich um ein Jahr vorgreife, so trägst Du selbst die Schuld – es gilt, Thorheiten Deinerseits vorzubeugen. … Deine Mutter hat ferner gewünscht, daß Du in strengster Abgeschiedenheit erzogen werdest jetzt wirst Du wissen; daß nicht allein Deine Kränklichkeit den einsamen Aufenthalt in Greinsfeld nöthig gemacht hat. … Der letzte Wille Deiner Mutter verlangt ein völlig entsagendes Leben von Dir, Gisela – Du wirst ihn ehren! Der Gedanke, daß durch Dich dereinst das schwere Unrecht ausgeglichen werden könnte, ohne daß der theure Name Völdern befleckt werde, hat ihr noch im letzten Augenblick ein Lächeln der Befriedigung abgerungen.“ …

Er zögerte; es wurde ihm jedenfalls nicht leicht, den Schwerpunkt der Mittheilungen in die geeignete Form zu kleiden.

„Wären wir in A.,“ fuhr er etwas rascher fort, während er zwischen den feinen Fingerspitzen die Enden seines Lippenbartes drehte, „dann bedürfte es meiner Auseinandersetzungen nicht – ich gäbe Dir die Papiere, die Deine Mutter in meine Hand gelegt hat; sie enthalten Alles, was mir jetzt Mühe und – Schmerz macht, auszusprechen. … Deinem jungen Leben werden von nun an engere Grenzen gezogen, als bisher – armes Kind! … Der vollständige Ertrag jener Güter, die Du unrechtmäßiger Weise besitzest, soll für die Armen im Lande verwendet werden; ich bin ausersehen, sie zu verwalten; dagegen habe ich die Verpflichtung Dir über Heller und Pfennig alljährlich Rechenschaft abzulegen. Bei Deinem Eintritt in die Abgeschiedenheit sollst Du mich scheinbar als Deinen Erben bezeichnen; ich aber habe sodann in meinem Testament die fraglichen Güter als ,dankbarer Freund’ dem Fürstenhause zu hinterlassen.“

Die Hände des jungen Mädchens waren vom Gesicht niedergesunken. Sie wandte mechanisch langsam den Kopf, und die erloschenen Augen hefteten sich starr auf den Mund des Sprechenden, der ein leises nervöses Beben in den Winkeln nicht zu unterdrücken vermochte.

„Und wie heißt die Abgeschiedenheit, in die ich eintreten soll?“ fragte sie, jedes Wort schwer betonend.

„Das Kloster, meine liebe Gisela! … Du sollst auch für die Seele Deiner Großmutter beten und sie von ihrer schweren Schuld erlösen.“

Jetzt schrie sie nicht auf – ein irres Lächeln flog über ihr Gesicht.

„Wie, in’s Kloster will man mich stecken? Zwischen vier enge, hohe Mauern? Mich, die ich im grünen Wald aufgewachsen bin?“ stöhnte sie. „Ich soll, so lange ich lebe, nur das eingeschlossene Stückchen Himmel über mir sehen? Ich soll ein ganzes Leben lang Tag und Nacht Gebete hersagen, immer dieselben Worte, die schon in den ersten Tagen eine sinnlose Plapperei werden? Ich soll mich zwingen, nicht mehr Gottes Ebenbild zu sein, sondern eine stumpfe Maschine, der man das Herz ausgerissen und den Geist zertreten hat? … Nein, nein, nein! …“

Sie sprang auf und streckte ihrem Stiefvater gebieterisch den Arm entgegen.

„Wenn Du wußtest, was mir bevorstand, dann mußte auch von meinem ersten Denken an Alles geschehen, mich mit meiner furchtbaren Zukunft vertraut zu machen – so aber habt ihr mich meinen eigenen Gedanken und Schlüssen überlassen, und ich will Dir sagen, wie ich über das Kloster denke! … Hat sich je der Mensch von Gott und von der klaren Vernunft weit verirrt, so ist es in dem Augenblick gewesen, wo er das Kloster erfunden! Es ist Wahnsinn, eine Anzahl Menschen in ein Haus zusammenzustecken, damit sie Gott dienen! … Sie dienen ihm nicht, sie verdrehen seine Absichten, denn sie lassen die Kräfte in Nichtsthun verwelken, die ihnen zur Arbeit gegeben sind. Sie schlagen das Pfund todt, das er ihnen hinter die Stirn gelegt hat, und je weniger sie denken, desto hochmüthiger sind sie und halten ihre Stumpfheit für Heiligkeit – sie arbeiten nicht, sie denken nicht, sie nehmen von der Welt und geben ihr nichts zurück – sie sind ein isolirter, unnützer, träger Menschenhaufe, der sich von den Arbeitsamen füttern läßt. …“

Der Minister stand auf; sein Gesicht war fahl wie das einer Leiche. Er ergriff den Arm des jungen Mädchens und bog ihn nieder.

„Besinne Dich, Gisela, und bedenke, was Du lästerst. Es sind geheiligte Institutionen –“

„Wer hat sie geheiligt? Die Menschen selbst. … Gott hat nicht gesagt, als er den Menschen schuf: ,Verstecke dich hinter Steinen und verachte alles, was ich der Welt Schönes und Herrliches gegeben habe?“

„Schlimm für Dich, mein Kind, daß Du in Dein neues Leben eine solche Philosophie mitbringst!“ sagte der Minister achselzuckend. Er stand mit verschränkten Armen vor ihr. Einen Moment maßen sich die vier Augen, als wolle Jedes die Kraft des Anderen angesichts des ausbrechenden Sturmes prüfen.

„Ich werde nie in dieses neue Leben eintreten, Papa!“ Diese Erklärung, die der blasse Mund des jungen Mädchens so entschieden und unumwunden hinwarf, entzündete eine wilde Flamme in den weitgeöffneten Augen Seiner Excellenz.

„Du wärst in der That so entartet, den Wunsch und Willen Deiner sterbenden Mutter zu mißachten?“ fuhr er auf.

Gisela trat vor das Bild ihrer Mutter?

„Ich habe sie nicht gekannt, und doch weiß ich, wie sie gewesen ist,“ jagte sie. Ihre Lippen zuckten, und ihr ganzer Körper fieberte, aber die Stimme klang fest und sanft. „Sie ist mit ihren kleinen Füßen über die Wiesen gelaufen und hat Blumen gesucht, so viel, so viel, daß die Hände sie nicht mehr fassen konnten. Sie hat zum blauen Himmel aufgejubelt und hat Alles geliebt, den Sonnenschein, die Blumen, die ganze, weite Welt und die Menschen, die d’rin sind! Hätte man sie in ein finsteres, kaltes Haus gesteckt, sie würde mit den Händen verzweifelnd gegen die Mauern geschlagen haben, um sich zu befreien. … Und diese glückseligen Augen sollen mit dem finstern Wunsch auf mir geruht haben, das arme, kleine, unschuldige Leben dereinst lebendig eingemauert zu wissen?“

„Du siehst sie hier als Braut, Gisela! Da ist freilich das [384] Gesicht noch sonnig – ihr späteres Leben war sehr ernst und wohl geeignet, sie Maßregeln für den Lebensgang ihres Kindes ergreifen zu lassen –“

„Durfte sie das? … Ist wirklich den Eltern die Macht verliehen, in den Jahren, wo ihr Kind die Augen kaum für die Welt geöffnet hat, wo sie seine Seele noch gar nicht kennen, zu sagen: ,Wir verurtheilen dich zu lebenslänglichem Kerker!‘? Ist es nicht der grausamste Egoismus, ein völlig schuldloses Geschöpf die Sünden seiner Vorfahren abbüßen zu lassen? …“

Sie strich sich mit beiden Händen über die Stirne, hinter der es klopfte und hämmerte.

„Aber es soll so sein, wie meine Mutter wünscht,“ sagte sie nach einem tiefen Athemholen. „Ich will schweigen und das schlimme Geheimniß wie sie weiterschleppen, – die veruntreuten Güter sollen einst durch ‚Erbschaft‘ wieder an das fürstliche Haus zurückfallen. … Ich will einsam leben – wenn auch nicht im Kloster. …“

Der Minister, dessen Züge sich anfänglich geglättet hatten, prallte förmlich bei diesem Schlusse zurück.

„Wie“ – stieß er hervor.

„Der Ertrag der Besitzungen soll bis zu meinem Ende an die Armen des Landes vertheilt werden, aber durch mich selbst,“ unterbrach sie ihn gelassen. „Ich will auch, soviel ich vermag, die Seele meiner Großmutter von ihrer Schuld erlösen, wenn auch nicht durch das Beten des Rosenkranzes. … Papa, ich weiß, daß ich Gott nicht besser dienen kann, als wenn ich für die Menschen lebe, wenn ich alle Kräfte –“

Ein gellendes Auflachen unterbrach sie – es hallte grausig von den Wänden wider.

„O edle Landgräfin von Thüringen, ich sehe schon, wie sie in das Greinsfelder Schloß einziehen, die Bettler und Krüppel! Ich sehe, wie Du zum Nutzen und Frommen der darbenden und leidenden Menschheit dünne Armensuppe kochst und lange wollene Strümpfe strickst! Ich sehe auch, wie Du heldenmüthig den Entschluß festhältst, vor den Augen der spöttelnden Welt als alternde Jungfrau einherzuwandeln … aber da klopft eines schönen Tages ein edler Ritter an die Herberge der Elenden, und – vergessen ist der ‚Gott wohlgefällige‘ Dienst, vergessen der letzte Wille der Mutter – die Armen zerstreuen sich nach allen vier Winden, der neue Gebieter von Greinsfeld acceptirt als Mitgift seiner Gemahlin den erschlichenen Nachlaß des Prinzen Heinrich, und – das fürstliche Haus in A. wischt sich den Mund! … Einfältiges Geschöpf,“ fuhr er grimmig fort – es klang wie das Knurren des tiefgereizten Raubthieres – „meinst Du, weil ich Dir in unbegreiflicher Geduld und Langmuth Zeit lasse, Deine Mädchenweisheit auszukramen, ich beuge mich nun auch pflichtschuldigst Deinem geistreichen Endbeschluß? … Du wagst wirklich zu denken. Dein eigener Wille käme in Betracht, wenn ich Dir gegenüberstehe mit einem unumstößlichen Gebot? … Du hast nichts zu denken, zu fühlen, zu wünschen – Du hast einfach zu gehorchen; Du hast einen einzigen Weg vor Dir, und weigerst Du Dich, ihn zu gehen, so werde ich Dich führen – hast Du mich verstanden?“

„Ja, Papa, ich habe Dich verstanden, aber ich fürchte mich nicht – Du hast nicht die Macht, mich zu zwingen!“

Er hob in sprachlosem Grimm den Arm. Das junge Mädchen, wich vor dieser drohenden Bewegung nicht um einen Schritt zurück. „Du wirst es nicht noch einmal wagen, mich zu berühren!“ sagte sie mit flammenden Augen, aber ruhiger, unerschütterter Stimme.

In demselben Augenblick wurde draußen geklopft – in der geräuschlos geöffneten Thüre erschien ein Lakai.

„Seine Durchlaucht der Fürst!“ meldete er mit einem tiefen Bückling.

Der Minister stieß einen halblauten Fluch aus. Dennoch trat er sofort bewillkommnend an die Schwelle, während der Lakai die Thür weit zurückschlug.

„Aber, mein lieber Fleury, was soll ich denken?“ rief der Fürst in das Zimmer tretend; sein Ton klang scherzend, allein auf der Stirn lag eine Wolke, und die kleinen grauen Augen konnten die Symptome des Mißmuths nicht verbergen. „Haben Sie ganz vergessen, daß drüben im Walde die ganze schöne Welt von A. darauf brennt, Sie zu verherrlichen? Das weiße Schloß ist bereits menschenleer, und Sie lassen warten? … Dazu meldet man mir vor einer Stunde, unsere schöne Gräfin sei angekommen, ich aber sehe keinen Schatten von ihr, während Sie doch wissen, daß sie an meinem Arm zum ersten Mal in die Welt eintreten soll!“

Gisela, die bis dahin im verdunkelten Hintergrund gestanden hatte, trat vor und verbeugte sich.

„Ah, da sind Sie ja!“ rief Serenissimus erfreut und streckte ihr beide Hände entgegen. „Mein bester Fleury, ich könnte wirklich böse werden! Frau von Herbeck“ – er wandte sich nach der offenen Thüre zurück; draußen im Corridor stand in schüchtern wartender Haltung die Gouvernante – „Frau von Herbeck sagt mir, daß die Gräfin bereits seit einer vollen Stunde hinter dieser Thüre verschwunden sei.“

„Durchlaucht, ich hatte meiner Tochter wichtige Mittheilungen zu machen,“ unterbrach ihn der Minister. Vielleicht stand er Serenissimus zum ersten Mal nicht in der unterwürfigen Diplomatenhaltung gegenüber – der Blick des fürstlichen Herrn fuhr erstaunt über das Gesicht, das alle seine steinerne Ruhe verloren hatte und rückhaltslos eine tiefe Gereiztheit widerspiegelte.

„Mein lieber Freund, Sie werden doch nicht denken, daß ich tactlos in Ihre Familienangelegenheiten eindringen will!“ rief er verlegen. „Ich ziehe mich sofort zurück –“

„Ich bin zu Ende, Durchlaucht,“ entgegnete der Minister, „Gisela, fühlst Du Dich wohl und stark genug?“ – ein drohender Blick bohrte sich in das Gesicht des jungen Mädchens.

Frau von Herbeck hatte für dergleichen Blicke ein bewunderungswürdiges Verständniß.

„Excellenz, wenn ich rathen darf, so kehrt die Gräfin ohne Weiteres nach Greinsfeld zurück,“ sagte sie, plötzlich hinzutretend.

„Sie sieht schrecklich aus –“

„Kein Wunder!“ rief der Fürst unwillig. „In diesem Zimmer herrscht eine Luft zum Ersticken. Wie Sie eine volle Stunde hier ausgehalten haben, ist mir unbegreiflich, mein Kind!“

Er reichte Gisela den Arm. Sie wich scheu zurück, und ihre Augen irrten am Boden. Sie sollte unbefangen mit ihm verkehren, der so schmählich hintergangen worden war … sie war Mitwisserin des abscheulichen Verbrechens und mußte schweigend mitspielen in der Komödie – ihre ganze Seele gerieth in einen unbeschreiblichen Aufruhr.

„Die Waldluft wird Sie sofort herstellen,“ sagte der alte Herr gütig und ermuthigend, indem er ihre bebende Hand ergriff und sie auf seinen Arm legte.

„Ich bin nicht krank, Durchlaucht,“ entgegnete sie fest, wenn auch mit schwacher Stimme, und folgte ihm hinaus in den Corridor, während der Minister, nach seinem Hut greifend, eine reizende Porcellanstatuette umstieß – sie zerschmetterte auf dem Fußboden in tausend Scherben.

[385]
26.

Der alte deutsche Wald am See, der bisher zur Nachtzeit nur die falben Mondstrahlen auf seinen Wipfeln und über die moosige Decke zu seinen Füßen hatte tanzen sehen, sollte heute Nacht einen buntfarbigen Traum haben. Fürstliches Gold und durchlauchtigste Befehle hatten auch hier wieder einmal die glänzenden Eigenschaften der Wünschelruthe gezeigt – in wenig Stunden war die Waldwiese bis zur Unkenntlichkeit verwandelt worden. Jetzt, im letzten Schein der Abendsonne mochten freilich diese Vorbereitungen zu einer brillanten Illumination ziemlich [386] nüchtern und unscheinbar aussehen; wenn aber erst alle diese Sternenkränze und farbenschimmernden Ballons in die Sommernacht hineinglühten, dann durfte der alte Wald schon meinen, die Gnomen hätten ein Stück unterirdischer Feenwelt emporgehoben, um seine scheuen Dryaden zu blenden.

Der Wink des Fürsten hatte viel Glanz, Reichthum und Schönheit auf dem kleinen Wiesenplan versammelt. Freilich die allerschönsten und jüngsten Damen waren noch nicht sichtbar – sie sollten als Elfen, Zigeunerinnen, Räuberbräute und was sonst der Wald an poetischen und phantastischen Gestalten besitzt, im lebenden Bild erscheinen. Ein Purpurvorhang spannte sich vor mehrere der prächtigen Eichenstämme, um im geeigneten Moment droben unter dem Laubdach zu verschwinden und das festgezauberte Bild der Jugend und Schönheit inmitten lebender, naturwüchsiger Dekorationen zu zeigen – ein pikanter Gedanke, den künstlerische Hände bis in die feinsten Details auszuführen gesucht hatten.

Alle diese Anstalten zu einem glänzenden Fest ließen nichts zu wünschen übrig, dagegen war man nicht sicher, ob es auch ungestört verlaufen werde. Man litt schwer unter einer entsetzlichen Hitze; Fächer und wehende Taschentücher waren unausgesetzt in Bewegung; selbst unter den Eichen und Buchen herrschte die ungemilderte Gewitterschwüle – kein Blatt regte sich; der sonst so bewegliche Spiegel des Sees lag glatt und träge wie geschmolzenes Blei in seinem Uferring, und der letzte Sonnenduft flog als okergelber Schein über den Himmel hin.

Langsam, mit nachdenklich gesenktem Kopf und die Hände auf dem Rücken verschränkt, kam der Portugiese vom Waldhause her. Er war auch einer der Geladenen, aber er gehörte nicht zu ihnen, die sich Alle ohne Ausnahme amüsiren wollten – dieses finster dräuende Gesicht warf einen Schatten vor sich her, wie die leise aufsteigenden Gewitterwolken am Horizont.

Dann und wann schwoll das Stimmengeräusch auf der Waldwiese empor wie das Brausen einer fernen Brandung und drang herüber auf den einsamen Waldweg – der Portugiese blieb jedesmal wie festgewurzelt stehen, und sein feuriges Auge drang durch das Dickicht mit dem Ausdruck der entschiedensten Abneigung; dennoch schritt er entschlossen weiter, wie Einer, der das ihm feindselige Element aussucht, um sich mit ihm zu messen.

Plötzlich rauschte es neben ihm im Gebüsch – eine reizende Zigeunerin stand vor ihm und vertrat ihm mit einer sehr energischen Haltung den Weg.

„Halt!“ rief sie und hielt ihm ein allerliebstes kleines Terzerol entgegen, das seine Abstammung von Pappe und Goldpapier nicht verleugnen konnte.

Sie trug eine schwarze Halbmaske vor dem Gesicht; allein die Stimme, die bei aller entwickelten Energie und Kühnheit doch ein wenig gezittert hatte, das runde Kinn mit dem Grübchen und der ganze lieblich geformte untere Theil der Wangen, der wie weißer, duftiger Sammet unter dem schwarzen Spitzenbart hervorschimmerte, ließen den Portugiesen nicht einen Augenblick im Zweifel, daß die schöne Hofdame vor ihm stehe.

„Mein Herr, es gilt weder Ihren Amethysten und Topasen, noch der Börse!“ sagte sie, indem sie sich bemühte, ihrer Stimme sonore Festigkeit zu geben. „Ich ersuche Sie, mich in Ihrer Hand lesen zu lassen!“

Schade, daß die blasse, ätherische Blondine den Triumph der Freundin nicht sehen konnte – der düstere Mann konnte allerdings lächeln, und wie interessant wurde sein schöner Kopf unter dem Sonnenschein, der die Züge flüchtig erhellte!

Er streifte den Handschuh ab und hielt die innere Fläche seiner Rechten hin.

Sie wandte blitzschnell den Kopf nach allen Seiten, und die Augen, die wie schwarze Diamanten aus der Maske funkelten, tauchten mißtrauisch in das Gebüsch. … Ihre feinen Finger bebten bedenklich, als sie die Hand des Portugiesen berührten.

„Ich sehe hier einen Stern,“ erklärte sie in scherzendem Ton, während sie scheinbar mit großer Aufmerksamkeit die Lineamente prüfte. „Er sagt mir, daß Ihnen sehr viel Macht über die Herzen der Menschen verliehen sei – selbst über fürstliche. … Aber ich darf Ihnen auch nicht verheimlichen, daß Sie dieser Macht allzu sehr vertrauen.“

Ein köstliches Gemisch von Ironie und Belustigung lag in dem feinen Lächeln, das abermals durch die Züge die Mannes zuckte. Er stand so überlegen vor der reizenden Wahrsagerin, daß sie sichtlich mit sich rang, um nicht aus ihrer Rolle zu fallen.

„Sie lachen mich aus, Herr von Oliveira,“ sagte sie, indem sie, seine Hand sinken lassend, verlegen das Terzerol wieder in den Gürtel steckte; „aber ich werde meine Behauptung motiviren. … Sie schaden sich durch Ihren – entschuldigen Sie, mein Herr – durch Ihren entsetzlich rücksichtslosen Freimuth!“

„Wer sagt Ihnen denn, schöne Maske, daß ich das nicht weiß?“

Die glänzenden Augen richteten sich erschrocken auf das braune Gesicht des Sprechenden.

„Wie – Sie könnten mit voller Absicht Ihren eigenen Vortheil mißachten?“ fragte sie in überstürzender Hast.

„Kömmt es nicht vor Allem darauf an, was ich für meinen Vortheil halte?“

Sie stand einige Secunden lang völlig rathlos da ihre Augen hingen am Boden – dennoch schien sie nicht gewillt, ihre Mission so rasch und erfolglos beendet zu sehen.

„Darüber kann ich freilich nicht mit Ihnen streiten,“ hob sie wieder an. „Sie werden mir jedoch den allgemein gültigen Satz zugeben, daß es nicht gut ist, Feinde zu haben.“ Sie griff abermals, wenn auch zögernd, nach seiner Hand und tippte mit dem Zeigefinger auf die innere Fläche derselben. „Und Sie haben Feinde, schlimme Feinde,“ fuhr sie, in den früheren halbscherzenden Ton verfallend, fort. „Da sehe ich z. B. allein drei Herren, die den Kammerherrnschlüssel tragen – sie bekommen Nervenschmerzen und Krämpfe, wenn sie demokratisches Element von ferne wittern – damit soll jedoch nicht gesagt sein, daß ich nicht auch eine entschiedene Feindin desselben bin – auch ich darf freimüthig sein, nicht wahr, mein Herr? … Jene Drei sind indeß weniger gefährlich. … Da ist aber eine ältere Dame, sie gilt viel bei Seiner Durchlaucht, hat sehr kluge Augen und eine scharfe, feine Zunge’ –“

„Aus welchem Grunde beehrt mich die Frau Gräfin Schliersen mit ihrem Haß? –“

„Still, mein Herr! Keinen Namen! Ich beschwöre Sie!“ rief die Hofdame entsetzt mit unterdrückter Stimme. Ihr schöner Kopf machte abermals jene blitzschnellen Schwenkungen nach allen Seiten hin, und im ersten Schrecken sah es aus, als wolle sie dem Portugiesen die kleine Hand auf den Mund legen. – „Die Dame beschützt die Frommen im Lande und kann Ihnen die vier Judenkinder in Ihrem Erziehungshaus nicht vergeben –“

„Also die Frau mit den klugen Augen und der scharfen feinen Zunge sitzt im Regiment –“

„Sicher – und hat bedeutenden Einfluß. … Sie kennen den Mann mit dem Marmorgesicht und den langen, schlaffen, Augenlidern –“

„Ah, der Mann, der vierzig Quadratmeilen und einhundertfünfzigtausend Seelen vertritt und sich à la Metternich oder Talleyrand geberdet –“

„Er wird heftig, wenn man Ihren Namen nennt, mein Herr – schlimm, sehr schlimm und doppelt bedenklich für Sie, als Sie ihm durch eine Unvorsichtigkeit bei unserem allerhöchsten Herrn leider ein williges Ohr verschafft haben –“

„Ei – waren meine Verbeugungen reglementswidrig? –“

Sie wandte sich unwillig ab.

„Herr von Oliveira, Sie machen sich lustig über unseren Hof,“ sagte sie gekränkt, aber auch zugleich mit einem Anflug von Impertinenz. „Übrigens, so klein er ist, es scheint doch, daß Sie, nach Ihrer eigenen gestrigen Aussage, die Erfüllung mancher Wünsche von ihm erwarten – wenn ich nicht irre, haben Sie sich eine geheime Audienz erbeten –“

„Sie irren sich doch, scharfsinnige Maske – die Audienz soll mit Nichten eine geheime sein – aber eine besondere – am liebsten nähme ich den weiten, freien Himmel und tausend Ohren als Zeugen dazu.“

Sie sah mit scheuem Forschen in das Gesicht, das sie vollständig im Zweifel ließ, ob er spotte oder ob er sich wirklich herablasse, ihr eine Mittheilung zu machen.

„Nun denn,“ erklärte sie bestimmt und mit einer für eine Hofdame fast unbegreiflichen Rückhaltslosigkeit, „ich kann Ihnen versichern, daß diese Audienz, gleichviel ob im weißen Schloß [387] oder in der Residenz zu A. oder unter Gottes freiem Himmel, schwerlich stattfinden wird –“

„Ah –“

„Sie haben gestern auf dem Heimweg von Greinsfeld behauptet, ein frommer Feldherr sei eine Absurdité?“

„Ei, war der Ausspruch so interessant, daß ihn bereits die Damen des Hofes wissen? … Ich habe gesagt, meine Dame, daß mich das beständige Citiren des Namens und der Gnade Gottes im Munde eines Soldaten, der mit Passion Soldat sei, anwidere – das Sinnen auf Mord und Todtschlag der Menschen und wiederum die inbrünstige Hingebung an den, der jeden dieser Hingeschlachteten als Vater liebe, seien für mich unvereinbar; es käme dabei nur ein Drittes heraus: die Frömmelei. … Und was weiter?“

„Was weiter? Aber um’s Himmelswillen, wissen Sie denn nicht, daß Serenissimus mit Leib und Seele Soldat ist, daß er am liebsten alle seine Landeskinder uniformirte?“

„Ich weiß es, schöne Maske.“

„Und auch, daß der Fürst um Alles nicht für unfromm gelten möchte?“

„Auch das.“

„Nun, das mache mir Jemand klar! Ich verstehe Sie nicht, Herr von Oliveira. … Sie haben sich mit einem einzigen Tag am Hofe zu A. unmöglich gemacht“ fügte sie mit sinkender Stimme hinzu.

Die junge Dame war sichtlich traurig und bewegt. Sie legte die Hand an das Kinn und sah mit gesenktem Kopfe auf die Spitze ihres goldgestickten Stiefelchens.

„Sie kennen, wie ich sehe, die Eigenthümlichkeiten des allerhöchsten Herrn so gut wie ich,“ fuhr sie nach einem sekundenlangen Schweigen fort. „Es ist deshalb wohl eigentlich überflüssig, Ihnen zu sagen, daß er nichts thut, ja, fast nichts denkt ohne den Mann mit dem Marmorgesicht und den schlaffen Augenlidern – Sie werden wissen, daß es unmöglich ist, zu seiner Person zu dringen, wenn es dieser Mann nicht will – aber neu ist es Ihnen doch vielleicht, daß derselbe Ihre Audienz bei Serenissimus nicht will. … Sie haben nur noch heute Gelegenheit, den Fürsten von Angesicht zu Angesicht zu sehen – benutzen Sie die Zeit! …“

Es schien, als wolle sie in das Gebüsch zurückschlüpfen, allein sie wandte sich noch einmal um.

„Mein Herr, Sie werden das Maskengeheimniß ehren?“

„Mit unverbrüchlichem Schweigen.“

„Dann leben Sie wohl, Herr von Oliveira!“ Das kam schwach, fast wie ein Seufzer von den Lippen der jungen Dame. Gleich darauf verschwand die reizende Gestalt im Dickicht – nur das purpurrothe Käppchen mit den Perlenbehängen leuchtete noch dann und wann über dem Buschwerk.

Oliveira setzte seinen Weg fort. Hätte die schöne Hofdame noch einen Blick auf dieses entschlossene Gesicht zurückwerfen können, sie würde sich triumphirend gesagt haben, daß ihre Mission nicht ohne Erfolg geblieben sei.

Auf der Waldwiese machte das Erscheinen des Portugiesen große Sensation. Das Durcheinander der Stimmen sank für einen Moment zum Flüstern herab. Die Damen drängten sich in Gruppen zusammen, und ihr Geberdenspiel, die unsägliche Neugierde in den hinüberstarrenden Augen waren in der That nicht minder ausdrucksvoll, wie das unverblümte Bezeichnen eines Gegenstandes, das die Naturkinder mit dem Zeigefinger bewerkstelligen.

Die drei Besitzer des Kammerherrnschlüssels schüttelten dem Ankommenden in sehr biederer Weise die Hand und übernahmen das ermüdende Werk der Vorstellung mit aller Selbstverleugnung und Anmuth der geborenen Cavaliere. Zum Glück für den „interessanten Bewohner des Waldhauses“ wurde der Schwall von Namen, der um seine Ohren flog, wie durch einen Zauberschlag unterbrochen – man stob auseinander und reihte sich bescheiden, in dichtgedrängten Colonnen am Saum des Waldes hin – der Fürst war in Sicht.

Die Meisten von denen, die jetzt ihre Augen erwartungsvoll auf den vom See herlaufenden Weg hefteten, hatten einst mit der Gräfin Völdern verkehrt. Die Herren, fast ohne Ausnahme, waren enthusiastische Bewunderer ihrer Schönheit gewesen und konnten sie nicht vergessen. Freilich waren in ihrer Erinnerung üppige Pracht und das gefährliche Weib identisch – sie hatten die herrlichen Formen nie anders gesehen, als umwogt von Spitzengeweben, oder in strahlender Seidenhülle – und doch, als das Mädchen im züchtigen weißen Kleide am Arm des Fürsten den Festplatz betrat, da klang der Name des längst Begrabenen von allen Lippen.

Seiner Durchlaucht Gesicht strahlte vor Vergnügen über die gelungene Ueberraschung. „Gräfin Sturm!“ berichtigte er mit lauter Stimme die Ausrufungen, indem er auf Gisela zeigte. „Unsere kleine Gräfin Sturm, die sich nur in das traurige Krankenzimmer zurückgezogen hat, um dereinst die Welt als reizender Schmetterling zu überraschen.“

Man drängte sich beglückwünschend um die junge Dame – man beachtete nicht, daß das liebliche Gesicht todtenblaß und kalt blieb, daß die Augen am Boden hingen, als seien die Wimpern thränenschwer – es war reizende Verwirrung und Befangenheit und machte die Erscheinung doppelt anziehend; das Bild des glänzenden, stolz und sicher einherrauschenden Gräfin Völdern erblich neben dieser jugendlichen Anmuth und Verschämtheit. … Niemand sah, wie sich für wenige Sekunden der Bühnenvorhang theilte, wie zwischen den purpurnen Falten eine bleiche zornig gefaltete, diademgeschmückte Stirne und zwei funkelnde schwarze Augen erschienen, die in verzehrendem Haß die vielumworbene Mädchenerscheinung suchten.

„Nun, lieber Baron, was sagen Sie zu diesem ersten Auftreten?“ fragte der Fürst triumphirend den Minister, während er Gisela nach einem Sitzplatz führte.

Die Gesichtsfarbe Seiner Excellenz spielte wieder in’s Grünliche, wie Frau von Herbeck zitternd bemerkte – die steinerne Ruhe der Züge aber erschien tadellos.

„Ich sage, daß ich zu den Skeptikern gehöre, Durchlaucht,“ entgegnete er mit einem kalten Lächeln, „daß ich mich zu dem abgedroschenen, aber unstreitbar wahren Gemeinplatz bekenne: ,Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben.’ … Ich traue der Sache so wenig, wie dem Himmel, der uns unfehlbar einen Platzregen in die Illumination schicken wird.“

Der Fürst warf einen besorgten, aber auch undignirten Blick nach dem rücksichtslosen Himmel, an welchem eben der letzte Abendschein verblaßte. Die Ausläufer einiger Wolken, die bis dahin wie ein zartgelb gefärbten Flaum über den Waldwipfeln gehangen hatten, verdunkelten sich plötzlich und nahmen einen bedenklichen Charakter an. Nichtsdestoweniger gab der Fürst das Zeichen zum Beginn des Festes, und mit ihm erbrauste die Jubelouvertüre von Weber aus dem Dickicht – Serenissimus hatte die vortreffliche Hofcapelle aus A. hierher berufen.

Der Fürst ging während des Musikstückes umher und begrüßte seine Gäste. Er kam auch in Oliveira’s Nähe; allerdings verfinsterte sich sofort seine Stirn, und die kleinen, grauen Augen nahmen eine gewisse Starrheit an; allein es mußte eine zwingende Macht in den imposanten Erscheinung des merkwürdigen Fremden liegen, eine Ueberlegenheit, der gegenüber weder Herablassung, noch ein verächtliches Ignoriren möglich war.

Die Gräfin Schliersen, die, eine athemlose Spannung in den Zügen, unfern gestanden hatte, rauschte plötzlich indignirt weiter, und auf dem grünlichen Gesicht Seiner Excellenz erschien jenes verächtliche Lächeln, mit welchem er über die „Schwäche“ seiner fürstlichen Herrn und Freundes hinwegzusehen pflegte. … Man hatte einen Eclat erwartet, man hatte sicher vorausgesetzt, Serenissimus werde wortlos vorüberschreitend den Portugiesen mit jenem starren Blick fixiren, der den Betroffenen in den tiefsten Abgrund fürstlicher Ungnade schleudern, und infolge dessen er sich schleunigst entfernen mußte … und nun vergaß der alte schwache Herr plötzlich, daß dieser Mann ihn schmählich beleidigt hatte – er begrüßte ihn mit einem freundlichen Handwinken und sprach mit ihm, wie mit allen Anderen.

Mittlerweile litt eine junge Mädchenseele tausend Schmerzen. Alle die fremden Stimmen, die mit süßen Schmeicheleien auf Gisela eindrangen, peinigten sie. Hatte nicht ihr Vater gesagt, daß gerade diese Menschen den Verdacht des Betruges ihrer Großmutter gegenüber unerbittlich und geflissentlich festhielten und deshalb das schlimme Gerücht nicht sterben ließen? … Und nun schwärmten sie für „die göttergleiche Gräfin“, die sie alle zärtlich geliebt und tief verehrt haben wollten! … Sie fühlte eine Art von Haß und Erbitterung gegen diese’ Menschen, die sämmtlich [388] die Larve der Convenienz vorgebunden hatten und mit schamloser Stirn ihre gleißenden Lügen als feine Gesittung, Anstand und Formenvollendung verkauften.

Und dort an einem Baume lehnte der Mann aus dem Waldhause in ungezwungener, fast nachlässiger Haltung. Er hatte sich sofort nach der Begrüßung des Fürsten isolirt. Seine Augen schweiften achtlos über die Menge hin – er schien nur dem wundervollen Orchester zu lauschen.

Gisela wagte nicht hinüberzusehen – sie wandte geflissentlich den Kopf seitwärts in dem Gefühl tiefster Schmach und Demüthigung. Jetzt wußte sie, weshalb er sie damals auf der Waldwiese mit allen Zeichen der Abneigung von sich gestoßen hatte – sie sagte sich ferner, daß er vollkommen berechtigt gewesen war, die Gastfreundschaft auf ihrem Grund und Boden zurückzuweisen – man nimmt nicht an, da, wo man verachtet! … Er kannte den schlimmen Leumund ihrer Großmutter, er wußte so gut, wie alle Versammelten hier, daß das Hauptvermögen der jungen Gräfin Sturm ein veruntreutes war – er, der stolze, unbestechliche Charakter, verachtete aus tiefster Seele ein Geschlecht, das eigentlich verdient hätte, am Pranger zu stehen, und welches doch, bei aller Gemeinheit seiner Gesinnung, in unbegrenztem Hochmuth die übrige Menschheit zu seinen Füßen sehen wollte – und sie war die letzte Vertreterin dieses Geschlechts; sie hatte, getreu den Traditionen des edlen Hauses, ebenfalls den Fuß auf den Nacken ihrer Untergebenen gesetzt, sie hatte gewähnt, durch ihre hochadelige Geburt hoch über Anderen zu stehen, während sich doch der eigentliche, wahre Adel unter den räuberischen Händen ihrer Großmutter spurlos verflüchtigt hätte. …

Und nun saß sie wie festgebunden da. Sie mußte schweigen, unverbrüchlich schweigen; sie durfte nicht zu dem einsamen Mann hinübergehen und, vor seiner Majestät niedersinkend, sagen: „Ich weiß, daß der Heiligenschein ein falscher war! – Ich leide unsäglich! Ich will mein ganzes Leben daran setzen, das Verbrechen jener Frau auszulöschen – nur nimm den Fluch der Verachtung von meinem Haupt!“

Sie saß regungslos da mit dem tiefernsten, todtenblassen Gesicht – und in der Menge ging es flüsternd von Mund zu Mund: „Schön, wunderschön ist das Mädchen; aber der Fürst irrt sich – sie ist nicht hergestellt!“

Das Dunkel brach so schnell herein, daß Aller Augen ängstlich den Himmel suchten. Allerdings hing eine grollende Wolkenschicht über den Wipfeln; allein noch bewegte sich kein Blättchen oder Zweiglein in jenem Wind, der jäh aufbraust und wie in gewaltigen Trompetenstößen den Ausbruch des Gewitters anzeigt. … Man that am besten, den unliebenswürdigen Himmel einstweilen noch zu ignoriren – über den mächtigen Pyramiden des köstlichen Fruchteises vergaß man die drückende Hitze, und in diesem Moment wurde ja auch das Tageslicht überflüssig. So plötzlich, als ob ein elektrischer Funke entzündend weiterspringe, flammten die Sternenkränze, Ballons und Fackeln auf und gossen bunte Lichtwogen über See, Waldwiese und den dräuenden Himmel.

Und nun begann die unvergleichliche Musik zum Sommernachtstraum. Der Purpurvorhang rauschte empor – da lag die ruhende Titania, bedient von ihren Elfen. … Nie hatte wohl jene diamantenfunkelnde Frau einen solchen Sieg gefeiert, wie in diesem Augenblick! Vergessen war das stille, bleiche Mädchen, das fürstliche Huld auf den Schild gehoben hatte, vergessen das neue, jugendkeusche Gestirn über dem verführerischen Weib, dessen wundervolle Formen sich weich und hingebend auf dem blumenbesäten Moosteppich hinstreckten.

Man jubelte und lärmte – immer wieder mußte sich der Vorhang erheben – Alles, was an Bildern folgte, ließ kalt; selbst die reizende Esmeralda-Sontheim erlitt eine empfindliche Niederlage.

„Schöne Titania, sind Sie zufrieden mit Ihren Erfolgen?“ fragte der Fürst, als die Baronin nach dem Schluß der Vorstellung am Arm ihres Gemahls vor Seiner Durchlaucht erschien.

Serenissimus war sehr rosiger Laune. Er hatte sich in den Zwischenpausen mit Gisela unterhalten und gefunden, daß sein Schützling zwar ein traurigernstes Mädchen, in ihren Antworten jedoch nicht minder schlagfertig sei, als weiland die geistvolle Gräfin Völdern.

„Ach Durchlaucht, ich würde vielleicht recht stolz und eitel geworden sein,“ versetzte die schöne Titania mit milder Stimme; „aber die Sorge hat mich wirklich an diese sogenannten Erfolge gar nicht denken lassen. … Ich habe, während ich unerbittlich still liegen mußte, nur mein armes Kind im Auge gehabt, meine kleine Gisela – sie sah so todtenbleich und leidend aus! Die Angst hat mich fast verzehrt! … Durchlaucht, ich fürchte, ich fürchte, mein Töchterchen ist seiner wohlthätigen Verborgenheit allzufrüh und sehr zu seinem Nachtheil entzogen worden … Gisela, mein Kind –“

Sie verstummte. Die junge Dame hatte sich erhoben – sie stand plötzlich ihrer Stiefmutter in wahrhaft königlicher Haltung gegenüber. Das so schmerzlich bedauerte bleiche Gesicht war mit einem flammenden Purpur übergossen, und die braunen Augen maßen die falsche, erbärmliche Komödiantin mit einem langen, verachtungsvollen Blick.

Jetzt war sie die Siegerin, das las Seine Excellenz ohne Mühe in den Zügen des Fürsten und der herandrängenden, lauschenden Menge.

„Gisela, keine Scene, wenn ich bitten darf!“ gebot er hervortretend mit finsterer Strenge – er selbst aber sah aus, als wollten ihm die Nerven treulos werden. „Du liebst es, Dich zu steigern – hier ist jedoch nicht der Ort, einen Ausbruch Deiner Krämpfe abzuwarten. … Frau von Herbeck, führen Sie die Gräfin ein wenig seitwärts, bis sie sich beruhigt haben wird!“

Das gequälte Mädchen wollte sprechen; aber jählings zusammenschreckend, schloß sie die bebenden Lippen wieder.

„Ist diese Diamantenpracht echt, Excellenz?“ fragte in demselben Augenblick die tiefe, ruhige Stimme des Portugiesen – sie klang so dominirend, daß Alles umher verstummte. Oliveira stand neben dem Minister und zeigte auf die „vergötterten Steine“ der Elfenkönigin.

Der Minister fuhr zurück, als habe er einen Schlag in sein fahles Gesicht erhalten; seine Gemahlin aber wandte sich mit dem Ausdruck tiefster Empörung in dem schönen Antlitz an den Frager.

„Glauben Sie, mein Herr, die Baronin Fleury könne es über sich gewinnen, die Welt auch nur mit einem einzigen falschen Stein täuschen zu wollen?“ rief sie erzürnt.

[401] „Ihro Excellenz hat Recht, entrüstet zu sein, Herr von Oliveira,“ bekräftigte die Gräfin Schliersen hinzutretend mit ihrem boshaftesten Lächeln. „Daß diese wundervollen Thautropfen ohne Tadel sind, kann Ihnen jedes Kind im Lande sagen – es sind ja die berühmten gräflich Völdern’schen Familiendiamanten.… Zu ihrem hohen Ruf aber sind sie eigentlich erst gekommen, seit sich die schöne Völdern mit ihnen geschmückt hat – sie verstand es, Diamanten zu tragen.“ – Sie strich zärtlich über das aschblonde, in einen Silberschein hinüberspielende Haar Gisela’s. „Ich bin sehr begierig, wie diese junge, reizende Stirn unter dem Diadem da aussehen wird,“ setzte sie mit völlig unbefangener harmloser Miene hinzu, und zeigte auf die brillantenen Fuchsien in den Locken der Baronin Fleury.

Diese Frau besaß die Gabe in seltener Weise, mittels [402] weniger Worte eine empfindliche Stelle in der Menschenseele bloßzulegen und sie spielend mit tödtlich scharfem Messer zu verwunden.

Die schöne Excellenz stand starr, sprachlos vor ihrer unerbittlichen Quälerin – die Fieberröthe erlosch auf ihren Wangen, und die feinen Nasenflügel begannen zu zittern. … Das beneidenswertste Verhältniß zwischen den beiden Damen, infolge dessen sie sich mit lächelnder Anmuth zu zerfleischen pflegten, gab Serenissimus oft genug Gelegenheit, seine Ritterlichkeit und Gewandtheit zu entfalten. Er verhinderte auch diesmal den ausbrechenden Zweikampf.

„Sie lieben schöne Steine, Herr von Oliveira?“ fragte er nachdenklich, mit erhöhter Stimme, die sofort Alles umher schweigen ließ.

„Ich bin Sammler, Durchlaucht,“ versetzte der Portugiese – er zögerte einige Secunden, dann sagte er rasch: „Dieser Schmuck aber“ – er deutete nach dem Diadem der Titania– „interessirt mich um deswillen ganz besonders, als ich den gleichen besitze.“

„Das ist unmöglich, mein Herr!“ fuhr die Baronin auf. „Das Diadem ist vor ungefähr vier Jahren nach meiner eigenen, speciellen Angabe umgefaßt worden, und das Pariser Haus, das die Ausführung übernommen, hat sich verpflichtet, die Zeichnung sofort zu vernichten, weil ich vor der Nachahmung gesichert sein wollte.“

„Ich möchte darauf schwören, daß sich die beiden Schmuckstücke hinsichtlich der Form nicht unterscheiden lassen,“ sagte Oliveira ruhig, mit einem halben Lächeln auf den Lippen und mehr zu dem Fürsten gewendet.

„O mein Herr, Sie verbittern mir mit dieser Behauptung eine meiner liebsten Freuden!“ rief die Baronin halb scherzend, halb mit schmelzend klagender Stimme und hob die Augen mit einem unnachahmlichen Ausdruck von Sanftheit und zärtlichem Feuer zu ihm empor – aber sie schrak entsetzt zurück vor der vernichtenden Kälte, dem strengen, unbestechlichen Ernst in den Zügen des Mannes.

„Jutta, bedenke, was Du da aussprichst!“ sagte der Minister verweisend mit heiserer Stimme – aus Lippen und Wangen schien ihm der letzte Blutstropfen entwichen.

„Warum soll ich denn leugnen, daß es mich unglücklich macht, einen meiner hübschesten Gedanken beraubt und ausgebeutet zu sehen?“ frug sie geärgert und impertinent. Sie warf einen feindselig funkelnden Blick nach dem Portugiesen hinüber, der sich urplötzlich aus einem vermeintlichen glühenden Anbeter in einen rücksichtslosen Widersacher verwandelte. „Ich liebe es nun einmal nicht, irgend Etwas zu tragen, das Gemeingut geworden ist! … Ich gäbe Etwas darum, wenn ich mich mit meinen eigenen Augen überzeugen dürfte, in wieweit Ihre Behauptung begründet ist, Herr von Oliveira!“

„Nun, meine Liebe, das ließe sich doch sehr leicht bewerkstelligen,“ meinte die Gräfin Schliersen. „Ich gestehe, daß auch ich ein wenig neugierig bin, in welcher Weise Herr von Oliveira seine Aussage rechtfertigt – das Waldhaus ist so nahe –“

„Wollen Euer Durchlaucht nicht die Gnade haben, das Zeichen zum Beginn der Quadrille zu geben? … Die junge Welt dort steht auf Nadeln,“ fiel der Minister ein; er ging achtlos über den leidenschaftlich hingeworfenen Wunsch seiner Gemahlin und den Vorschlag der Gräfin Schliersen hinweg, als habe er Beides gar nicht gehört. Die Frau mit den klugen Augen und der feinen Zunge streifte mit einem überraschten, beleidigten und stechend forschenden Blick das Gesicht ihres Verbündeten – er erlaubte sich plötzlich, sie zu ignoriren.

„Zu früh, zu früh, lieber Baron!“’ entschied der Fürst ablehnend. „Das Programm schließt mit dem Tanz.“

„Ich fürchte, Durchlaucht, unsere bezaubernde Titania beruhigt sich nicht eher, als bis sie das Corpus delicti gesehen hat,“ scherzte die Gräfin Schliersen. „Wäre es nicht ein pikantes Intermezzo für alle Damen, wenn Herr von Oliveira uns Gelegenheit gäbe, selbst zu entscheiden, ob er Recht hat?“ – Die Dame schien für einen Moment völlig zu vergessen, daß es sich hauptsächlich heute Abend darum gehandelt hatte, den Portugiesen zu stürzen.

„Allzuviel verlangt, theuerste Gräfin!“ meinte Serenissimus achselzuckend und lächelnd. „Bedenken Sie, in welche zweideutige Gesellschaft Herr von Oliveira seine kostbaren Schätze bringen soll. Wir haben da Räuber, Zigeuner, und Gott weiß was Alles für unheimliche Gestalten! … Sie sehen, Herr von Oliveira,“ wandte er sich an den Portugiesen, „ich möchte mich gern Ihrer annehmen; allein Sie haben unvorsichtiger Weise einen Feuerbrand hingeworfen – ich fürchte, es wird Ihnen nichts übrig bleiben, als – den Beweis zu bringen.“

Oliveira verbeugte sich schweigend – der grelle Schein einer Fackel fiel auf sein ruhiges Gesicht und überhauchte die braune Haut mit einer tiefen Blässe. Er nahm eine Karte aus seiner Brieftasche, warf flüchtig einige Zeilen hin und schickte das Blättchen durch einen Lakaien nach dem Waldhause.

„Wir werden die Brillanten zu sehen bekommen!“ jubelten einige junge Damen auf und klatschten in die Hände. Man kam von allen Seiten herbei; auch die schöne Hofdame, die sich bis dahin fern gehalten, erschien am Arm der zarten, blassen Blondine.

„Aber, Herr von Oliveira, Sie verwahren so viel Kostbarkeiten in dem abgelegenen Hause?“ fragte die Blondine und schlug die großen, blauen Augen, die ein äußerst empfindliches Nervenleben verriethen, ängstlich unschuldig zu ihm auf.

Die Gräfin Schliersen lachte.

„Kindchen,“ rief sie, „haben Sie sich das Waldhaus nicht besser angesehen? … Es steckt freilich nicht hinter Palissaden und Gräben, und ich weiß nicht einmal, ob es Selbstentladungsrevolver besitzt – aber es hat ein Etwas, das da warnt: ,Komme mir nicht zu nahe!’ … Die Wände starren von Waffen und Siegestrophäen – ob auch einige Indianerscalps mit unterlaufen, kann ich allerdings nicht mit Bestimmtheit behaupten; allein, wohin man sieht, liegen Tiger- und Bärenfelle – man überzeugt sich auf den ersten Blick, daß die Kugel des Besitzers unerbittlich zu treffen weiß. … Herr von Oliveira, Sie verstehen es aus dem Grunde, Ihre Residenz durch die Macht des Geheimnißvollen zu schützen; es nöthigt uns einen Schauer ab, man nennt ihn: das Gruseln. … Apropos,“ unterbrach sie ihre scherzhafte Schilderung in sehr lebhafter Weise, „ich gestehe Ihnen aufrichtig, daß ich heute sogar vor Ihrem Papagei die Flucht ergriffen habe! Sagen Sie mir um’s Himmelswillen, weshalb schreit denn das unheimliche Thier mit seiner haarsträubenden Stimme unaufhörlich: ,Rache ist süß’?“

Nahm die lodernde Fackel eine andere Färbung an, oder war es in der That das Gesicht des Portugiesen selbst, das sich so auffallend verwandelte? Es sah aus, als ob eine Flamme aufsteigend über die Wangen hinzüngele und sich in einem glühenden, quer über die Stirn laufenden, breiten Streifen concentrire.

Oliveira sah einen Augenblick schweigend vor sich nieder, während ihn Alle neugierig und erwartungsvoll anstarrten.

„Das Thier hätte vor Zeiten ein blödes Menschenkind beschämen können, so viel gesellschaftliche Phrasen hatte es aufgefangen,“ sagte er. Er verschränkte die Arme in scheinbar unerschütterter Ruhe über der Brust und ließ seinen ernsten Blick über die Umstehenden schweifen. „Es hat sie merkwürdiger Weise über diesem einen Satz vollständig vergessen. … Sein Herr, der es zärtlich liebte, hat die drei Worte im Delirium fast unausgesetzt wiederholt, ja, mit seinem letzten Athemzuge hat er sie noch einmal herausgestoßen. … An diese drei Worte knüpft sich eine seltsame Geschichte.“

Bei den letzten, geflissentlich langsam gesprochenen und schwer betonten Worten wich das Blut aus der stolzen, düsterdrohenden Stirn – das gelbe Fackellicht übergoß sie wieder mit geisterhafter Marmorweiße.

Die Gräfin Schliersen heftete, ihre klugen Augen scharf fixirend auf das Antlitz, das wohl seinen Ausdruck, nicht aber die stürmisch aufbrausenden und sinkenden Wellen, die vom Herzen aus kreisen, zu beherrschen vermochte.

„Sie mystisiciren uns, Herr von Oliveira,“ drohte sie lächelnd mit dem Zeigefinger. „Sie fordern die weibliche Neugierde heraus, um dann achselzuckend und geheimnißvoll sagen zu können: ,Ich darf nicht!’“ …

„Wer sagt Ihnen das, Frau Gräfin? Ich könnte ohne Weiteres beginnen; aber Sie selbst würden es mir sicher am wenigsten verzeihen, wenn ich, ohne specielle Erlaubnis des Durchlauchtigsten Fürsten, mit meiner Erzählung das Festprogramm störend unterbrechen wollte.“

„Ach, Durchlaucht, eine interessante Geschichte aus Brasilien!“ [403] – wandten sich die jungen Damen einstimmig bittend an Serenissimus.

„Ei, meine Damen, ich glaubte; Ihre kleinen Füße ständen bereits auf Nadeln wegen des Tanzvergnügens!“ scherzte er. „Nun gut, ich nehme die Geschichte des Herrn von Oliveira sehr gern in das Festprogramm auf – wir streichen dafür eines der Männerquartette, die im Walde gesungen werden sollen.“


27.

Welch’ eine ironisirende Wendung der Dinge! Der verfehmte Portugiese war der Löwe des Festabends geworden. Freilich stand er auf einem Boden, der auf- und abschwankte wie die Schiffsplanke, und die aufgescheuchten Wespen summten nur weniger laut und hörbar um sein Haupt. Das wußte Niemand besser als die schöne Hofdame. Sie warf ihm einen langen, bedeutungsvollen Blick zu: „Lasse dich nicht beirren,“ warnten die dunklen Augen.

Gisela, die bisher schweigend neben dem Fürsten gestanden und nicht ein einziges Mal gewagt hatte, den Portugiesen anzusehen, während er sprach, fing diesen Blick auf – er durchfuhr ihr Herz wie ein Dolchstoß. … Sie wollte ja nie heftig werden; aber wie schoß ihr jetzt das empörte Blut nach den Schläfen! Wie in der Kindheit, wo sie stets ohne Weiteres ihrer Abneigung Ausdruck gegeben, hob sie auch jetzt die Hand, um das Mädchen dort fortzustoßen. – Worte der tiefsten Erbitterung drängten sich auf ihre Lippen. … Wie thöricht! … Was gab ihr denn das Recht, sich zwischen diese beiden Menschen zu drängen? … Sah er nicht selbst in diesem Moment hinüber nach der reizenden Zigeunerin und erwiderte den langen Blick so ausdrucksvoll, daß das liebliche Gesicht bis unter die dicken, braunen Locken erröthete? … Die Zwei waren wohl längst einig! …

Wie konnte sie es überhaupt wagen, sich neben jenes Mädchen zu stellen? An dem Namen der Hofdame haftete kein schlimmer Leumund, sie war sehr schön, galt für geistreich und handhabte die gesellschaftlichen Formen mit unvergleichlicher Grazie. … Pfui, wie häßlich! … Sie mit dem bleichen Gesicht, mit der tiefen Unwissenheit hinter der Stirn und dem ungelenken Benehmen, sie empfand Neid, blassen Neid gegen jene schöne, gefeierte Rose! …

Das unschuldige Herz, das ja bis dahin nie geliebt, hatte, keine andere Definition für das heiße Gefühl der Eifersucht.

Sie wandte die Augen ab von dem schreiend rothen Käppchen mit den Perlenbehängen, das sich so anmuthig hin und herbewegte, und sah über das Lichtmeer hinweg in den dunklen Weg hinein, der nach Greinsfeld führte. Eine tiefe Sehnsucht nach dem finsteren, schweigenden Wald erfaßte sie. … Fort, fort, alle diese Larven im Rücken lassen und die unausgesprochenen Qualen, die ihr in Kopf und Herzen wühlten, in der Dunkelheit verbergen! … Eilige Flucht aus dieser sogenannten Welt, in die sie nur geblickt, um sofort von grellen Blitzen getroffen und verwundet zu werden! Tausendmal lieber in finsterer Nacht mit bedrohtem Leben an den schauerlichen Abgründen der Steinbrüche vorüberwandeln, als hier gleichsam an der Martersäule stehen, diese schmetternde, jubelnde Musik hören und die lächelnden Gesichter sehen zu müssen, während in den schmerzenden Augen die mühsam verhaltenen Thränen brannten! ….

Sie hatte mit Enthusiasmus den Gedanken ergriffen, die Menschen lieben zu wollen – wie schwer war er auszuführen! Konnte sie diese eitle, gleißnerische Menge lieben, die, Falschheit im Herzen und auf den Lippen, ihr reines Wollen unmöglich verstand? …

In den Steinbrüchen war es dunkel und todeseinsam – nicht einmal die kleinen Vogelaugen blickten tröstlich auf die heimwärts Fliehende, sie schliefen wohlgeborgen in den Nestern und Felsennarben. Drunten lagen die armen Blumenleichen, die er mit unbarmherziger Hand von sich geschleudert, und am Wegrand zitterten die elastischen Nesselzweige, die ihr Kleid streifte – diese einzige Bewegung hauchte Leben in die Einöde. … Und der Fuß des jungen Mädchens schritt wieder über die Stelle hinweg, wo es eine so schmerzliche Demüthigung erlitten – der Weg war schrecklich, aber er führte ja in das Heim zurück, dort konnte sie die Thüren verschließen und sich für immer verbergen vor Menschenaugen und Menschenstimmen. …

Fort! Fort!

Quer über den Festplatz konnte sie freilich nicht gehen – sie mußte im Waldesdunkel die Wiese umkreisen, wenn sie den gegenüberliegenden Greinsfelder Weg erreichen wollte. Langsam und scheu wandte sie sich um und forschte im Dickicht nach einer Stelle, wo sie unbemerkt entschlüpfen konnte.

Da tauchte plötzlich ein Gesicht vor ihr auf, ein Gesicht mit harten, dunklen Zügen, das sie kannte und fürchtete – es war der alte, strenge Mann aus dem Waldhause. Er trug einen kleinen Koffer, den er auf die nächste Bank stellte; sein finsterer Blick streifte an der jungen Dame vorüber und heftete sich sehr beredt auf den Portugiesen, vor welchem bereits der zurückgekehrte Lakai stand und mit einer entsprechenden Handbewegung die Anwesenheit des alten Soldaten meldete.

„Ah, die Brillanten!“ scholl es von allen Seiten.

Sofort bildete sich ein dichter Kreis um den alten Soldaten und seine kostbare Bürde. … Für diesen Augenblick war Gisela’s Flucht vereitelt – der Fürst stand neben ihr, und die Gräfin Schliersen ergriff schmeichelnd ihre Hand und zog sie dicht an sich heran.

Oliveira schloß den Koffer auf. Der Inhalt war freilich angethan, Frauenherzen zu berauschen; und der stille Gedanke Aller, der Brasilianer wolle mit seinen Schätzen prunken, wurde zur Gewißheit. … Wer aber Gelegenheit hatte, in sein gesenktes Gesicht zu sehen, der wußte sofort, daß der Seele dieses Mannes augenblicklich nichts ferner lag, als die Eitelkeit – ein so furchtbarer Ernst, eine so finstere Entschlossenheit lag auf der düstergefalteten Stirne.

Er nahm mit raschen Händen ein schwarzes, mit Juwelen beladenes Sammetpolster um das andere aus dem Koffer und legte es achtlos auf die Seite. Neben ihm stand die Baronin Fleury mit halbgeöffneten Lippen und vorgebeugtem Oberkörper. Allmählich begann ein leiser Triumph in ihren Augen zu funkeln. Sie sah allerdings glitzernde Wunderdinge aus dem Koffer emporsteigen, die ihr unersättliches Herz klopfen machten, allein es waren lauter antike Schmuckstücke, die „der Sammler“ da aufgehäuft hatte – nicht ein einziges erinnerte an „ihren hübschesten Gedanken“…. Hatte sich der Portugiese hinsichtlich des „Corpus delicti“ doch getäuscht?

Da hob er, bedeutend langsamer als zuvor, ein großes Etui empor und schlug fast zögernd den Deckel zurück.

Ein Ausruf der Ueberraschung ertönte von allen Lippen, und die schöne Excellenz wich bestürzt zurück.

Bis auf das kleinste, in ihren Locken glitzernde Staubfädchen getreu copirt, lag der Fuchsienkranz auf dem Sammetpolster – aber er hatte einen Vorzug: die „gräflich Völdern’schen Familienbrillanten“ erloschen neben dieser funkelnden Steinpracht.

Und der Kranz lag nicht allein – ihn umkreiste dasselbe Halsband, das dort auf dem weißen, stürmisch athmenden Busen Titania’s blitzte, und die Agraffe, die den silberdurchwobenen Schleier auf ihrer Schulter festhielt, leuchtete auch hier mit ihren großen, bläulichen Brillanten.

„Welch’ ein schändlicher Betrug!“ stieß die schöne Frau zornbebend hervor. „Siehst Du, Fleury“ –. wandte sie sich an ihren Gemahl – er befand sich nicht mehr an ihrer Seite – Seine Excellenz stand an einem entfernten Büffet und stürzte ein Glas Wein hinunter. Er wurde alt und stumpf, der Mann, er zeigte für Nichts mehr das wahre, feurige Interesse wie ehedem – war es ihm doch sogar unangenehm geworden, seine schöne Frau diamantengeschmückt zu sehen. … Sie stand allein unter all den schadenfrohen Gesichtern – die ganze furienhafte Leidenschaft dieser Frauenseele, die bis dahin nur Seine Excellenz und die engen Wände des Boudoirs kennen gelernt hatten, war nahe daran, angesichts des Hofes hervorzubrechen.

„Fleury, Fleury!“ rief sie mit unbeschreiblichem Aerger hinüber. „Ich bitte Dich, komme hierher und überzeuge Dich, wie recht ich hatte, gegen das völlig überflüssige Putzen und Reinigen der Steine in Paris zu protestiren! … Du hast es à tout prix durchgesetzt, und diese treulosen Franzosen haben den Moment benutzt, die köstlichen Formen zu stehlen. … O, hätte ich sie doch nicht aus den Händen gegeben!“

Jedes dieser schneidend scharf betonten Worte sollte den Besitzer der Brillanten beleidigen … war er in der That vollkommen [404] unempfindlich gegen die impertinente Art und Weise der gereizten Dame? Kein Zug seines Gesichts bewegte sich, und auf die Frage des Fürsten, wo er diesen Schmuck acquirirt habe, versetzte er lakonisch: „In Paris.“

Der Minister kam langsam über den Platz. Welch’ ein Contrast zwischen diesem grünlich-weißen, steinernen Gesicht und den fieberhaft erregten Zügen der schönen Titania! … Es gehörte ein sehr scharfer Blick dazu, das leichte, nervöse Zucken an den schlaffen Augenlidern zu entdecken. …

„Ich kann Dir nicht helfen, liebes Kind, das Unglück ist nun einmal geschehen, und Du wirst Dich trösten müssen,“ sagte er in seiner ganzen kaltlächelnden Ruhe und Diplomatengleichgültigkeit. Er warf auch nicht einen Blick auf das Etui, das die Gräfin Schliersen in den Händen hielt, während der Fürst die Pracht der Steine bewunderte. „Uebrigens können Dir diese Nebenbuhler weiter nicht gefährlich werden,“ fuhr er mit einem leichten Achselzucken fort, „Herr von Oliveira verwahrt sie, wie es scheint, als Curiosum, und da er sie selbst nicht tragen kann, so werden sie schwerlich Deinen Weg wieder kreuzen.“

Sie wandte ihm zornig den Rücken. So wie sie ihn kannte, war er trotz seiner ausgezeichneten Maske in diesem Augenblick furchtbar erregt – weshalb zeigte er seine gerechte Empörung nicht und behandelte im Gegentheil den abscheulichen Betrug wie eine Kinderei? …

Bei den letzten Worten Seiner Excellenz sahen sämmtliche junge Damen a tempo nach dem Portugiesen, der, die lodernden Augen starr und unverwandt auf das Gesicht des Sprechenden gerichtet, wie eine erzene Bildsäule dastand. … Was fiel dem Minister ein, zu behaupten, weil dieser majestätische Fremde die Steine nicht selbst tragen konnte, sie würden nun auch für immer in der Gefangenschaft des Kastens bleiben müssen? … War es nicht ein naheliegender Gedanke, daß er über kurz oder lang ein beglücktes junges Wesen an seine Seite ziehen und als „sein besseres Ich“ mit all’ diesen wundervollen Schätzen überschütten würde? …

Vielleicht kreiste diese Betrachtung auch hinter der Stirn der Gräfin Schliersen. Sie nahm lächelnd den Kranz vom Polster, und ehe Gisela sich dessen versah, fühlte sie die schweren, kalten Steine auf ihrer Stirn. … Sie ahnte nicht, daß ihr in diesem Moment der Preis der Schönheit und des höchsten Liebreizes von Allen stillschweigend zuerkannt wurde – sie sah auch nicht, wie ein unbezähmbarer Ausbruch leidenschaftlicher Zärtlichkeit secundenlang die düsteren Züge Oliveira’s durchstrahlte – unfern stand die schöne Hofdame, sie schüttelte unwillig die braunen Locken, der tiefste Verdruß spiegelte sich in ihren Augen und schmollte in den herabgesenkten Mundwinkeln – sie hatte bereits Rechte an das Eigenthum des Mannes dort, aber sie waren noch nicht öffentlich anerkannt; und nun mußte sie es stillschweigend leiden, daß eine fremde Stirn mit dem Diadem geschmückt wurde! Bei diesen Gedanken griff Gisela hastig nach den tödtlichkalten Steinen und legte sie mit zitternden Händen auf das Polster zurück – in Gesicht und Geberden lag der Ausdruck einer heftigen, energischen Protestation.

„Um Gott, liebes Kind“ – rief die Gräfin Schliersen erschrocken und ergriff besorgt ihre Hand.

„Da siehst Du ja diese ,ungesunde Kraft’, Leontine!“ rief die Baronin Fleury triumphirend – sie vergaß über dieser Genugthuung selbst ihr tiefes Herzeleid. „Gisela hat eine Aversion vor den Steinen, und Du wirst Dich eben überzeugt haben, daß schon allein eine solche Berührung genügt, ihre Nervosität bis zu einem beängstigenden Grade zu steigern.“

Die Gräfin Schliersen reichte dem Portugiesen schweigend mit fest zusammengekniffenen Lippen das Etui hin. Der Fürst aber, der augenscheinlich wünschte, die Diamantenstreitfrage ad acta gelegt zu sehen, zeigte ein lebhaftes Interesse für die antiken Schmuckgegenstände; sie gingen von Hand zu Hand, wobei Oliveira kurz erklärte, wie er sie aufgefunden, und woher sie stammten – dann wunderten sie zurück in den Koffer.

„Schöne Elfenkönigin, Sie haben nun erreicht, was Sie so lebhaft wünschten,“ sagte Serenissimus zu der sich tief verbeugenden Baronin Fleury, während Oliveira den Koffer schloß. Er sprach halb scherzend, zum Theil aber auch mit ziemlich ernstem Nachdruck. „Ich will hoffen, daß das Ergebniß nicht nachtheilig auf die Laune gewirkt hat, meine Gnädigste. … Und nun wollen wir sehen, was die Büffets enthalten,“ wandte er sich an seine Gäste. „Dann mag Herr von Oliveira seine interessante brasilianische Geschichte erzählen, vorausgesetzt, daß uns die heimtückischen Wolken da oben nicht vorher die Fackeln auslöschen.“

Das Gewitter war allerdings im Anzuge. Auf dem Wasserspiegel des Sees, der bis dahin glatt und unbewegt jedes Lichtlein widergestrahlt hatte, hüpften jetzt Feuerfunken – ein schwaches, kaum hörbares Säuseln zog durch die Waldwipfel, und das Fackellicht, das kerzengerade in die Höhe gestiegen war, flackerte beunruhigt.

Alle diese drohenden Anzeichen wurden vergessen über dem verlockenden Knall der Champagnerpfropfen, dem Gläserklirren und den enthusiastischen Hochs, die dem Durchlauchtigsten Festgeber gebracht wurden.

Gisela hatte es abgelehnt, dem Fürsten an das Büffet zu folgen. Sie hoffte, jetzt den günstigen Moment zu finden, wo sie entfliehen konnte, aber wie täuschte sie sich! Frau von Herbeck wich und wankte nicht von ihrer Seite. … Die kleine, fette Frau war von überströmender Liebenswürdigkeit – sie fühlte sich ja so glücklich! Seine Excellenz hatte ihr eben zugeflüstert, daß er ihr unbedingt vertraue und morgen früh vor seiner Abreise noch eine „vertrauliche Unterredung“ mit ihr wünsche; er hatte es ihr aber auch zur strengen Pflicht gemacht, für den Rest des Festabends wie ein Argus über ihre Schutzbefohlene zu wachen.

Nun hatte sie das junge Mädchen auf eine Bank genöthigt, die hart an den Saum des Waldes stieß, und von welcher aus man den ganzen Festplatz bequem übersehen konnte. Die Gouvernante saß am anderen Ende der Bank neben einer alten Freundin, die sie Jahre lang nicht wiedergesehen. Beide Damen ließen sich von einem Lakai Speisen herbeitragen, und während sie den köstlichen Leckerbissen wacker zusetzten, fanden sie nicht genug Worte für die beispiellose Unverschämtheit des fremden Eindringlings, des Portugiesen. Er war ein Aventurier, ein Prahler erster Sorte – wer konnte denn wissen, wo er alle diese Kostbarkeiten aufgerafft hatte? … Uebrigens ließ es sich die kleine, fette Frau nicht nehmen, daß der „ganze Kram“ unecht sei, er habe einen zu „unnatürlichen Glanz“ gehabt – ein Kind hätte das neben den unvergleichlichen gräflich Völdern’schen Familiendiamanten herausfinden müssen. Seine Excellenz hatte aber auch den Schwindler vortrefflich ablaufen lassen – er hatte ihn und seine Brillantenausstellung nicht eines Blickes gewürdigt.

Gisela legte müde wie ein krankes Kind den Kopf an die Banklehne. Eine rauschende Musik scholl herüber und verschlang die Fortsetzung der geistreichen Conversation. … Wie elend und verlassen fühlte sich diese junge, mit sich selbst ringende Seele! … Sie hatte vorhin schweigend die hämische Bemerkung der Stiefmutter hingenommen – sie war des Kampfes müde, und schließlich war es sehr gleichgültig, was die Welt von ihr dachte. …. Binnen wenigen Stunden verschwand sie für immer wieder von diesem heißen Boden und wurde vergessen, vergessen von Allen. … Sie redete sich in eine dumpfe Resignation und Gleichgültigkeit hinein – bis jetzt waren es noch verunglückte Versuche. … Wie ein Magnet zog das rothe Käppchen, das dort drüben aus der Menge wie ein neckischer Kobold auf- und niedertauchte, ihren verfinsterten Blick immer wieder auf sich; jedes Mal schoß ihr das Blut siedend nach dem Herzen und raubte ihr den Athem, wenn eine hohe Männergestalt sich neben den reizenden braunen Lockenkopf drängte – sie täuschte sich stets – er war es nicht – und doch welche Qualen litt sie immer wieder von Neuem!

Sie wollte nichts mehr sehen und lehnte den Kopf zurück. Aus dem Dickicht kam ein Zweig herüber und legte seine breiten, kühlen Blätter schmeichelnd auf ihre fiebernde Stirn. Sie schloß die brennenden Augen, aber im jähen Ausschrecken hob sie sofort die Wimpern wieder. …

Der Portugiese stand hinter ihr und rief ihren Namen. Sie blieb regungslos, wie versteinert sitzen – es war seine Stimme, allein wie erschütternd verändert klang sie! …

„Gräfin, hören Sie mich?“ wiederholte er lauter, während gewaltige Accorde von drüben her erbrausten.

Sie neigte langsam den Kopf, ohne ihm das Gesicht zuzuwenden.

[430] Der Portugiese trat dicht an die Bank heran und bog sich zu dem jungen Mädchen nieder.

„Sie machen es nicht besser als die Leute da drüben, Gräfin,“ sagte er mit gedämpfter Stimme. „Sie lassen sich durch die rauschende Musik betäuben und vergessen, daß der Gewittersturm in seinen Anfängen bereits durch die Wipfel fährt.“ … Er hielt inne. … „Wollen Sie wirklich abwarten, bis der Regen niederstürzt?“ fuhr er dringender fort, nachdem er vergeblich auf einen Laut von ihren Lippen gewartet.

„Ich kann nicht gehen, ohne wenigstens Frau von Herbeck zu benachrichtigen,“ entgegnete sie. „Sie würde mich jedenfalls auslachen, wollte ich ihr den Grund angeben – Sie sehen selbst, man glaubt allgemein nicht an einen Ausbruch des Gewitters.“

Sie wandte den Kopf nur ein wenig seitwärts nach ihm hin – ihre Augen blieben gesenkt. Fast ohne es selbst zu wissen, vermied sie jede Bewegung, welche die Aufmerksamkeit der lebhaft plaudernden Gouvernante auf sich ziehen konnte – mehr instinctmäßig suchte sie zu verhindern, daß das mißtrauische, gehässige Auge der kleinen, fetten Frau auf den Mann falle, der mit so tief beklommener Stimme zu ihr sprach.

Er streckte den Arm aus und deutete hinüber nach dem Fürsten, der in der Nähe des einen Büffets saß. Der Minister stand vor Serenissimus und hielt ein volles Glas in der Hand. Seine Excellenz war von einer so auffallend übersprudelnden Lebendigkeit, daß man in diesen Gesten, in dem lächelnden Mienenspiel vergebens nach der eisernen Maske des Diplomaten suchte. Er brachte wahrscheinlich einen Toast voll Witz und Laune aus, der nur für das Ohr Seiner Durchlaucht und einiger danebenstehenden Cavaliere berechnet war – der kleine, auserwählte Kreis lachte, und unter dem Austausch verständnißvoller Blicke stieß man die Gläser aneinander.

„Sie haben Recht, dort will man nicht an das Gewitter glauben, das in den Lüften hängt,“ sagte der Portugiese gepreßt; „aber es werden Blitze niederfahren –“ er unterbrach sich und bog sein Gesicht abermals so tief zu der jungen Dame nieder, daß sie seinen Athem leicht an ihre Wange hinstreifen fühlte. „Gräfin, kehren Sie nach Ihrem stillen Greinsfeld zurück!“ flüsterte er weich und bittend. „Ich weiß es, die schweren Wolken da oben haben auch einen Blitz für Sie!“

Das klang dunkel, wie eine Prophezeiung. … Welche Widersprüche enthielt das Benehmen des seltsamen Mannes! Er betonte fast bei jedem Begegnen die Feindseligkeit ihr gegenüber – und doch hatte er sie vor dem Sturz in die Steinbrüche bewahrt, und jetzt mochte er sie vor dem Ausbruch des Wetters unter das schützende Dach ihres Heim retten. … Und warum gerade sie? … Dort tauchte ja eben das rothe Käppchen auf. … Ah, der schöne, braune Lockenkopf brauchte nicht so viel Zeit zur Flucht – das Waldhaus wär so nahe, man rettete „sein Kleinod“ im Augenblick der Gefahr unter das Dach des eigenen Heim’s! … Eine unsägliche, niegefühlte Bitterkeit erfüllte ihr Herz!

„Ich werde es machen, wie die Anderen, und ruhig hier bleiben,“ versetzte sie finster, und fast harter Stimme. „Hat das Wetter da oben wirklich einen Blitz für mich, so habe ich auch den Muth, ihn zu erwarten.“

Sie fühlte, wie die Banklehne unter seiner Hand erzitterte.

„Ich glaubte, ich spräche zu der Dame, die gestern willig an meiner Hand geschritten ist,“ sagte er nach einem augenblicklichen Schweigen – Gisela meinte eine tiefe Gereiztheit aus diesen unsicheren Tönen heraus zu hören. „An sie wende ich mich, trotz der mir eben widerfahrenen entschiedenen Zurückweisung, noch, einmal. … Gräfin, es ist das letzte Mal, daß ich neben Ihnen stehe – binnen einer Stunde werden Sie wissen, daß ich ein grausamer Gegner bin –“

„Ich weiß es bereits.“

„Sie wissen es nicht, wenn Sie diese Anklage auch noch so bitter hinwerfen. … Ich bin ein schlechter Schauspieler gewesen – ich habe meine Rolle vergriffen, vergessen. … Und nun, wo die Hand den Dolchstoß ausführen muß, zittert sie. … Ich kann nur noch einmal sagen: ‚Fliehen Sie, Gräfin!’“

Jetzt wandte sie sich um, und die heißen Augen hefteten sich fest, aber mit einem herzzerreißenden Blick auf das Gesicht des unerbittlichen Warners.

„Nein, ich gehe nicht!“ stieß sie bebend hervor, während es wie ein irres Lächeln um ihren kleinen, fieberisch zuckenden Mund glitt. „Sie haben die Rolle des Verachtenden nicht schneidend genug durchgeführt, sagen Sie, mein Herr! … Ich kann Ihnen aber zu Ihrer Beruhigung versichern, daß diese Verachtung gefühlt worden ist. … Ich gehe nicht! … Stoßen Sie nur zu! … [431] Ich habe in wenigen Tagen leiden gelernt – ich weiß nur zu gut, was Seelenschmerzen sind! … Sie selbst haben mich bereits an die Dolchstiche gewöhnt – Sie sollen sehen, ich lächle dazu!“

„Gisela!“

Wie ein Aufschrei kam der Name von seinen Lippen. Er ergriff mit beiden Händen das Haar, das golden über ihre Schultern wogte, und preßte mit einer leidenschaftlichen Bewegung sein Gesicht hinein.

Dieser eine Moment verwandelte die majestätisch düstere Erscheinung des Mannes, als brause der prophezeite Gewittersturm droben in den Wipfeln auch bewältigend über sie hin.

„Sie haben mich schwach gesehen, und nun will ich es auch ganz sein,“ sagte er, den Kopf langsam hebend, indem das Haar seinen Händen entglitt. „Man sagt, durch die Seele des Ertrinkenden ziehen im letzten Augenblick noch einmal alle Wonnen und Schmerzen seines ganzen Lebens – ich stehe auch vor einem entscheidenden letzten Augenblick, und da mag es noch einmal auftauchen, was die Wonne und Qual meines Lebens ist.“

Er neigte sich wieder tief über das Mädchengesicht, das sich ihm in athemlosem Aufhorchen voll zuwandte – man hätte meinen können, Puls- und Herzschlag stehe still unter dieser regungslosen Spannung der Seele. … Oliveira’s Blick suchte in unverhohlener Leidenschaft die Augen des jungen Mädchens.

„Und nun sehen Sie mich noch einmal so an, wie gestern, da wir neben dem Abgrund standen,“ fuhr er fort. „Für lange, namenlose Leiden nur diese eine glückliche Secunde! … Gräfin, mein Leben im Süden war ein wildbewegtes, ein Leben voller Kämpfe und gefährlicher Abenteuer. Ich suchte im Ringen mit den Elementen und mit den wilden Bestien des Waldes das Aufschreien eines inneren Schmerzes zu ersticken. … Ich bin den Tigern und Bären nachgegangen, habe ihnen, mit dem unbezähmbaren Wunsch, sie zu tödten, Tag und Nacht aufgelauert – ich kenne das Behagen der Mordlust einem überlegenen Feind gegenüber– nie aber habe ich den Muth gehabt, ein Reh niederzuschießen – ich fürchtete die Seele in seinem brechenden Auge!“ …

Er schwieg. Ein beglücktes Lächeln spielte um seinen schöngeschwungenen Mund – die zwei Mädchenaugen sahen ja mit dem heißgewünschten Ausdruck hingebender Zärtlichkeit unverwandt zu ihm empor. … Ein tiefes Aufathmen hob seine breite Brust, das Lächeln erlosch – er strich mit der Hand über die Stirn, als wolle er einen himmlischen, verlockenden Traum wegwischen. Dann fuhr er mit tonloser Stimme fort: „Ich bin berufen, verschwiegene Sünden an das Licht zu ziehen, einen überlegenen Feind, eine Geißel der Menschheit anzugreifen und zu vernichten – aber das Schicksal zeigt auch gebieterisch auf ein armes Reh mit seinen unschuldigen Augen, auf ein liebliches Geschöpf, das meine erste und einzige, meine unsterbliche Liebe ist, und fordert: ,Du sollst es mit eigener Hand verletzen, es soll schmerzlich leiden durch dich!’ Gisela,“ flüsterte er in ausströmender Zärtlichkeit dicht an ihrem Ohr, „ich habe vor dem Waldhause Ihre Beschuldigung des Jähzornes schweigend hingenommen – es war etwas Anderes – ich konnte es nicht ertragen, daß die Arme des Knaben mein Heiligthum, die vergötterte Gestalt, umschlangen, die ich nie berühren durfte – ich habe in den Steinbrüchen unter tausend Schmerzen der Entsagung Ihre kleinen Hände weggestoßen, während meine ganze Seele mit verzehrender Sehnsucht darnach verlangte, Sie nur ein einziges Mal an mein Herz zu ziehen – ich habe noch vor wenig Augenblicken dort drüben, in Ihrem Anblick verloren, gestanden, von dem berauschenden Gedanken fast überwältigt, Sie in meine Arme nehmen und hinüber in mein einsames Haus retten zu dürfen. … Das sind Gedanken und Wünsche, die an Wahnwitz streifen – ihre Vermessenheit wird grausam genug gestraft – ich weiß ja nur zu sicher, daß Sie mich binnen einer Stunde von sich stoßen werden als einen Vandalen, der Ihre Heiligenbilder in den Staub gerissen hat!“ …

„Ich werde Sie nie von mir stoßen – das weiß ich. – Soll ich durch Sie leiden, so mag es geschehen. … Und wenn die ganze Welt Sie um deswillen mit Steinen bewirft – ich werde nicht einmal einen anklagenden Blick für Sie haben.“

Sie schob sanftlächelnd, während Thränen in den aufstrahlenden braunen Augen funkelten, ihre kleine Hand durch das Gitter der Banklehne und hielt sie ihm hin – er sah es nicht, er hatte das Gesicht in beiden Händen vergraben. Als sie wieder niedersanken, war sein Gesicht so fahl und blutlos, daß es aus dem dunklen Gebüsch förmlich gespensterhaft hervorleuchtete; aber ertrug auch wieder das frühere feste Gepräge einer finsteren Entschlossenheit.

„Gräfin, seien Sie hart gegen mich!“ sagte er ruhiger. „Nicht diese holde Sanftmuth – ich kann sie nicht ertragen. … Das, was ich unter allen Umständen thun muß, erscheint ihr gegenüber nur um so teuflischer. … Ich habe Sie vorhin vor einem unvermeidlichen Blitz gewarnt – ich kann ihn nicht von Ihrem Haupt abwenden, aber ich will auch nicht, daß er Sie unvorbereitet, unter allen jenen Gesichtern dort trifft. … Kehren Sie nach Greinsfeld zurück. … Gehen Sie und – vergessen Sie mich, der ich verurtheilt war, Ihren Weg auf eine so furchtbare Weise zu kreuzen. … Und nun, leben Sie wohl – für alle Zeiten!“

Sie sprang auf.

„Gehen Sie nicht!“ rief sie. „Ich kann nicht hart sein! … Ich will mit Ihnen sterben, wenn es sein muß!“ …

Bei diesen herzerschütternden Tönen wandte er sich jäh um – mit einer fast wilden Geberde streckte er die Arme nach ihr aus, als wolle er sie in der That erfassen und in sein einsames Haus retten – aber auch eben so schnell ließ er die Arme wieder sinken. Gleich darauf war sein todtenbleiches Gesicht im Gebüsch verschwunden.

Dagegen fühlte sich die junge Dame plötzlich von rückwärts ergriffen, und zwei Arme preßten sich wie ein Schraubstock um ihre zarte Taille. … Frau von Herbeck war durch die heftige Bewegung ihrer Schutzbefohlenen aus ihrem immer interessanter und lauter werdenden Zwiegespräch aufgerüttelt worden.

„Um Gotteswillen, Gräfin, haben Sie eine Vision? … Was ist Ihnen?“ rief sie mit allen Zeichen heftigster Alteration in den Zügen.

Auch ihre Freundin war herzugesprungen und nahm besorgt die Hände des jungen Mädchens zwischen die ihren.

„Nichts – lassen Sie mich!“ stieß Gisela heraus und wand sich los.

Frau von Herbeck’s zweiter erschrockener Blick galt den Excellenzen – sie athmete erleichtert auf – dort hatte Niemand das auffallende Gebahren der jungen Gräfin, das ihr selbst ein unlösliches Räthsel blieb, bemerkt. Man amüsirte sich vortrefflich – der Champagner war ausgezeichnet, und die Laune des Durchlauchtigsten Festgebers eine durchaus rosenfarbene.


28.

Ohne auf die beschwörenden Bitten der Gouvernante zu achten, die durchaus wissen wollte, was „ihren Liebling“ so sehr erschreckt habe, setzte sich Gisela wieder auf die Bank.

… Nein, sie ging nicht! … So viel hatte sie aus seinen dunklen Reden verstanden, er wollte hier einen überlegenen Feind angreifen. … Was er auch vorhatte, wer auch der Feind sein mochte, sie ließ den geliebten Mann nicht allein in einem Augenblick, wo vielleicht alle diese Menschen dort drohend und feindselig ihm gegenüberstanden. … Sie war ja nun auf den niederfahrenden Blitzstrahl vorbereitet, sie wollte ihn hinnehmen, ohne mit den Wimpern zu zucken; welche Schrecknisse er ihr auch zeigen mochte, nach den folternden Schmerzen, die sie jetzt erduldete, konnte nichts Schlimmeres kommen. … Er wußte jetzt, wie er geliebt wurde, er hatte ihr ein Bekenntniß zugeflüstert, das ihr einen ganzen Himmel voll Glückseligkeit erschloß – und dennoch hatte er sich von ihr losgerissen um einer dunklen Macht willen, die ihre ewige Trennung heischte. … Sie wollte dieser Macht in’s Auge sehen – sie wollte wissen, ob es wirklich eine Gewalt auf Erden gebe, die zwei in innigster Liebe verbundene Herzen auseinander reißen durfte.

Das lange, rauschende, endlos scheinende Musikstück schloß mit einigen schmetternden Accorden. Man verließ die geplünderten Büffets; auch der Fürst erhob sich und schritt in Begleitung des Ministers über die Wiese.

„Mein Herr von Oliveira,“ sagte er sehr heiter zu dem Portugiesen, der plötzlich in seiner Nähe zwischen zwei Eichen hervortrat, „Sie erscheinen sehr pünktlich; aber schelten muß ich Sie doch, daß Sie meinen vortrefflichen Champagner nicht besser zu würdigen wissen – ich habe Sie nicht unter meinen Gästen gesehen. … Ist Ihnen übel? … Sie sehen bleich, fast möchte ich sagen, alterirt aus, wenn es nicht absurd wäre, sich einen Hercules, wie Sie, nervenerschüttert zu denken.“

[432] Ein Windstoß fuhr in diesem Augenblick rauschend durch die Eichenblätter und bog die Flammen der Fackeln tief seitwärts.

„Ach, es scheint wahrhaftig Ernst zu werden!“ rief Serenissimus verdrießlich. „Ich werde Sie wohl bitten müssen, lieber Baron, mir für den Rest des Festes Ihren Saal einzuräumen – die jungen Leute dürfen doch nicht um ihren ,Tanz’ kommen!“

Der Minister berief sofort einen Lakaien zu sich und schickte ihn mit den nöthigen Befehlen nach dem weißen Schlosse.

„Ein halbes Stündchen Zeit wird uns ja wohl der Isegrimm in den Lüsten noch lassen,“ meinte der Fürst lächelnd zu den Damen, die sich um ihn schaarten. „Ich bin der Ansicht, daß die Erzählung des Herrn von Oliveira inmitten der Waldbäume und unter drohenden Wetterwolken weit mehr pikanten Reiz erhalten wird, als im wohlgeschützten Ballsaale Sie haben das Wort, Herr von Oliveira!“

Serenissimus ließ sich unweit der Büste des Prinzen Heinrich nieder. Mit vielem Geräusch und abermals laut aufbrausender Fröhlichkeit wurden Stühle und Bänke herbeigetragen; ein weiter Kreis formirte sich um den Fürsten – noch einige Minuten schwirrten die Stimmen durcheinander, rauschten die Seidenroben und klapperten die zusammenrückenden Stühle – dann wurde es plötzlich so erwartungsvoll still, daß man das Knistern der Fackeln hören konnte.

Der Portugiese hatte sich mit verschränkten Armen an die Rothbuche gelehnt, welche die Büste des Prinzen Heinrich beschattete. Die unruhigen Lichter spielten über sein Gesicht hin – es schien vollkommen unbewegt, wenn auch noch die Blässe der „Alteration“ auf seinen braunen Wangen lag.

In diesem Moment erhob sich auch Gisela; sie schritt unbemerkt am Saum des Waldes hin und blieb neben einem mit Geschirr beladenen Tisch stehen, auf welchem noch der Kasten mit Oliveira’s Juwelen stand. … Obgleich sie lautlos unter den einen tiefen Schatten werfenden Aesten hingeglitten war – der Portugiese hatte sie doch konnte eine tiefe Bewegung in seinen Zügen nicht ganz verbergen; ein heißer, angstvoll bittender Blick flog zu ihr hinüber. Sie lächelte ihm zu und stützte die Hand fest auf den Tisch – das süße Lächeln, die ganze Gestalt mit dem hochgetragenen Haupt waren beseelt von dem Gedanken: „Mag kommen, was da will! Ich bin stark und muthig und halte unerschütterlich zu dir, den ich liebe!“

Oliveira wandte sein Gesicht von ihr weg; dann hob er mit lauter, fester Stimme an: „Der vorige Besitzer des Papageien war ein Deutscher. Er hat mir die seltsame Geschichte mitgetheilt, und ihn will ich selbst reden lassen:

,Ich war Arzt bei Dom Enriquez, einem Mann von bizarrem Charakter, der sich auf ein einsames Schloß zurückgezogen hatte und im glühenden Haß gegen seine Anverwandten schwelgte, weil sie ihn, wie er meinte, nicht verstanden. … Nicht weit von diesem Schlosse lebte die Frau Marquise, ein Wunder von Schönheit, eine Aspasia an Geist und Anmuth. Sie verstand die Wunderlichkeiten des Dom Enriquez vortrefflich und gab ihnen öffentlich Und wiederholt die Bezeichnung, mit denen er sie insgeheim, in den tiefsten Tiefen seiner Seele selbst belegte: die Originalität und die Genialität. … Sie hatte wundervolles, bernsteingelbes Haar – lächelnd und unvermerkt knüpfte sie die goldenen Fäden aneinander, und aus den millionenfachen wunderfeinen Fädchen und Knötchen wurde ein Netz, welches Dom Enriquez weit strenger von der Welt schied, als die dicken Mauern seines einsamen Schlosses. Er konnte nicht mehr leben ohne die funkelnden, schwarzen Augen der schönen Freundin; und dafür, daß sie ihn so vortrefflich verstand, wußte er keine andere Belohnung, als daß er ihr all’ sein Hab und Gut zu Füßen legte – er verstieß testamentarisch seine ihn nicht verstehende Familie und machte das Wunder von Schönheit, die geistvolle Aspasia zu seiner Universalerbin.’“

Er hielt inne und wandte den Kopf jäh seitwärts – der Tisch mit dem Geschirr klirrte – Gisela hatte jetzt beide Hände auf die Platte gestemmt und starrte mit aschbleichem Gesicht zu ihm hinüber – sobald aber sein Blick sie berührte, raffte sie sich auf und zwang die bebenden Lippen zu einem schwachen Lächeln.

„Aber die schöne Aspasia hatte auch Untiefen in ihrer Seele, die sie nicht immer vollständig zu verbergen vermochte,’“ fuhr der Portugiese mit leicht vibrirender Stimme fort, „und Dom Enriquez, der bei all’ seinen Eigenthümlichkeiten ein durchaus edler, ehrlicher Charakter war, fand im Lauf der Zeit hie und da Gelegenheit, einen schaudernden Blick hineinzuwerfen. … Auf diese Erkenntniß folgten Zerwürfnisse, die oft bedenklich an den Grundvesten des Testaments rüttelten. … Die Frau Marquise mißachtete trotzig diese bedrohlichen Anzeichen, sie vertraute ihrem hinreißenden Zauber, und dann – hatte sie manchen guten Freund in der Umgebung des Dom Enriquez.’“

Der Blick des Erzählers’ glitt vollkommen ruhig über die gespannten Gesichter der lautlos aufhorchenden Menge – er glitt auch über die schlaffen Augenlider des Mannes, der neben dem Fürsten saß – sie hoben sich nur einen Moment, wie vom Blitz berührt, und ein teuflischer Strahl zückte nach dem Portugiesen hinüber – dann sanken sie wieder, ohne daß sich auch nur ein Muskel des grünlich angehauchten Gesichts bewegte.

„,Die Frau Marquise gab einst ein brillantes Fest in ihrem Schlosse,’“ erzählte Oliveira weiter. „,Dom Enriquez war nicht zugegen – wohl aber wurde der schönen Aspasia, während sie wie eine Fee im prachtvollen Maskencostüm durch ihre Säle rauschte, kurz vor Mitternacht zugeraunt, der ferne Freund liege im Verscheiden. Halb sinnlos vor Angst und Schrecken warf sie sich in einen Wagen und fuhr allein, die Pferde mit eigener Hand lenkend, in die grausigste Sturmnacht hinein, um eine halbe Million zu retten’“ –

„Sie war allein, mein Herr?“ rief Gisela mit halberstickter Stimme und streckte dem Portugiesen unterbrechend die Hand entgegen.

„Sie war allein.“

„Hatte sie keine Tochter, die sie begleitete?“

„Die Tochter blieb auf dem Maskenball zurück,“ sagte plötzlich eine tiefe, harte Stimme dumpf, halblaut hinter ihr – der alte Soldat stand im Gebüsch und hob in scheinbar harmloser Geschäftigkeit, aber mit triumphirend lodernden Augen den Juwelenkasten vom Tisch, um ihn fortzutragen.

Gleichzeitig fühlte Gisela ihre Hand ergriffen – fünf eisige Finger umklammerten sie mit schmerzhaftem Druck; der Minister stand neben ihr.

„Was soll das heißen, mein Kind, daß Du das reizende Märchen des Herrn dort unterbrichst? … Kannst Du die Gewohnheiten der Kinderstube durchaus nicht abschütteln?“ schalt er mit lauter Stimme; aber diese Stimme hatte einen schauerlichen Klang, es war, als concentrire der Mann noch einmal allen Uebermuth, allen Trotz, alle die gefährlichen Eigenschaften, mit denen er bisher eisern geherrscht, in diesen Lauten. … Er hatte, wenn auch vielleicht nur mit halbem Ohr, die nicht laut gesprochene Antwort des alten Soldaten aufgefangen – er rügte sie mit keinem Wort, wohl aber deutete er gebieterisch nach der Richtung des Waldhauses – der alte Mann entfernte sich hohnlächelnd.

Der Minister hielt die Hand seiner Stieftochter fest und zwang sie, ihm zu folgen. Er warf, indem er mit ihr über die Wiese schritt, einen lächelnden, bedeutungsvollen Blick über den betroffen schweigenden Kreis, als wolle er sagen: „Da seht Ihr nun, was für ein exaltirtes, unberechenbares Geschöpf sie ist!“

„Den Schluß, den Schluß, Herr von Oliveira!“ rief die Gräfin Schliersen dringend, während Seine Excellenz das todtenbleiche junge Mädchen zwischen sich und seine Gemahlin placirte. „Ich habe bereits einen Regentropfen auf der Hand gespürt – sind wir erst im Ballsaale, dann ist das jedenfalls sehr pikante Ende Ihres – Märchens für uns verloren.“

[446] Aus den Zügen des Fürsten war allmählich der harmlose Ausdruck verschwunden. Die kleinen, grauen Augen sahen forschend und mißtrauisch nach dem Mann hinüber, der dort an der Buche lehnend so ruhig, aber auch so entschlossen die Arme über der Brust kreuzte und den flammenden Blick fest auf das durchlauchtigste Antlitz gerichtet hielt – er schien, ihm unheimlich zu werden. … Wie alle schwachen Charaktere, denen der Zufall eine hohe Lebensstellung eingeräumt, war er sehr geneigt, das entschiedene, sichere Auftreten fester Männlichkeit als Mangel an Deferenz zu beargwöhnen, und in dem Punkt vertrug er nichts. Zudem hatte das, was der Mann erzählte, eine verzweifelte Aehnlichkeit mit einer alten, dunklen, halbverschollenen Geschichte, die er um des Ministers willen nicht gern vor all’ diesen sehr wißbegierigen Ohren aufgerührt sehen mochte – ohne eigentliche Motivirung aber konnte er die lebhaft verlangte Pointe der Geschichte nicht unterdrücken; er winkte deshalb ziemlich eilfertig und mit einer nicht gar gnädigen Handbewegung dem Portugiesen, die Erzählung zu beenden.

Oliveira trat vom Baume weg; seine breite Brust dehnte sich unter einem tiefen Athemholen; ein erneuter Windstoß kam daher und, hob die schwarzen Hockenringel auf seiner finsteren Stirn.

„Hier beginnt die Selbstanklage des Mannes, den ich erzählen lasse – er hat schwer gefehlt, aber auch gelitten,“ fuhr er mit erhöhter Stimme fort. „,In jener Nacht, wo der Tod so jäh und unerwartet an Dom Enriquez herantrat, standen der Visconde – ein schöner, stolzer, tapferer Mann – und ich allein an seinem Bett’ – so lautet die weitere Mittheilung des deutschen Arztes. ,Der Sterbende benutzte die ihm vergönnte kurze Frist, um sein Testament umzustoßen – er dictirte uns ein neues. Wir schrieben Beide nach, um ganz sicher zu gehen – sein heiseres, oft von Röcheln unterbrochenes Flüstern war schwer verständlich. … Er ernannte den Chef seines Hauses zu seinem Universalerben, die Frau Marquise aber hatte das Nachsehen; sie erhielt nicht einen Fußbreit Landes, nicht ein Goldstück seines Besitzthums. … Der Sterbende unterschrieb das Schriftstück des Visconde, als das vollständigste und klarste, und wir Beide fungirten als Zeugen. … Er legte befriedigt das Haupt auf das Kissen zurück, um zu sterben – da wurde die Thür des Vorzimmers aufgerissen, dann kamen schleppende Seidengewänder näher; wir kannten diese Schritte nur allzu gut! Der Visconde eilte hinaus, um die Thür zu vertheidigen, und ich – verbarg schleunigst das gültige Testament in meiner Brusttasche. … Draußen sank die schöne Aspasia vor dem Wächter der Thür nieder und schlang ihre weißen Arme um seine Kniee. Das gelbe Haar, das ihr der Sturm auseinandergerissen, schleifte lang nach auf dem Boden; an der Seite des Gesichts aber floß es schmal und roth nieder und ringelte sich über den weißen Hals hin, wie eine kleine Schlange – ein Stein aus niederstürzendem Mauerwerk hatte ihre Stirn gestreift – sie blutete. … Der Visconde vergaß seine Pflicht und Ehre über der rührenden Hülflosigkeit der Bittenden – die Thür flog auf, und die Marquise stürzte an dem Sterbebett nieder. … Dom Enriquez verwünschte sie mit seinem letzten Athemzuge, er ging hinüber mit der Gewißheit, sein Unrecht ausgelöscht zu haben; aber die schöne Aspasia mit dem vor Angst zu Wachs erblichenen Gesicht war doch sein und unser Meister. … Die buntschillernde Schlange umstrickte in weichen, schmeichelnden Windungen den stolzen, ritterlichen Mann, den Hauptzeugen – er erlag dem Dämon – er trat plötzlich in eine Fensternische, wandte dem Zimmer mit Allem, was darin, beharrlich den Rücken und sah unverwandt und angelegentlich hinaus in das nächtliche Sturmgebrause – dann züngelte die Schlange an mich heran und zischte mir leise zu, daß ihr einziges Kind, der Abgott meines Herzens, mein sei, wenn ich geschehen lasse, daß sie das auf dem Tische liegende Schriftstück lese – ich wandte das Gesicht weg; sie ergriff das Exemplar des Testamentes, das ich nachgeschrieben. Mit halblauter Stimme, bebend vor Ingrimm, überlas sie die ersten Paragraphen, die sie in eklatantester Weise verstießen – sie wandte das Blatt nicht um – somit entging ihr das Fehlen der Unterschrift. Grell auflachend ballte sie plötzlich das Papier in den Händen zu einem gestaltlosen Klumpen und schleuderte ihn in die Kaminflamme. … Erst, nachdem die Frau Marquise kraft des ersten Testamentes ihre Erbschaft angetreten, hatte sie die Gnade, mir achselzuckend und satanisch lächelnd die Mittheilung zu machen, daß sie bereits Wenige Secunden vor ihrer tollen Fahrt nach dem Sterbelager des Dom Enriquez ihre Tochter mit einem Ebenbürtigen verlobt habe – ich konnte sie nicht mehr verrathen, ohne den Kopf selbst in die Schlinge zu stecken!’“ .

Ein Gemurmel flog durch den Kreis. Der Portugiese schritt auf den Fürsten zu.

„Das eigentliche gültige Testament des Dom Enriquez aber wanderte mit dem ruhelosen Mann, der auf die Eröffnung der Frau Marquise nicht ein Wort der Erwiderung gefunden hatte, in die Welt hinaus,“ sagte er mit feierlicher Stimme. Er griff in die Brusttasche und zog ein Papier hervor. „Er hat es kurz vor seinem Tode in meine Hände niedergelegt – wollen sich Euer Durchlaucht überzeugen, daß es tadellos in seiner Abfassung ist?“

Mit einer tiefen Verbeugung reichte er dem Fürsten das Papier hin.

Aller Augen hingen in athemloser Spannung an dem fürstlichen Antlitz. Niemand sah, wie der Minister bei dieser überraschenden Wendung mit leichenhaften Wangen anfänglich zurücktaumelte, dann aber sich halb von seinem Sitz erhob und mit vollkommener Hintansetzung des Schicklichen über die Schulter seines fürstlichen Herrn hinweg in das Blatt stierte, das Serenissimus langsam, mit befangenem Zögern entfaltete.

„Ha, ha, ha, mein Herr von Oliveira,“ rief Seine Excellenz heiser auflachend, „Sie gehen in der Mystificirung Ihrer aufmerksamen Zuhörer wirklich so weit, selbst eine schriftliche Beglaubigung Ihrer allerliebsten kleinen Erzählung zu bringen?“

Auch dieser impertinente Ausruf wurde nicht weiter beachtet – der auserwählte Kreis der Hoffähigen hatte ja das seltene, interessante Schauspiel, Serenissimus völlig fassungslos zu sehen. Er hielt das geöffnete Papier einen Augenblick in den leicht bebenden Händen, als traue er seinen Augen nicht. Sein bleiches Antlitz wurde dunkelroth vor Bestürzung – er überflog die erste Seite, dann wandte er das Blatt um und suchte die Unterschrift.

Wenn indeß die lauschende Menge erwartete, nun auch die Namen des Dokumentes von den Lippen zu hören, die sich, wie nach Athem ringend, öffneten, dann irrte sie sich – Serenissimus war nicht umsonst langjähriger Schüler seines diplomatisch gewiegten Ministers gewesen – die Lippen schlossen sich wieder; er legte secundenlang die Rechte über die Augen, dann richtete er sich auf, als erwache er aus einem Traume, legte das Papier mit fieberhafter Hast zusammen und schob es in die Tasche.

„Sehr hübsch – sehr interessant, Herr von Oliveira!“ sagte er in eigenthümlich belegten Tönen. „Ich werde noch einmal darauf zurückkommen – gelegentlich! … Aber wahrhaftig,“’ rief er aufspringend, „Sie haben Recht, liebe Schliersen, es fängt an zu regnen! … Eilen wir, unter das sichere Dach zu kommen! Hören Sie, meine Damen, wie es in den Wipfeln saust und braust? … Schnell, schnell! … Fackeln voran!“

Es sah aus, als werde in eiliger Hast ein Zigeunerlager abgebrochen. Alles rannte durcheinander; die Damen suchten nach Shawls und Mantillen, die Herren nach ihren Hüten. … Außer Seiner Durchlaucht und der Gräfin Schliersen spürte zwar noch Niemand auch nur einen der ominösen fallenden Regentropfen; dennoch traf man alle Vorkehrungen, die gefährdeten Toiletten in Sicherheit zu bringen.

Während des allgemeinen Tumultes versuchte Gisela, wieder in die Nähe des Fürsten zu kommen, der scheinbar harmlos plaudernd mit der Gräfin Schliersen noch einen Augenblick inmitten der Wiese verweilte. Seine kleinen, grauen Augen hatten nach dem Durchlesen des Dokumentes das Gesicht der jungen Gräfin gestreift – sie verhehlte sich nicht, daß der Blick mißtrauisch forschend und vorwurfsvoll gewesen sei – hatte sie doch durch ihr leidenschaftliches Hervortreten und ihre Fragen verrathen, daß sie um das Geheimniß wisse. … Ihr Gesicht brannte in einer dunklen Fieberhitze – sie war in einer unbeschreiblichen [447] Aufregung. … Hätte die schöne Stiefmutter nicht selbst unter dem beklemmenden Bann eines zwar unbestimmten, aber nichtsdestoweniger bänglichen Vorgefühles kommender schlimmer Ereignisse gelegen, sie wäre der Welt gegenüber um einen Beleg für die nervöse Reizbarkeit ihrer Tochter reicher gewesen; so aber raffte sie in ängstlicher Hast ihre Gazewogen zusammen, und auch ihre Augen suchten unablässig nur den Fürsten, als könne sich auf seinem Gesicht lesen lassen, was das verhängnisvolle, auf seiner Brust verborgene Papier enthalte.

„Gisela, Du wirst die Freundlichkeit haben, an meinem Arm nach dem Schlosse zurückzukehren,“ sagte plötzlich die unterdrückte, heisere, aber dennoch scharf und kurz befehlende Stimme des Ministers dicht neben dem jungen Mädchen. „Du siehst mir aus, als stündest Du eben wieder einmal im Begriff, einen Deiner tollen Streiche auszuführen! … Nicht einen Laut, wenn ich bitten darf! … Wir sollen das Opfer einer schlauangelegten Intrigue werden; aber noch ist nichts verloren – ich bin noch da!“

Ein Blick der tiefsten Verachtung, eines grenzenlosen Abscheues aus den braunen Augen traf den Mann mit der frechen Stirne, der eben als schamloser Lügner vor seiner Stieftochter entlarvt worden war und es trotzdem wagte, ihr gegenüber von schlauen Intriguen Anderer zu sprechen. … Das Verbrechen war dem Fürsten verrathen; er kam durch eine wunderbare Fügung in Besitz des ihm rechtmäßig zustehenden Erbes, und nun sollte sie es schweigend geschehen lassen, daß die sonnenklare Wahrheit mittels heimtückischer Ränke und einer unglaublichen Frechheit unterdrückt wurde? Ja, sie sollte sogar in Gemeinschaft mit ihm, der sie selbst so unverantwortlich hintergangen, das schauerliche Geheimniß ihr Lebenlang behüten und durch, wer weiß wie viele, lange Jahre hindurch das Fürstenhaus um die Einkünfte der Güter betrügen? … Auch nicht einmal mehr kam ihr das Gefühl des Erbarmens, der Pietät für die herzlose, ränkevolle Frau, der kein Mittel zu schlecht gewesen war, sich zu bereichern – sie sah nur mit Schaudern und Entsetzen in den tiefen Abgrund, der sie bis in alle Ewigkeit von ihrer Großmutter schied. … Die eigentlichen Motive, um deren willen ihr Stiefvater sie zur Mitwisserin des Geheimnisses gemacht hatte, durchschaute zwar ihr reiner, völlig ungeübter Blick noch immer nicht, aber klar wurde ihr doch, daß dieser Mann mit der bodenlos verdorbenen Seele sicher nicht um der edlen Absicht willen, den Namen Völdern fleckenlos zu erhalten, alle Hebel seines raffinirten Geistes in Bewegung setzte.

Nicht eine Sylbe antwortete sie auf sein Geflüster, das mit den letzten Worten einen vertraulichen Anstrich angenommen hatte; aber sie wandte das Gesicht von ihm mit jenem Grausen, welches uns angesichts eines giftigen Reptils erfaßt. Ihre verachtungsvolle Zurückweisung schützte sie indeß nicht vor der aufgedrungenen Begleitung. Der Minister ergriff ohne Weiteres ihren Arm, legte ihn in den seinigen und hielt ihn dort mit der Linken so gewaltsam fest, daß sie sich nicht befreien konnte, ohne peinliches Aufsehen zu erregen. Und jetzt eilte Frau von Herbeck herbei; sie drängte sich so energisch und bewachend an die andere Seite des jungen Mädchens, als habe sie Gensd’armenpflichten. Die kleine, fette Frau hätte die Gemüthsbewegung über Gisela’s „unschickliches, vollständig unmotivirtes Hervortreten“ während der Erzählung des Portugiesen noch nicht überwunden; sie behauptete, noch an allen Gliedern zu zittern, und versicherte Seiner Excellenz wiederholt mit wehmüthiger Betonung, nichts sehnlicher zu wünschen, als daheim im lieben, stillen Greinsfeld zu sein, wo doch „der nun einmal unvermeidliche ewige Scandal“ wenigstens hinter den vier Mauern bleibe.


29.

Der Zug setzte sich in Bewegung. Seine Excellenz schritt mit Gisela dicht hinter dem Fürsten, der den Portugiesen an seine Seite gerufen hatte. … Wer das Gesicht Seiner Durchlaucht kannte, der wußte, daß er, trotz der außerordentlichen Beherrschung seiner Züge, trotz des alltäglichen, fast inhaltslosen Geplauders, welches er an Oliveira richtete, in heftiger Aufregung war. Er schritt, ganz entgegengesetzt seiner sonst streng gemessenen Art und Weise, sehr eilfertig und hastig nach dem weißen Schlosse – unheimlich lautlos und gedrückt folgte ihm der Zug der Gäste – die Erzählung des merkwürdigen Fremden war wie ein erstarrendes Element auf die überschäumende Lust gefallen.

Es war übrigens die höchste Zeit gewesen, den Festplatz zu verlassen. Rasch aufeinander folgende Windstöße brausten über den See und warfen die im Fackellicht purpurn sprühenden Wellen so hoch an das seichte Ufer, daß die zarten, atlasbeschuhten Füßchen der Damen ängstlich zurückwichen. Soweit der rothe Schein der Illumination über den Himmel hinflog, zeigte er eine schwarze, gährende Masse, die hie und da in jenen fahlweißen Spitzen und Kuppen, gipfelte, welche den Hagel in ihrem Schooß tragen. Man drängte sich eng aneinander, die wildaufflatternden Umhüllungen mühsam festhaltend – eine Fackel nach der anderen erlosch in den jäh an- und abschwellenden Athemzügen des Gewittersturmes; aber dort strahlte ja bereits das weiße Schloß in seinem Lichtermeer wie ein aus Feuer geschnittener Würfel herüber – es galt noch ein kurzes, tapferes Ringen, und das schutz- und lustverheißende Dach war erreicht.

In der Thüre des Vestibules drehte sich der Minister noch einmal um und sah hinaus in die Nacht.

„Wir bekommen Nichts von dem Wetter!“ rief er in die Halle zurück. „Es fällt kein Tropfen mehr – der Sturm treibt Alles nach A. zu. … Wir hätten getrost im Walde bleiben können! Ich stehe dafür, in zehn Minuten ist Alles vorüber! … Den Wagen der Gräfin Sturm!“ herrschte er einem der Lakaien zu.

„Wollen Euer Durchlaucht die Gnade haben, für heute meine Tochter zu entlassen?“ wandte er sich an den Fürsten, der eben im Begriff stand, die Treppe hinaufzusteigen. „Sie tanzt nicht, und mir würde es sehr lieb sein, sie nunmehr, nach den vielfachen freudigen Aufregungen und Eindrücken des heutigen Abends, in der beruhigenden Stille ihres Daheim zu wissen.“

„Sie werden doch die Gräfin nicht in das Wetter hinausschicken?“ rief der Fürst überrascht und seltsam verlegen zugleich. Er blieb auf der untersten Treppenstufe stehen, sah aber Gisela nicht an, die ihm nahe stand.

„Ich kann Euer Durchlaucht versichern, daß wir, ehe der Wagen vorfährt, den schönsten Sternenhimmel haben werden,“ versetzte der Minister lächelnd.

„Die Furcht vor dem Wetter hält mich nicht zurück,“ sagte Gisela ruhig und noch näher an den Fürsten herantretend. „Ich würde sofort und sehr gern das weiße Schloß verlassen; aber ich bin gezwungen, Euer Durchlaucht um die Gnade zu bitten, mir heute noch, und sei es auch nur für wenige Minuten, eine Audienz zu gewähren.“

„Was fällt dem Kind ein?“ rief der Minister heiser auflachend. „Euer Durchlaucht, dieses hochwichtige Anliegen meines Töchterchens betrifft sicher die inneren Angelegenheiten ihrer Puppenstube oder nein, sie hat ja in den letzten Tagen ihren Gesichtskreis um ein Bedeutendes erweitert – irre ich nicht, so handelt es sich um Deine Armen; wie, mein Kind? – Dazu hast Du aber den Augenblick sehr unpassend gewählt, und wenn ich nicht als sehr geduldiger Papa Deine große Unerfahrenheit, in Betracht zöge, würde ich sehr zürnen! … Hat die Gräfin keine bequemere Kopfbedeckung, als diesen runden Hut, Frau von Herbeck?“

„Hier, nimm meinen Baschlik, Herzchen,“ sagte die schöne Excellenz, rasch hinzutretend. Sie riß die glänzend weiße Umhüllung von Kopf und Schultern und versuchte, dieselbe der Stieftochter umzuwerfen.

„Ich muß meine Bitte wiederholen,“ wandte sich Gisela nochmals, jetzt aber mit auffallend vibrirender, flehender Stimme an den Fürst, während sie mittels einer leichten Bewegung den Baschlik zurückwies. „Um einer Geringfügigkeit willen würde ich Euer Durchlaucht ganz gewiß nicht behelligen.“

Der Fürst überblickte flüchtig die Gesichter, die aufhorchend umherstanden.

„Nun gut,“ sagte er rasch; „bleiben Sie, Gräfin – ich werde Sie jedenfalls heute noch sprechen, wenn auch nicht sofort - ich muß mich für einige Augenblicke zurückziehen –“

„Euer Durchlaucht –“ warf der Minister mit halberstickter Stimme ein – er war unverkennbar bis zur Wuth gereizt.

Der Fürst schnitt ihm die Rede ab. „Lassen Sie, mein lieber Fleury; ich meine, wir dürfen die kleine, liebenswürdige Bittstellerin nicht zum Widerspruch reizen. … Und nun, viel Vergnügen!“ wandte er sich huldvoll an seine anderen Gäste. „Amüsiren Sie sich nach Herzenslust, bis es mir vergönnt sein wird, in Ihrem Kreise wieder zu erscheinen. … Hören Sie? meine Capelle intonirt bereits.“

[448] Er winkte mit scheinbarer Unbefangenheit dem Minister, ihm zu folgen, während er mit dem Portugiesen die Treppe hinaufstieg.

Aus den weitgeöffneten Flügelthüren der Säle fluthete es tageshell; eine rauschende Polonaise erstickte den ersten, fernrollenden Donner, und die Gestalten, die eben noch schweigsam und ängstlich verhüllt durch die Nacht geflohen waren, schritten und schwebten wieder plaudernd mit ungeschmälerter Eleganz und in fleckenlos bewahrtem glänzendem Costüm über das spiegelglatte Parquet.

Mittlerweile schritt Gisela nach dem Saal, der an die Schloßkirche stieß – das war gewissermaßen neutrales Gebiet, ein Raum, den Niemand beanspruchte. Ein Diener brachte auf ihr Geheiß mit sehr erstauntem Gesicht eine große Kugellampe, die sich in dem weiten, schauerlich stillen Saal zu einem Fünkchen verkleinerte.

Die Baronin Fleury und Frau von Herbeck begleiteten die junge Gräfin. Beide boten Alles auf, zu erfahren, aus welchem Grunde sie den Fürsten sprechen wolle. Sie war indeß wieder einmal „über die Gebühr dickköpfig“, wie die Gouvernante mit ingrimmig zusammengebissenen Zähnen innerlich bemerkte, und als sich endlich auch die schöne Excellenz überzeugte, daß „Nichts herauszubringen“ sei, und daß sich die störrige Stieftochter weder durch inständige Bitten, noch durch Drohungen bewegen ließ, dem Wunsch des Ministers zufolge nach Greinsfeld zurückzukehren, da verließ sie achselzuckend den Saal.

Frau von Herbeck kauerte sich, trotz der draußen herrschenden Hitze fröstelnd und tief aufseufzend, in einen der hochbeinigen Lehnstühle zusammen – Nachts war dieser geliebte, heilige Saal denn doch zu spukhaft. … Die junge Gräfin aber schritt ruhelos über das altersbraune, ächzende Getäfel des Fußbodens. …

Draußen, hinter den unverhüllten Bogenfenstern gähnte die schwarze, tiefe Finsterniß, von Zeit zu Zeit durchschnitten von einem grellen Blitz des in der That abziehenden Gewitters. Dann zitterte der gelbe Feuerschein über die nachtbedeckten Wände des Saales – die Gouvernante schloß stets entsetzt die Augen – es wollte lebendig werden unter diesen mächtig verkörperten Gestalten der Bibel; sie schwebten zürnend auf die Heuchlerin zu, die frech nach der ihr Haupt umzuckenden Glorie griff, um Handel mit ihr zu treiben, die ihre eigene unkeusche, lasterhafte Seele hinter der sogenannten Gemeinschaft mit ihnen verbarg, und die, um herrschen zu können, wozu sie ihr eigener kleiner, beschränkter Geist nicht berechtigte, das heilige Wort der Schrift zu einer Geißel machte, und mit ihr der unbequemen Wahrheit, dem tiefforschenden und im freien Aufflug denkenden Menschengeist plump in das Gesicht zu schlagen versuchte. …

Auch eine liebliche alttestamentliche Gestalt, das unschuldige Opfer heidnischer Begriffe, die schöne Tochter Jephtha’s, hob der feurige Finger des Blitzes aus dem Dunkel – sie schwebte dort im weißen Gewande, wie eine ängstlich aufflatternde Taube, und schaute mit ihren todestraurigen Augen auf die unruhig Wandernde hernieder, die, fiebernde Angst in den Zügen, unablässig den Saal durchmaß.

Gisela schritt auch wohl hinaus in den halbdunklen Gang, und blieb wartend und lauschend an dessen Mündung stehen. Hier führte eine Treppe in das obere Stockwerk, nach den Appartements der Stiefeltern – der Fürst war droben, er mußte auf seinem Rückweg nach dem Ballsaale hier wieder zurückkommen.

Serenissimus war in der That mit seinen zwei Begleitern hinaufgestiegen, um fern von Lauschern und dem störenden Geräusch des Ballsaales zu sein. Er trat in den Salon mit den violetten Plüschvorhängen und schloß die nach der langen Zimmerreihe führende Thür ab. Am Plafond des anstoßenden Seezimmers brannte eine kleine Flamme in der schwebenden, milchweißen Lotosblume – sie goß einen bleichen Mondenschein über den grünen Meereszauber, die weißen Glieder der Wassergötter und das dämonisch schöne Bild der Gräfin Völdern.

Wie nach einer athemlosen Flucht blieb der Fürst mitten im Zimmer stehen und zog das Document hastig aus der Tasche. Jetzt durfte er sich zeigen, wie er war – er war in der heftigsten, fast niegesehenen Aufregung. Er schlug das Blatt um und las mit gedämpfter Stimme: „Heinrich, Prinz zu A. – Hans von Zweiflingen, Major a. D. – Wolf von Eschebach –“

[461] „Es ist kein Zweifel!“ rief der Fürst aus. „Eschebach hat Ihnen eigenhändig dieses Schriftstück, dieses Testament übergeben, Herr von Oliveira?“

„Vor Allem muß ich Euer Durchlaucht die Mittheilung machen, daß ich ein Deutscher bin,“ sagte der Portugiese ruhig. „Mein Name ist Berthold Ehrhardt – ich bin der zweite Sohn des ehemaligen fürstlichen Hüttenmeisters Ehrhardt in Neuenfeld –“

„Ha, ha, ha!“ lachte der Minister im wilden Triumph auf. „Wußte ich doch, daß die ganze Geschichte auf einen Schwindel hinauslaufen würde. … Durchlaucht, da haben wir einen Demagogen vom reinsten Wasser wieder im Lande – er hat sich vor circa zwölf Jahren durch die Flucht der gesetzlichen Strafe entzogen!“

Der Fürst trat mit finster gerunzelten Brauen und einer sehr ungnädigen Bewegung zurück.

„Wie – Sie haben sich unter falschem Namen in meine Nähe einzuschleichen gewußt?“ rief er unwillig.

„Ich bin in der That Herr von Oliveira, Herr einer Besitzung, die diesen Namen führt und mir verleiht – in Brasilien gilt er für meine Persönlichkeit so gut, wie mein Familienname,“ entgegnete der Portugiese unerschüttert. „Wäre ich nach Deutschland zurückgekehrt, lediglich im eigenen Interesse, dann würde Nichts in der Welt mich vermocht haben, den lieben, ehrlichen [462] deutschen Namen auch nur für eine Secunde abzulegen. … Aber ich hatte eine Mission zu erfüllen, welche die größte Vorsicht erheischte. … Ich mußte mit Euer Durchlaucht in unmittelbaren, längeren Verkehr treten, und wußte doch, daß die strenge Handhabung der Etikette am Hofe zu A. einem Bürgerlichen diesen Verkehr nie gestatten würde –“

„Und wie sehr diese chinesische Mauer um die Person unseres allerhöchsten Herrn am Platze ist, beweisen Sie in diesem Augenblick schlagend, mein sehr vortrefflicher Herr Ehrhardt!“ fiel der Minister mit satanischem Hohn ein. „Es würde Ihnen in der That nie gelungen sein, Serenissimus mit diesem Schwindel“ – er zeigte auf das Testament in der Hand des Fürsten – „zu mystificiren, wenn Sie Ihren ,lieben, ehrlichen deutschen Namen’ beibehalten hätten … Durchlaucht,“ wandte er sich achselzuckend an seinen fürstlichen Herrn, „wünscht irgend Einer Ihrer Getreuen die Besitzungen und Einkünfte des fürstlichen Hauses zu vergrößern, so bin ich’s – mein ganzes bisheriges Wirken mag für mich sprechen – aber ich müßte mich selbst mit Blindheit schlagen, ich beginge die schreiendste Unterlassungssünde, wenn ich nicht das erbärmliche Machwerk in Ihren Händen für ein Falsificat erklärte! … Mein Herr Ehrhardt, mein sehr verehrter Herr Demokrat, ich durchschaue Ihre und Ihrer löblichen Partei Absichten nur allzu gut! Mit diesem Testament suchen Sie der Schaar, die den Thron ihres Herrn in unwandelbarer Treue umsteht, der Aristokratie, einen Schlag in das Gesicht zu versetzen – aber hüten Sie sich – ich stehe da und gebe den Schlag zurück!“

Wohl flammte der verhängnißvolle Streifen auf der Stirn des Portugiesen wie ein Feuermaal auf, wohl zuckte es in der geballten Rechten, als wolle sie schmetternd niederfallen – aber Berthold Ehrhardt war nicht mehr jener heißblütige Student, den einst nur der tiefernste, heißgeliebte Bruder in die Schranken der Selbstbeherrschung zurückzuführen vermochte – er war in diesem Moment das erhabene Bild mächtiger Willenskraft und moralischer Stärke – die gehobene Rechte sank, und sein flammender Blick glitt ernst messend an der schmächtigen Gestalt des Ministers nieder.

„Seine Durchlaucht wird im Laufe meiner Mittheilungen erfahren, weshalb ich jedwede Satisfaction Ihrerseits verschmähe,“ sagte er gelassen.

„Unverschämter –“ fuhr der Minister auf.

„Baron Fleury, ich bitte dringend um Mäßigung,“ rief der Fürst und streckte ihm gebietend die Hand entgegen. „Lassen Sie den Mann reden – ich will mich selbst überzeugen, ob wirklich die Umsturzpartei, der Haß – “

„Die sogenannte Umsturzpartei in Euer Durchlaucht Lande hat mit dieser Angelegenheit nichts zu schaffen“ – warf der Portugiese ein – „wenn aber Euer Durchlaucht von Haß sprechen, so kann und darf ich ihn nicht leugnen, meinen tiefen, unauslöschlichen Haß gegen diesen Mann!“ Er zeigte auf den Minister, der abermals verächtlich auflachte. „Ja, ja, lachen Sie!“ fuhr der Portugiese fort. „Dieses Hohngelächter hat mich begleitet, als ich aus dem Vaterlande floh; es hat in meinen Ohren gegellt, wohin ich auch meinen flüchtigen Fuß setzen mochte – im lauten Geräusch der Städte und in der tiefen Stille der Einöden! … Wohl kam ich mit heißen Rachegedanken über das Meer zurück – die glühende Sonne des Südens, aber auch die Mittheilungen eines schwer hintergangenen Mannes hatten sie allmählich zum lodernden Brand angefacht. Das Blatt dort“ – er zeigte nach dem Testament – „sollte auch Zeugniß ablegen gegen den Mann, der meinem armen Bruder sein Kleinod hohnlachend entrissen, der das Maß des Elends über zwei unschuldige Menschen ausgeschüttet hat, weil ihm nach des Urias Weib gelüstete – ich sage es noch einmal, ich bin zurückgekommen, einzig und allein, um zu rächen! … Diese Flamme ist erstickt in meiner Brust, – eine edle Stimme, ein unschuldiges Geschöpf hat mich zu überzeugen gewußt, daß sie unrein sei. … Wenn ich jetzt noch meine Mission consequent durchführe, das heißt mit anderen Worten, wenn ich Sie stürze von dem Gipfel Ihrer absolutistischen Herrlichkeit, so geschieht es einzig, um eine Geißel meines unglücklichen Vaterlandes zu vernichten.

Der Fürst stand wie vom Donner gerührt vor dieser unglaublichen Kühnheit, der Minister aber machte eine tigerartig rasche Bewegung nach der Klingel, als stehe er in seinem Bureau, und draußen vor der Thür die Häscher.

Ein kaltes Lächeln glitt bei diesem Anblick um die Lippen des Portugiesen. Er zog abermals ein Papier, ein kleines, vergilbtes, zerknittertes Blättchen, hervor – es bebte auf und nieder – man sah, die Hand zitterte doch, die einen Beweis nach dem anderen für eine schwere Schuld beibrachte.

„Euer Durchlaucht,“ wandte er sich mit bedeckter Stimme an den fürstlichen Herrn – „in der Nacht, da Prinz Heinrich im Sterben lag, ritt ein Mann nach A., um den Fürsten an das Lager des Verscheidenden behufs einer Versöhnung zu holen. … Greinsfeld lag zwar abseits, aber der Reiter verließ doch die Chaussee nach A. und ritt hinüber nach dem Schlosse, wo ein großer Maskenball abgehalten wurde. Bald darauf trat ein Domino an die Gräfin Völdern heran und drückte ihr diesen Zettel in die Hand – er entfiel später dem Busen der Gräfin, als sie am Bett des Prinzen niederstürzte – Herr von Eschebach hob. ihn auf und nahm ihn in Verwahrung –“

In diesem Augenblick stürzte der Minister, bar aller Fassung, auf den Portugiesen zu und suchte ihm das Papier zu entreißen, allein an diese gigantische Kraft durfte er sich nicht heranwagen – ohne zu wanken, mit einer einzigen Bewegung schleuderte der gewaltige Mann den heimtückischen Angreifer weit von sich und überreichte dem Fürsten den Zettel.

„Prinz Heinrich liegt im Sterben“ – las Serenissimus mit wankender Stimme – „will sich mit dem fürstlichen Haus versöhnen, eilen Sie – sonst Alles verloren – Fleury.“

„Schuft!“ stieß der Fürst hervor und schleuderte dem Minister den Zettel vor die Füße.

Aber noch gab sich der Mann mit der ehernen Stirne nicht verloren. Er war bereits wieder Herr über sich selbst – er hob das Papier auf und überlas es – freilich hatte diese Stimme voll Aufregung etwas Lallendes.

„Wollen Euer Durchlaucht wirklich einen treuen Diener Ihres Hauses auf eine solche elende Denunciation hin verurtheilen?“ fragte er mit der Oberfläche der linken Hand auf das Papier schlagend. „Ich habe den Zettel nicht geschrieben – er ist gefälscht – ich schwöre es – gefälscht –“

„Gefälscht, wie die gräflich Völdern’schen Familiendiamanten, die Ihre Frau Gemahlin trägt?“ fragte der Portugiese ruhig.

Drüben im Nebenzimmer wurde ein Poltern laut – dann hörte man fern eine Thür schmetternd in’s Schloß werfen.

Der schlimmste Zeuge gegen den Minister war sein Gesicht – es war entstellt bis zur Unkenntlichkeit; dennoch wehrte er sich mit der Verzweiflung eines Ertrinkenden.

„Ueberzeugen sich Euer Durchlaucht noch immer nicht, daß Sie es mit einem Ehrlosen zu thun haben?“ stammelte er. „Gehören meine Privat- und Familienverhältnisse, die er mit einer solchen unglaublichen Frechheit zu besudeln sucht, vor dieses Forum?“

Der Fürst wandte sich ab – es mochte ihm unerträglich peinlich sein, in das fieberisch zuckende Antlitz seines langjährigen Günstlings und Beherrschers zu sehen, der, völlig verlassen von Geist, Witz und einer beispiellosen Zuversicht, auf so klägliche Weise nach einem letzten Halt griff.

„Bleiben Sie bei der Sache, Excellenz!“ sagte her Portugiese unerschüttert. „Es fällt mir nicht ein, Ihre Privat- und Familienverhältnisse zu berühren; obwohl ich nicht leugnen kann und darf, daß ich auch auf diesem Gebiet nicht fremd bin.“ –

„Ach, es hat Sie interessirt, die Tiefe meines Portemonnaie und die Länge meiner Wäschzettel kennen zu lernen?“ Der Minister versuchte noch einmal, mit diesen Worten seinen gewohnten hohnvollen sarkastischen Ton anzuschlagen – er klang von den angstbleichen, bebenden Lippen nur um so widerlicher. Der Portugiese ignorirte den beißenden Einwurf vollständig.

„Sie haben in Herrn von Eschebach einen unversöhnlichen Feind gehabt,“ fuhr er gelassen fort. „Ihn hat das begangene Unrecht aus der Heimath fortgetrieben; er ist trotz seiner erworbenen Reichthümer ein armer, unglücklicher, einsamer Mann geblieben und hat auf fremder Erde sterben müssen. Auch an Herrn von Zweiflingen haben sich Verrath und Treubruch schwer gerächt – er ist schmählich untergegangen. … Nur Sie, der das Signal zu jenem abscheulichen Betrug gegeben, der Sie, als getreuer Helfershelfer der Gräfin Völdern, die ersten Knoten des Netzes geschlungen haben, in das die zwei Bethörten gelockt worden sind – Sie haben sich mit beiden Füßen auf Ihr Verbrechen gestellt, um von da aus, Staffel für Staffel, nach Ehren, [463] Ansehen und unumschränkter, schändlich gemißbrauchter Macht emporzusteigen. … Noch einmal hoffte der Einsame in Südamerika, den seine glühende Liebe für die Tochter jenes ränkevollen Weibes bis in den Tod begleitet hat, auf Glück – es war da, wo Graf Sturm heimging. Herr von Eschebach wollte nach Deutschland zurückkehren – aber da stand bereits Seine Excellenz der allmächtige Minister wieder, streckte seine Hand aus und führte die schöne Wittwe heim.“

„Aha – da kommt des Pudels Kern!“ rief der Minister mit hohlem, klanglosen Auflachen. „Mein Glücksstern hat den scheelen Neid, die im Finstern schleichende Bosheit gegen mich herausgefordert!“

„Excellenz, sagen Sie lieber, die Entrüstung darüber, daß das Böse so viele Jahre lang triumphiren durfte!“ sagte der Portugiese mit starkem Nachdruck und sprühenden Augen. „Seit jenem Augenblick hat Herr von Eschebach Sie allerdings verfolgt, wie der Jäger das einmal aufgespürte Wild. Er hatte über Millionen zu gebieten – sie haben ihm tausend Wege erschlossen, Sie in Ihrem geheimsten Thun und Treiben zu belauschen – er hat Ihre intimsten Beziehungen in Paris und in den Bädern den Spielhöllen – gekannt, und wenige Tage vor seinem Tode bin auch ich zur Kenntniß aller dieser Einzelnheiten gekommen. Doch das sind in der That Ihre Privatangelegenheiten, und sie gehören nicht hierher. … Dagegen ist es mit nichten Ihre Privatsache, wenn Sie das Besitztum Ihrer Mündel veruntreuen, wenn Sie die ihr gehörigen Juwelen für achtzigtausend Thaler verkaufen und einen werthlosen, imitirten Schmuck dafür eintauschen. … Es ist ferner ebensowenig Ihre Privatsache allein, daß Sie hier auf unrechtmäßig erworbenem Boden stehen – Sie haben das weiße Schloß nie gekauft – es war der Preis für Ihren Verrath am Fürstenhause!“ …

„Teufel!“ schrie der Minister auf. „Sie plündern mich bis auf’s nackte Leben!“ Er fuhr mit beiden Händen nach dem Kopfe. „Ha, ha, ha! Und lebe ich denn wirklich noch? … Ist es wahr, daß der erste, beste Glücksritter daherkommen und mir vor Eurer Durchlaucht Augen die nichtswürdigsten Verleumdungen ungestraft in das Gesicht schleudern darf?“

„Widerlegen Sie diese Verleumdungen, Baron Fleury!“ sagte der Fürst mit scheinbar äußerer Ruhe.

„Euer Durchlaucht verlangen in der That von mir, daß ich mich herbeilasse, die Anklagen dieses Abenteurers zu entkräften? … Es fällt mir nicht ein – ich stoße sie verächtlich mit dem Fuße weg, wie einen Stein, den man mir in den Weg geworfen!“ rief der Minister mit heiserer, aber ziemlich fester Stimme – seine Frechheit und Zuversicht wuchsen wieder; es hatte Etwas wie ein schmerzliches Bedauern in Serenissimus Ton mitgeklungen. „Durchlaucht, ich setze den Fall – ich sage nur – gesetzt, es träfe mich in Wirklichkeit hie und da ein Vorwurf – liegen nicht in der anderen Wagschale so viele Verdienste um das Fürstenhaus, daß ein längst verjährtes Unrecht darüber vergessen werden könnte? … Sollte es nicht schwer in das Gewicht fallen, daß ich den Glanz der Dynastie zu mehren verstanden habe wie keiner meiner Vorgänger? Daß ich wie ein Schild vor ihr stehe und den Steinhagel auffange, den die Schlechtgesinnten, die Demokratie nach den Traditionen Ihres edlen Hauses schleudert? Daß ich dem Zeitgeist nie gestatte, auch nur mit einem Finger an die geheiligten Rechte des Herrschers zu rühren? … Ich bin Euer Durchlaucht getreuester, uneigennützigster Rathgeber in den Beziehungen zu Ihrem Lande, wie in den intimen Angelegenheiten der fürstlichen Familie –“

„Sie sind es nicht mehr,“ unterbrach ihn der Fürst mit schwerer Betonung.

„Durchlaucht –“

Der Fürst wandte ihm den Rücken, trat in die Fensternische und trommelte mit den Fingern heftig auf den Scheiben.

„Bringen Sie mir Gegenbeweise, Baron Fleury!“ rief er in das Zimmer zurück, ohne sich umzuwenden.

„Ich werde nicht verfehlen, Euer Durchlaucht,“ stammelte der Minister, buchstäblich zusammenbrechend. Er griff mit unsicher tappender Hand nach dem Thürschloß und taumelte hinaus in den Corridor.


30.

Am unteren Ende des Ganges erschien in diesem Augenblick Gisela. Die Besorgniß, daß der Fürst doch vielleicht einen anderen Rückweg einschlagen könne, hatte sie endlich die Treppe hinaufgetrieben – sie wollte ihn im Corridor erwarten; denn sie sagte sich mit Recht, daß sie nicht mehr in seine Nähe gelangen würde, wenn er wieder im Tanzsaale, inmitten seiner Gäste sei.

Der Minister brach bei Erblicken seiner Stieftochter in ein höhnisches sichern aus – es war, als gäbe sie ihm die Besinnung zurück.

„Du kommst ja wie gerufen, Goldkind! … Gehe nur hinein, da hinein!“ rief er und zeigte mit dem Daumen über die Schulter nach dem eben verlassenen Salon zurück. – „Liebchen, Du hast mich gehaßt vom Grunde Deines Herzens, mit der ganzen Kraft Deiner störrischen Seele –ich weiß es, und jetzt, wo unsere Wege sich trennen für immer und ewig, kann ich mir die Genugthuung nicht versagen, Dich wissen zu lassen, daß die Antipathie gegenseitig gewesen ist. … Das erbärmliche, eigensinnige Geschöpf, das mir die Gräfin Völdern hinterlassen, war für mich ein Gegenstand des Abscheues – ich habe stets nur mit innerem Widerstreben den kleinen, kranken Körper berührt, den man ,meine Tochter’ nannte. … So – nun sind wir quitt! Und nun gehe da hinein und sprich: ,Mein lieber Papa hat mich à tout prix in’s Kloster stecken wollen, weil ihm nach meinem Erbe gelüstete!’ Ich sage Dir, das wird einen Knalleffect geben, einen Knalleffect“ – er schnippte wie wahnwitzig mit den Fingern in die Luft „Im Uebrigen waren Deine geistreichen Argumente gegen das Klosterleben völlig überflüssig – wir hätten uns den Streit um des Kaisers Bart ersparen können, Gräfin Sturm – ein Anderer hat die fatale Angelegenheit ungleich gelungener zum Auftrag gebracht! … Ha, ha, ha! Ich hatte mir die letzte gräflich Völdern’sche Physiognomie so allerliebst im Nonnenschleier gedacht! … Armensuppen brauchst Du nun auch nicht zu kochen. Du kannst getrost und ungenirt über die Wiesen laufen, wie Du Dir idyllischer Weise gewünscht, und behältst auch ein ganz respectables Stück Himmel über Dir – aber merke Dir wohl: nur den Greinsfelder Himmel, in Arnsberg schüttle Dir nur den Staub von den Füßen, wie Seine Excellenz der Minister binnen wenigen Augenblicken auch thun wird!“

Er stierte vor sich hin, als steige erst jetzt die ganze entsetzliche Zukunft mit ihrer niederschmetternden Wucht vor ihm auf, während Gisela sprachlos vor Schrecken und Abscheu zurückwich und sich an den nächsten Fenstersims anklammerte.

„Ja, ja, Alles fort, Alles fort!“ stieß er heiser hervor. „Die gräflich Völdern’schen Dorfinsassen und ihre Abgaben, und die Wildbraten in den Wäldern und die Karpfen in den Teichen, Alles, Alles wieder hochfürstlich! … Bei Dir verfängt das freilich nicht – gelt, meine Kleine? Du bist zufrieden, wenn sie Dir Milch und Schwarzbrod lassen. … Aber sie, sie! Da liegt sie drunten, die schöne, erhabene, heilige Großmutter, und hält ein Crucifix, das sie ihr in die weißen Hände gedrückt haben – ha, ha, ha! Der schönen Helena, die schnurstracks nach dem Blocksberg gefahren ist, ein Crucifix! … Wenn sie aufwachen und das elende Papier sehen könnte! Sie würde es mit den Zähnen zerreißen und den Boden zerstampfen mit ihren Füßen – sie würde – wie ich – nur Eines haben für Alle, für Alle: ihren Fluch!“ …

Er lief an dem jungen Mädchen vorüber, nach der Treppe zu und stieß ein gellendes Hohngelächter aus – es hallte schauerlich von den engen Wänden des Corridors wider und mußte wohl auch schreckhaft in den Salon mit den violetten Plüschvorhängen dringen. Die Thür wurde geöffnet und der Fürst sah heraus.

Der Minister war bereits im Treppenhause verschwunden; Gisela aber lehnte mit schlaff niedergesunkenen Händen, die Augen voll Entsetzen nach dem Fliehenden gerichtet, wie erstarrt an der Wand.

Der Fürst schritt geräuschlos auf sie zu und legte seine Hand leicht auf die Schulter der Zusammenfahrenden. Ein furchtbarer Ernst lag auf seinem schmalen Gesicht – es schien binnen einer halben Stünde um fünfzehn Jahre gealtert zu sein.

„Kommen Sie herein, Gräfin Sturm,“ sagte er freundlich, wenn auch jene zärtliche Güte, mit welcher er sie sonst anzureden pflegte, aus Ton und Antlitz verschwunden waren.

[478] Gisela folgte dem Fürsten mit schwankenden Schritten in den Salon.

„Sie wünschten mich unter vier Augen zu sprechen, nicht wahr, Gräfin?“ fragte er, indem er dem Portugiesen einen Wink gab, in das anstoßende Zimmer zu treten.

„Nein, nein!“ rief Gisela in ausbrechender Heftigkeit und streckte dem Hinausgehenden zurückhaltend die Hände nach. „Auch er soll hören, wie schuldig ich bin – er soll sehen, wie ich büße!“

Der Portugiese blieb an der Thür stehen, während das junge Mädchen schweigend die Hand auf das Herz preßte – sie rang sichtlich nach Athem und Fassung.

„Ich habe heute Abend verrathen, daß ich um des Verbrechen meiner Großmutter wußte,“ sagte sie mit erstickter Stimme und niedergeschlagenen Augen. „Ich habe es gewagt, mit dem Bewußtsein der Schuld in Euer Durchlaucht Gesicht zu sehen, und habe den Muth gefunden, mit Ihnen über harmlose Dinge zu plaudern, während ich doch nichts Anderes hätte sagen dürfen, als: ,Sie sind grausam hintergangen worden!' … Ich weiß, daß der Hehler so strafbar ist, wie der Dieb, aber, Durchlaucht,“ rief sie, den in Thränen schwimmenden Blick zu ihm ausschlagend, indem sie bittend die Hände über der Brust faltete, „lassen Sie wenigstens Eines für mich sprechen – ich bin immer ein verlassenes, liebearmes, verwaistes Geschöpf gewesen, das bei allem Reichthum nichts besessen hat, als das Bild, das Andenken der Großmutter!“

„Armes Kind, mit Ihnen gehe ich nicht in’s Gericht,“ sagte der Fürst bewegt. „Aber wer hat es über’s Herz bringen können, Ihre junge Seele durch die Mitwissenschaft zu belasten? Sie können doch unmöglich als Kind –“

„Ich weiß um das Geheimniß erst seit wenigen Stunden,“ unterbrach ihn Gisela. „Der Minister“ – es war unmöglich, dem Verabscheuten noch einmal den Vaternamen zu geben – „hat mir kurz vor Beginn des Festes den Vorfall mitgetheilt. … Warum er mich zur Mitwisserin machte, sah ich nicht ein – jetzt weiß ich den Grund – aber Euer Durchlaucht werden mir erlauben, darüber zu schweigen. … Ich glaubte, den Namen Völdern retten zu müssen, und wenn ich auch den Ausweg, den Baron Fleury mir vorschlug, entschieden zurückwies, so hielt ich doch wenigstens einen Theil seines Gedankens fest: ich wollte mich für meine Lebenszeit nach Greinsfeld zurückziehen, die Einkünfte der erschlichenen Güter jährlich an die Armen des Landes theilen und schließlich das fürstliche Haus zu meinem Erben ernennen.“

Bei den letzten Worten stand sie plötzlich von Purpur übergossen da – ihr Blick hatte zum ersten Mal, seit sie im Zimmer war, den des Portugiesen getroffen, der unverwandt auf ihr ruhte. Sie wurde sich in diesem Augenblick unter Schrecken und Beschämung wieder bewußt, daß der Gedanke, ihm anzugehören, vor kaum einer Stunde alle diese schönen Vorsätze aus ihrer Seele spurlos weggewischt hatte.

Dem Fürsten war ihr tiefes Erröthen entgangen. Er hatte während der Mittheilung der jungen Dame mit auf dem Rücken verschränkten Händen rastlos den Salon durchmessen.

„Baron Fleury wollte Sie zur Nonne machen, nicht wahr, Gräfin?“ fragte er stehenbleibend.

Gisela schwieg verlegen.

„Der grausame Egoist!“ murmelte er zwischen den Zähnen. Er legte die schmale, fieberheiße Hand auf den tiefgesenkten Scheitel des jungen Mädchens.

„Nein, nein – Sie sollen nicht lebendig in Greinsfeld begraben werden,“ sagte er gütig. „Armes, armes Kind, Sie waren in schlimmen Händen! … Nun weiß ich auch, weshalb Sie um jeden Preis krank sein sollten und mußten. Sie sind von lauter verrätherischen Seelen umgeben gewesen – man hat Sie geistig und körperlich zu morden gesucht. … Nun sollen Sie aber wissen, was es heißt, jung und gesund zu sein – Sie sollen die Welt, die schöne Welt kennen lernen!“

Er ergriff ihre Hand und führte sie nach der Thür.

„Für heute kehren Sie nach Ihrem Greinsfeld zurück – denn hier ist Ihres Bleibens nicht –“

Gisela blieb zögernd an der Schwelle stehen.

„Durchlaucht,“ sagte sie rasch entschlossen, „ich bin nicht allein hierhergekommen, um ein Bekenntniß abzulegen –“

[479] „Nun?“

„Das fürstliche Haus hat so schwere Verluste durch den Raub erlitten, es sind ihm so viele Einkünfte verloren gegangen, – ich bin die einzige Erbin der Gräfin Völdern; es ist meine heilige Pflicht, nach Kräften auszulöschen, was sie Schlimmes gethan hat – nehmen Sie Alles, was sie mir hinterlassen –“

„O meine liebe, kleine Gräfin,“ unterbrach sie der Fürst lächelnd, „glauben Die im Ernst, ich könnte Sie brandschatzen und Sie, das arme, schuldlose Geschöpfchen, für das Vergehen Ihrer Großmutter büßen lassen? … Hören Sie, Mein Herr?“ wandte er sich schwer betonend und mit großer Genugthuung an den Portugiesen. „Sie haben mir mittels Ihrer Enthüllungen eine tiefe Wunde geschlagen – Sie haben die Axt an die Wurzeln des Adels gelegt – aber der liebliche Mädchenmund hier versöhnt wieder – er hat den Adel in meinen Augen gerettet!“

„Der Gedanke, den die Gräfin eben ausgesprochen, liegt allerdings nahe“ – entgegnete der Angeredete ruhig – „auch Herr von Eschebach hat ihn gehabt. Er hat als Ersatz für die Revenuen, die durch den von ihm unterstützten Betrug dem Fürstenhause während vieler Jahre entzogen worden sind, Euer Durchlaucht ein Capital von viermalhunderttausend Thalern vermacht.“

Der Fürst fuhr überrascht empor.

„Ah – war er in der That ein solcher Crösus?“ Er durchmaß das Zimmer einige Mal mit raschen Schritten, ohne ein Wort zu sprechen.

„Ich kenne Ihre Lebensgeschichte nicht, mein Herr,“ sagte er, vor dem Portugiesen stehen bleibend. „Aber einige Ihrer Andeutungen, dem Baron Fleury gegenüber, ließen mich an einen erschütternden Vorfall denken – Ihr Bruder ist ertrunken und Sie haben infolge dessen Deutschland verlassen?“

„Ja, Durchlaucht.“ – Wie schmerzlich grollend klangen diese Töne!

„Sie trafen Herrn von Eschebach zufällig auf Ihren Streifereien durch die Welt?“

„Nein. Er war mit meinen Eltern befreundet gewesen; er hat mich und meinen Bruder direct aufgefordert, nach Brasilien zu kommen – ich verließ Deutschland, um seinem Rufe zu folgen.“

„Ah, dann sind Sie gewissermaßen sein Adoptivsohn, sein Erbe?“

„Er hat allerdings geglaubt, er müsse mir für ein wenig Liebe und Pflege, die er von mir empfangen, mit seinen Reichthümern dankbar sein. … Aber mir hat gegraut vor dem Mann und seinen Schätzen, als er mir auf seinem Todtenbette jene Geständnisse machte. Ich kann es ihm noch nicht verzeihen, daß er bis an seinen Tod schweigen konnte, daß er in seinem ehemaligen Vaterlande viel Schlimmes hat geschehen lassen, während es eines Wortes von ihm bedurfte, um den zu stürzen, der es verübte. Er war feig gewesen und hatte den Makel auf seinem Namen gefürchtet. … Ich habe das Erbtheil öffentlichen wohlthätigen Anstalten zugewiesen. … Das Glück hat meine Privatunternehmungen begünstigt – ich stehe auf eigenen Füßen!“

„Kehren Sie nach Brasilien zurück?“ Der Fürst sagte das mit einem eigenthümlich lauernden Blick, indem er dem Portugiesen näher trat.

„Nein – ich wünsche, mich in meiner Heimath nützlich machen zu können. … Durchlaucht, ich gebe, mich der beglückenden Hoffnung hin, daß mit dem Moment, wo jener Elende über die Schwelle dort auf Nimmerwiederkehr geschritten ist, ein neuer Lebensodem durch das Land gehen wird –“

Serenissimus’ Gesicht verfinsterte sich auffallend. Er senkte den Kopf und sah unter dem tief zusammengezogenen Brauen hervor mit erstem scharf messenden Blick zu dem gewaltigen Mann auf.

„Ja, er ist ein Elender, eine durch und durch verdorbene Seele,“ sagte er langsam und jedes Wort markirend. „Aber das müssen Sie mir nicht vergessen, mein Herr – er war ein ausgezeichneter Staatsmann!“

„Wie, Durchlaucht, dieser Mann, der mit eisernem Griff jedwede, auch die harmloseste Bestrebung nach einem höheren Aufflug im Volke niedergehalten hat? … Der Mann, der Während seiner langen. Wirksamkeit nicht einen Finger mochte, der Noth im Lande abzuhelfen? der im Gegentheil der Industrie, den Einzelnbestrebungen tüchtiger Köpfe stets einen Hemmschuh angelegt hat, wo er irgend konnte, aus Besorgniß, das Volk könne mit gefülltem Magen so übermüthig werden, auch einmal einen Blick in die politische Küche des Staatslenkers weisen zu wollen? … Der Mann, der die hierarchischen Gelüste zuletzt auch auf sein Regierungsprogramm geschrieben hat, weil seine Weltweisheit der gewaltigen Strömung gegenüber doch nicht mehr ausreichte? … Er, der nicht einen Funken Religion in der Brust trägt, er hat sie an seinen Herrscherstab geknebelt, – mächtig unterstützt von einer wühlenden, herrschsüchtigen Kaste, die den Vorzug der öffentlichen Rede besitzt, hat er die Hohe, die Milde, die ein Quell des Lichtes, des Trostes, der Erquickung für die Menschenseele sein soll, zur eisernen Jungfrau gemacht, die Jeden, der ihr naht, in ihren Armen unbarmherzig erstickt und erdrückt! … Gehen Euer Durchlaucht durch das Land –“

„Still, still!“ unterbrach ihn der Fürst mit einer abwehrenden Handbewegung – sein Antlitz war kalt und starr geworden, als sei es plötzlich zu Eis gefroren. „Wir leben weder im Orient, noch in jener Märchenzeit, wo die Großveziere durch die Straßen wandelten, um das Urtheil ihres Volkes zu hören…. Es wird jetzt so viel durcheinander gewünscht, phantasirt und gefaselt, daß sich nur über dem Chaos zu halten vermag, wer unbeirrt, fest, unverrückbar auf seinem Standpunkt beharrt. … Ich kenne Ihre schwärmerischen Ansichten bereits – Ihr Etablissement da drüben trägt sie an der Stirn – ich zürne Ihnen darum nicht, aber sie können niemals die meinigen sein. … Sie hassen den Adel – aber ich werde ihn halten und stützen bis zum letzten Athemzug. … Ja, ich würde nicht anstehen, dem Princip die schwersten Opfer zu bringen. … Ich verhehle mir nicht, daß die heutigen Ereignisse, wenn sie ruchbar werden, viel böses Blut machen müssen – und um deswillen berühren sie mich doppelt schmerzlich. … Jenen Ehrlosen muß ich selbstverständlich fallen lassen … wenn man aber seiner Entlassung andere Motive unterlegen, mit einem Wort, wenn man die Sache in ihrer schlimmsten Beleuchtung jetzt noch unterdrücken könnte – ich wäre sehr gern bereit, das Ganze – die Persönlichkeit des Baron Fleury natürlich ausgeschlossen – als nicht geschehen zu betrachten. … Ich ließe Sie, beste Gräfin, am liebsten im Besitz der fraglichen Güter –“

„Durchlaucht!“ rief das junge Mädchen, als traue es seinen Ohren nicht. „O,“ fügte sie mit schmerzlich flickender Stimme hinzu, „das ist eine zu harte Strafe für meine Mitwissenschaft des Verbrechens! … Ich verwahre mich für alle Zeiten gegen die Zurücknahme!“ protestirte sie feierlich.

„Nun, nun, mein Kind – nehmen Sie das nicht zu tragisch!“ rief der Fürst verlegen. „Es war wirklich nicht so ernst gemeint. … Jetzt gehen Sie aber. In der Kürze werde ich nach Greinsfeld kommen und Rücksprache mit Ihnen nehmen – Sie sollen künftig unter dem Schutz der Fürstin an meinem Hofe leben.“

Gisela schrak zusammen, und abermals ergossen sich die Blutwellen über ihr Gesicht. Aber sie hob die Wimpern und sah dem Fürsten mit ihren braunen Augen fest an.

„Euer Durchlaucht überhäufen mich mit Güte,“ versetzte sie. „Ich erkenne diese Auszeichnung doppelt dankbar an, als die Familie Völdern sie wahrlich nicht verdient hat. … Allein ich darf die Ehre, am Hofe zu A. zu leben, nicht annehmen, weil mir bereits mein Lebensweg klar und bestimmt vorgezeichnet ist.“

Der Fürst trat erstaunt zurück. „Und darf man nicht wissen? “ fragte er.

Die junge Dame schüttelte unter einem abermaligen Erglühen heftig den Kopf sie – machte eine unwillkürliche, rasche Bewegung nach der Thür, als wolle sie das Weite suchen.

Serenissimus schwieg und reichte ihr zum Abschied die Hand.

„Aus den Augen verlieren werde ich Sie doch nicht, Gräfin Sturm,“ sagte er nach einer kleinen, verlegenen Pause. „Und wenn Sie einen Wunsch haben, den zu erfüllen mir möglich ist, so vertrauen Sie mir ihn an, nicht wahr?“

Gisela verbeugte sich tief und trat über die Schwelle. Die Thür fiel hinter ihr in’s Schloß – die ehemalige kleine Beherrscherin dieser Räume hatte den Salon mit den violetten Plüschvorhängen und das verführerische, unselige Seezimmer zum letzten Mal gesehen.

Sie eilte wie gejagt durch den Corridor. Unten am Fuß der Treppe stand händeringend Frau von Herbeck.

„Um Gotteswillen, liebe Gräfin, wo stecken Sie?“ rief sie in tiefgeärgertem [480] Ton. „Es ist doch zu rücksichtslos von Ihnen, mich Nachts so mutterseelenallein in dem ungeheuerlichen Saal sitzen zu lassen!“

„Ich war bei Seiner Durchlaucht,“ entgegnete Gisela kurz, indem sie rasch an der kleinen, fetten Frau vorüberschritt und nach dem Saal zurückkehrte. Drin, an dem mächtigen Eichentisch, auf welchem die Lampe brannte, blieb sie stehen. Sie stützte die Hand auf die Tischplatte und stand plötzlich vor der grollenden Gouvernante als die Herrin, die einer Untergebenen eine Eröffnung zu machen hat.

„Ich bitte Sie, Frau von Herbeck, den Wagen zu bestellen und nach Greinsfeld zurückzufahren,“ sagte sie ruhig, aber in gebietendem Ton.

„Nun, und Sie?“ fragte die Gouvernante, die nicht wußte, wie ihr geschah.

„Ich werde Sie nicht begleiten.“

„Wie, Sie bleiben im weißen Schlosse zurück? Ohne mich?“ Sie betonte tiefbeleidigt das letzte Wort in einer aufsteigenden Frage-Scala, die endlos schien.

„Ich bleibe nicht in Arnsberg. … In Zeit von wenigen Stunden haben sich die Verhältnisse in diesem Hause und ihre Beziehungen zu mir so total verändert, daß meines Bleibens hier nicht mehr sein kann.“

„Barmherziger Himmel, was ist denn geschehen?“ rief die kleine, fette Frau zurücktaumelnd.

„Ich kann Ihnen das hier unmöglich auseinandersetzen, Frau von Herbeck – mir brennt der Boden unter den Füßen. … Fahren Sie so bald wie möglich nach Greinsfeld. … Die Erörterungen, die zwischen uns noch stattfinden müssen, werde ich auf schriftlichem Wege abmachen.“

Frau von Herbeck fuhr mit beiden Händen nach ihrem spitzenumhüllten Kopf.

„Herr meines Lebens, bin ich denn wahnsinnig, oder höre ich verkehrt?“ schrie sie auf.

„Sie hören ganz richtig – wir müssen uns trennen.“

„Wie – Sie wollen mich fortschicken? – Sie? … O, da sind denn doch noch ganz andere Leute da, die zu entscheiden, und ein Wörtchen in der Sache zu reden haben, Leute, die es zu würdigen wissen, was ich geleistet. … Gott sei Dank, so bin ich doch nicht in Ihre Hände gegeben und von Ihren Capricen abhängig – in dem Maße steht Ihnen noch lange, lange nicht die Macht zu, mich entlassen zu können. … Ich halte es in der That unter meiner Würde, darüber auch nur noch ein Wort zu verlieren. … Ich werde sofort, wie man sagt, vor die rechte Schmiede gehen und mir bei Seiner Excellenz Satisfaction für Ihr ungebührliches Benehmen ausbitten.“

„Baron Fleury hat keine Gewalt mehr über mich – ich bin frei und kann gehen, wohin ich will,“ sagte Gisela fest und energisch. „Frau von Herbeck, Sie thun wohl, wenn Sie sich nicht auf Ihre Beziehungen zu Seiner Excellenz berufen. … Ich will Sie nicht auf’s Gewissen fragen, weshalb Sie mir so hartnäckig eine längsterloschene Krankheit octroyiren wollten – ich will nicht fragen, weshalb auch Sie Alles aufgeboten haben, mich von dem Verkehr mit der Welt abzuschneiden – Sie waren die intime Freundin eines gewissenlosen Arztes und mit ihm ein nur zu williges Werkzeug meines Stiefvaters!“

Die Gouvernante sank wie zerschmettert in einem Lehnstuhl zusammen.

„Das will ich Ihnen verzeihen,“ fuhr Gisela fort. „Niemals aber kann ich Entschuldigung dafür finden, daß Ihr ganzes Bestreben darauf gerichtet gewesen ist, mich zu einer herzlosen Maschine zu erziehen! … Sie haben mich um Jugendjahre, um gute Thaten, um die erhabensten Lebensfreuden betrogen, indem Sie mein Herz in den Eispanzer der Convenienz, des Geburtshochmuthes schnürten! … Wie durften Sie es wagen, Gott und sein Wort stündlich im Munde zu führen, während Sie einem Ihnen anvertrauten Gottesgeschöpf die edlen Triebe in der Seele zertraten und es so lange hinderten, in Wirklichkeit nach den höchsten Geboten zu leben und zu wirken?“

Sie wandte sich ab und schritt nach der Thür zu. Noch einmal streifte ihr Blick grüßend rings über die dunklen Wände, die sie so sehr geliebt hatte, dann ging sie hinaus in den Corridor.

„Gräfin,“ schrie Frau von Herbeck auf, „wohin gehen Sie?“

Das junge Mädchen winkte Schweigen gebietend und abweisend nach der Gouvernante zurück und stieg die Treppe hinab.

[482]
31.

Das tageshell erleuchtete Vestibüle war leer. Die Dienerschaft war im Tanzsaal beschäftigt, aus welchem die rauschende Ballmusik herniederscholl. … Gisela schlüpfte ungesehen in’s Freie. Die kleinen Kiesel zu ihren Füßen funkelten in dem Lichtstrom, der droben durch die Scheiben quoll und die Fensterkreuze in riesigen Formen über den Kiesplatz warf.

Rasch über den weiten hellen Platz eilend, bog die junge Dame in die nächste Allee ein – aber auch sofort fuhr sie mit einem lauten Aufschrei zurück – eine Gestalt trat hinter dem ersten Baum hervor.

„Ich bin es, Gräfin,“ sagte der Portugiese in tiefen, bebenden Lauten.

Gisela, die angstvoll nach dem Schlosse zu geflohen war, kehrte sofort zurück, während der Portugiese den Schatten der Allee verließ und heraus auf den Kiesplatz trat.

Das blendende Kerzenlicht der Kronleuchter floß hernieder über sein unbedecktes Haupt und ließ jeden Zug des schönen Gesichts scharf hervortreten – auf der Stirne lag der rothe Streifen, die Augen aber brannten in freudiger Ueberraschung und unverhohlener Gluth.

„Ich habe hier gewartet, um Sie in den Wagen steigen zu sehen,“ sagte er – es klang, als werde diese gedämpfte Stimme erstickt durch das stürmische Klopfen des Herzens.

„Das Pfarrhaus ist nicht weit – bis dahin brauche ich keinen Wagen, und einer Bittenden ziemt es auch, zu Fuße zu kommen,“ versetzte das junge Mädchen sanft, fast demüthig. „Ich habe gebrochen mit der Sphäre, in der ich geboren und erzogen bin – ich lasse Alles dort zurück,“ – sie deutete nach dem Schlosse – „was noch vor wenigen Tagen mit dem Namen der Gräfin Sturm identisch war: die gestohlene Erbschaft, den Geburtshochmuth und alle jene sogenannten Vorrechte, welche eine egoistische Kaste an sich gerissen hat. … O mein Herr, ich habe einen schaudernden Blick gethan in jene Sphäre, die sich durch Mauern und Wälle hochmüthig isolirt von der übrigen Menschheit! Ich bin bis dahin der kindischen Meinung gewesen, diese Mauern seien da, um das Reine vom Unreinen, die Tugend vom Verbrechen zu scheiden, und nun sehe ich, daß das Verbrechen draußen unter den Verachteten nicht heimischer sein kann, als hinter diesen Mauern – ich mußte mich noch vor wenigen Augenblicken überzeugen, daß man, statt den Adel doppelt dafür zu strafen, weil er nicht adelig ist, selbst wieder zum Betrug greift, um die Flecken der Ehrlosigkeit vor dem richtenden Auge der Welt zu verdecken. … Ich flüchte zu den Menschen, die wahrhaft Menschen sind – ich suche ein Asyl im Pfarrhause.“

„Darf ich Sie hinüberführen?“ fragte er mit verschleierter Stimme.

Sie streckte ihm ohne Zögern die Rechte entgegen.

„Ja – an Ihrer Hand will ich in das neue Leben eintreten,“ sagte sie mit einem strahlenden Lächeln.

Da stand er, genau wie am Abgrund der Steinbrüche. Er hob die Hand nicht, und der rothe Streifen, der erloschen war, flammte auf’s Neue über die Stirne hin.

„Gräfin, ich erinnere Sie an einen dunklen Moment in Ihrer Kindheit, an jene Mißhandlung, infolge deren Sie krank und elend und um alles Glück der Kinderjahre betrogen wurden,“ sagte er dumpf. „War es nicht dort“ – er zeigte nach einer Stelle des Kiesplatzes, welche von dem aus dem Vestibüle strömenden Lichtquell förmlich überschüttet wurde – „wo der Grausame, der Jähzornige, den armen, kleinen Kindeskörper unbarmherzig schüttelte und von sich stieß?“

Gisela’s bleiche Wangen wurden noch weißer.

„Mein Herr, ich habe Ihnen gesagt, daß diese Erinnerung begraben sei mit –“

„Mit ihm, mit jenem Unglücklichen, der noch in derselben Nacht umgekommen ist, nicht wahr, Gräfin? unterbrach er sie. „Er ist nicht ertrunken – sein Bruder rettete ihn, um unmittelbar darauf selbst in den Wellen unterzugehen!“ – Jetzt hob er langsam seine Rechte. – „Das ist die Hand, die Sie gemißhandelt hat, Gräfin Sturm! Ich bin jener Berthold Ehrhardt, jener muthmaßliche Brandstifter, der vermessene Demokrat, der Seiner Excellenz so schlimme Dinge gesagt' –“

Er hielt inne und stand vor ihr, athemlos, mit gesenkter Stirne, als erwarte er einen Richterspruch, der ihn zu Boden schmettern müsse.

„Mein Herr,“ sagte das junge Mädchen tieferschüttert – nie wohl hatte die süße Stimme so hold tröstend und seelenvoll geklungen – „Sie haben mir neulich selbst gesagt: ,Wer weiß, vielleicht litt seine Seele tausend Schmerzen!’ Und der Fürst machte Ihnen vorhin den Vorwurf, Sie haßten den Adel – Sie haben damals jedenfalls traurigen Grund genug gehabt, eine Vertreterin der verhaßten Kaste – wenn auch wohl in jenem Augenblick die unschuldigste – von sich zu stoßen.“

„Darf ich Ihnen den Grund mittheilen?“ fragte er aufathmend.

Sie neigte bejahend das Haupt, und Beide traten in die dunkle Allee zurück. Und er erzählte ihr mit schmerzlich vibrirender Stimme die Leidensgeschichte seines ertrunkenen Bruders und schilderte den namenlosen Jammer, mit welchem er an der Seite des schmählich Verrathenen durch das Schloß und diese Alleen geschritten. Er zeigte dem lautlos schweigenden Mädchen den hoch in die dunklen Lüfte hineinragenden Felsenvorsprung, auf welchem einst das edelste Herz seinen letzten furchtbaren Kampf durchgerungen … die Nacht war sternenklar geworden – die gewaltigen Umrisse der weißen, nackten Felsenbrust dämmerten durch das Dunkel, und hoch über ihr funkelten die Millionen Silberflitter, mit denen die Nacht ihre Schleppe bestreut. … Und er erzählte weiter, wie er flüchtig geworden, den heißen Rachedurst im Herzen wie er aber auch in rastloser Thätigkeit Schätze um Schätze aufgespeichert habe, um seinem vergötterten Bruder ein würdiges Denkmal setzen zu können – ein Denkmal, bestehend im Ankauf des vernachlässigten Hüttenwerkes und in der Schöpfung der Neuenfelder Colonie, wie sie jetzt bestehe. … Und während er sprach, bald in leidenschaftlich aufbrausenden Tönen, bald mit dem halbverbissenen Ausdruck unsäglicher, jahrelang getragener und verschwiegener Leiden, schmetterten die Jubelaccorde aus dem Ballsaale herüber, und auf der seitwärts sich hinstreckenden, halbbeleuchteten Rasenfläche kreisten und jagten die Schatten der tanzenden Paare. … Drüben aber zwischen den dämmernden Bosquets sprangen die Fontainen, geisterhaft angestrahlt von dem Feenglanz der Säle – und wenn die gellenden Trompeten für einen Moment schwiegen, da flüsterten und murmelten sie in die Erzählung hinein, als wüßten sie noch, wie jener tiefernste Mann mit der vom Tod bezeichneten Stirne zum letzten Mal an ihnen vorübergeschritten.

Und als der tieferregte Mann endlich schwieg, da nahmen zwei weiche, kleine Hände seine herunterhängende Rechte und hielten sie mit schüchternem Drucke fest.

„Gräfin, Sie verabscheuen diese Hand nicht?“

„Nein – wie könnte ich?“ stammelte sie mit halbgebrochener Stimme. „Trösten und beruhigen möchte ich Sie mit aller Ueberzeugungskraft, die einer menschlichen Stimme möglich ist –“

Er hielt ihre Hände fest und zog das Mädchen stürmisch hinaus auf den Rasenplatz – der Kerzenschein fiel hell auf ihr Gesicht und ließ die halbverhaltenen Thränen in den braunen Augen funkeln.

„Erinnern Sie sich der Worte, die Sie mir heute nachgerufen, als ich meinte, für immer von Ihnen zu gehen,“ stieß er in namenloser Aufregung hervor und preßte die schlanken bebenden Hände an seine Brust.

Sie schwieg und strebte mit tiefgesenktem Kopf, ihre Hände frei zu machen – sie wollte offenbar das von flammender Röche übergossene Antlitz hinter ihnen verbergen.

„,Ich will mit Ihnen sterben, wenn es sein muß!’“ – flüsterte er ihr in’s Ohr. – „War es nicht so? … Gisela, dieser Ruf galt dem Portugiesen mit dem hochtönenden Namen – der aber ist versunken für immer in dem Augenblick, wo sich seine Mission erfüllt hat“ – seine Stimme wurde klanglos, denn [483] das Mädchen hatte jetzt, heftig den Kopf schüttelnd, in der That die Hände losgerungen – „vor Ihnen steht der schlichte Deutsche mit dem einfachen Namen, den er nie wieder ablegen wird –“

„Und zu ihm sage ich“ – unterbrach sie ihn mit fester Stimme und hob die Augen voll unsäglicher Liebe zu ihm empor – „nicht sterben will ich, Berthold Ehrhardt; aber leben, leben will ich – für Sie!“

Noch hielt der Mann an sich.

„Wissen Sie auch, was Sie da aussprechen, Gisela? … Nein, Sie können es unmöglich in seinem ganzen Umfang begreifen, denn Sie sind zu unerfahren in Welt und Leben! Ich will es Ihnen sagen. … Sie geben mir mit diesen wenigen Worten das Recht, Sie einst in Wirklichkeit als mein ausschließliches Eigenthum für Zeit und Ewigkeit in mein einsames Haus tragen zu dürfen. … Und ich darf dabei eine meiner Schwächen nicht verhehlen – ich würde Sie unerbittlich festhalten in dieser Einsamkeit, aus Furcht, es könnte ein fremder Blick auf Sie fallen. … Ich weiß es, ich würde ein grausamer Egoist sein, ich würde von Ihnen verlangen, nur für mich zu leben – ich würde nicht eines dieser goldenen Haare von fremder Hand berühren lassen – ich würde jeden Ihrer Pulsschläge mit eifersüchtigem Auge bewachen. … Und für Alles, was Sie zu ertragen hätten, bliebe Ihnen kein anderer Ersatz, als das Bewußtsein, einem einzigen leidenschaftlichen Herzen das Paradies auf Erden zu erschließen, einem Manne –“

„Dem einzigen Manne, den ich liebe,“ fiel sie ihm mit glückseligem Lächeln in’s Wort. „Hörten Sie nicht, wie ich dem Fürsten erklärte, daß mir mein Lebensweg bereits klar und bestimmt vorgezeichnet sei? Es ist der Weg, den ich einzig und allein an Ihrer starken Hand gehen will. … Schließen Sie mich ein in die Einsamkeit – ich weiß nur ein Glück, das ich mir wünsche: Sie zu trösten und durch meine Liebe und Hingebung mit Ihrer traurigen Vergangenheit zu versöhnen. … Nehmen Sie mich hin – ich bin Ihr Eigenthum!“

Und er hatte sie bereits hingenommen. Er hielt sie mit dem rechten Arm umschlungen und drückte mit der zitternden linken Hand ihr Köpfchen an seine breite, gewaltige Brust, in leidenschaftlicher Gluth, aber doch sanft und sacht, wie man ein zartes, zerbrechliches Vögelchen liebkost.

„Ich gehe mit Ihnen, wohin Sie wollen,“ flüsterte sie, während die heißen, zuckenden Lippen, die sie schon einmal auf der Hand gefühlt, die leuchtende Mädchenstirn berührten. „Ich gehe mit Ihnen auch dahin, wo Sie mit dem Tiger kämpfen –“

„Nein, nein!“ ,stammelte er. „Wie möchte ich meine weiße Blume, meine zarte, schlanke Birke, dem kühlen, deutschen Wald entreißen? … Ach, Gisela, Du bist unwiderruflich mein!“ rief er in ausbrechendem Jubel. – „Und nun sollen auch nicht einmal Deine kleinen Füße den Boden mehr berühren, dem ich Dich für immer entführe!“

Er hob sie plötzlich mit gewaltigen Armen empor, drückte sie fest an seine heftig athmende Brust und stürmte mit ihr durch die Alleen zum Schloßthor hinaus, dessen Flügel schmetternd hinter ihnen wieder zusammenfielen.

Bald darauf stand Gisela allein an der Thür des Pfarrhauses, während der Portugiese seitwärts verharrte und das Mädchen mit seinem Auge behütete, bis es Einlaß gefunden.

Es war bereits späte Nachtzeit; aber im Wohnzimmer der Pfarre brannte noch Licht. Gisela klopfte, und fast unmittelbar darauf wurde die Hausthür geöffnet. Die junge Dame winkte noch einmal mit der Hand in das Dunkel zurück, dann trat sie in hie Hausflur und stand vor der Pfarrerin, die, eine Lampe in der Hand, wie versteinert in das Gesicht des späten Gastes blickte.

„Frau Pfarrerin,“ sagte die junge Gräfin sanft bittend, und ergriff die Hand der Frau, „Sie haben auf der Waldwiese von der Liebe gesprochen, die das Christenthum zu allererst predige – an diese Liebe wende ich mich und bitte Sie inständigst um ein Asyl in Ihrem Hause.“

Die Pfarrerin setzte die Lampe rasch auf einen niedrigen Schrank, der in der Hausflur stand, nahm beide Hände des jungen Mädchens zwischen die ihrigen und sah ihr mit ihrem scharfen, klugen Blick tief in die Augen.

„Das soll Ihnen werden, liebe Gräfin,“ sagte sie ernst und kräftig betheuernd. „Sie sollen in meinem Haus und in meinem Herzen einen Platz finden wie mein eigen Kind. … Aber was muß geschehen sein, daß –“

„Es ist schweres Unrecht geschehen, Frau Pfarrerin,“ unterbrach sie Gisela. „Lang verschwiegene Sünden und Verbrechen sind an das Tageslicht gekommen … ich weiß jetzt, daß ich während meines ganzen jungen Lebens mit beiden Füßen auf einem Abgrund voll Verderbniß und heimtückischer Anschläge gestanden habe. … Ich will reine Luft athmen, ich will das Schlimme, das mir noch anhaftet aus meinem bisherigen Leben, hier abstreifen – Sie haben ein großes Herz voll warmer, mütterlicher Liebe und einen starken, furchtlosen Geist – ich weiß es und habe Sie lieb gehabt, seit ich Sie so muthig vor dem Minister stehen sah. … Sie sollen mich belehren und leiten und vorbereiten zu einem hohen, heiligen Beruf. … Muß ich Ihnen erst alle die schauerlichen Entdeckungen mittheilen, um deren willen ich das weiße Schloß verlassen habe, um es nie wieder zu betreten?“

„Ach was, liebe Gräfin, das brauche ich nicht zu wissen, müßte auch lügen, wenn ich sagen wollte, ich guckte gern hinter die Ränke und Schwänke der hohen Herren – man kömmt selten mit heiler Haut und Seele wieder davon. … Mir genügt, daß Sie Schutz in meinem Hause suchen. … Armes Kindchen, es muß schon hageldick gekommen sein, um solch’ ein unschuldiges Gemüth aus seiner Harmlosigkeit aufzurütteln! …Und nun kommen Sie“ – sie schlang ihren Arm um Gisela’s Schultern, während der Humor aus ihren klaren, blauen Augen sprühte – „freilich habe ich ein großes mütterliches Herz; stecken doch acht liebe Blondköpfe drin, und wo die hausen, da findet sich auch ein trauliches Plätzchen für Sie. … Macht die Thür weit auf, ihr Mädchen!“ rief sie mit strahlendem Gesicht nach der Wohnstube hinüber, wo die Thür ein wenig klaffte und hie und da ein neugierig herauslauschendes Näschen und ein blonder Scheitel sichtbar wurden. – „Es ist so Etwas wie das Christkindchen über Nacht in unser Haus gekommen … ihr habt es immer schon von ferne gern gehabt, nun dürft ihr’s euch auch in der Nähe besehen!“

Die Thür wurde weit zurückgeschlagen – an der Schwelle standen schüchtern und verschämt drei Mädchengestalten – aus den „kleinen wilden Panduren“ waren schöne, kräftige Blondinen geworden.

„Das ist meine Aelteste,“ sagte die Pfarrerin nicht ohne mütterlichen Stolz und deutete auf die mittlere der drei Gestalten, ein hochgewachsenes Mädchen mit ernsten, nachdenklichen Zügen. „Dem Vater seine kleine Gelehrte, sein Famulus bei seinen astronomischen Studien – sie hat viel lernen müssen, weit mehr als diese zwei wilden Hummeln da, und hat auch einen hohen, heiligen Beruf vor sich – sie wird Vorsteherin und Pflegerin im Neuenfelder Erziehungshause – gelt, meine Alte?“ Sie strich über das dicke, schlicht zurückgeschlagene Haar der Tochter, und diese ergriff die liebkosende mütterliche Hand und küßte sie.

„Und das sind unsere zwei Hauskobolde,“ fuhr die Pfarrerin fort, die beiden Mädchen vorstellend, die zu Seiten der älteren Schwester standen, wie die strotzenden Knospen um die voll aufblühende Rose. „Sie haben nichts als Schnurren und Schnaken im Kopf, finden des Lachens und Kicherns kein Ende, und wenn ich’s litte, da spielten sie am liebsten noch mit der Puppe.“

Die Mädchen lachten lustig auf, während aus den Augen der Pfarrerin die Mutterlust strahlte.

„Wollt Ihr meine Schwestern sein?“ fragte Gisela und bot ihnen die Hand.

Ein schüchternes „Ja“ kam von allen Lippen, aber der Händedruck wurde herzlich erwidert.

„Und nun hurtig, hurtig, macht das Eckstübchen zurecht!“ gebot die Mutter.

Die Mädchen ergriffen einen Schlüsselbund und flogen zur Thür hinaus.

„Sie sind heute außer Rand und Band,“ lachte die Pfarrerin. „Da sehen Sie – morgen giebt es eine Ueberraschung; mein Mann feiert seinen zweiundfünfzigsten Geburtstag; deshalb sind wir, ganz gegen die strenge Hausordnung, auch noch nicht zu Bett.“

Nahe an einem der Fenster stand ein weißgedeckter Tisch; er war mit Guirlanden besteckt; auf seiner Platte lag inmitten verschiedener [484] gestickter und gehäkelter Kleinigkeiten ein sehr werthvolles astronomisches Werk.

„Das haben meine Mädchen mit Handarbeiten verdient,“ sagte die Pfarrerin, auf die Bücher zeigend. „Und die hat unser Wildfang, das Röschen, mit seinen kleinen widerspenstigen Fingern gestrickt,“ fügte sie laut auflachend hinzu und ließ ein Paar großer derber Strümpfe in der Luft baumeln. „Das hat manche heiße Stunde gekostet; aber nun ist sie glückselig, und selbst in ihr Gebet heute Abend schlichen sich die glücklich fertig gebrachten ,himmellangen’ Strümpfe ein.“

Sie öffnete geräuschlos eine Thür und ließ das Lampenlicht in den dunklen Raum fallen.

„Da liegt mein Nesthäkchen,“ flüsterte sie – wie bebte und schmolz diese kräftige Stimme in weicher Zärtlichkeit! – „Was nur das kleine Ding morgen sagen wird, wenn sie ihre liebe Gräfin im Pfarrhause sieht!“ meinte sie leise in sich hineinlachend.

Das blonde Köpfchen des Kindes ruhte im süßen, tiefen Schlaf auf dem Kissen, und die langen Zöpfe fielen über den Bettrand hinab.

Eine himmlische Ruhe überkam das junge Mädchen in diesem Hause. … Eben noch mit Grausen in den plötzlich geöffneten Abgrund der Verworfenheit blickend, über den sie blinden Auges so lange hingewandelt war, erschien ihr diese Häuslichkeit wie ein Tempel, ruhend, auf den Säulen wahrer Tugend und durchweht von echt gottseligem Frieden.

Und die stattliche, kräftige Frau, die da neben ihr stand, dieses Bild der Standhaftigkeit und unerschrockenen Gesinnungstreue, mit wie viel feinem Tact versuchte sie die sichtbare Aufregung der Geflüchteten zu dämpfen, sie abzuziehen von den Ereignissen, die sie fortgetrieben aus dem sogenannten Vaterhause, indem sie sie in die harmlosen Freuden ihrer Häuslichkeit ohne Weiteres einführte! … Es fiel ihr nicht ein, sich zu fragen: was werden die „hohen Herren“ dazu meinen, daß du Eine ihres Gleichen in ihrer Abtrünnigkeit bestärkst? Wird dir der Schutz, den du ihr gewährst, nicht theuer zu stehen kommen? Sie wollte im Augenblick nicht einmal wissen, zu welch’ hohem und heiligem Beruf sie die junge Gräfin vorbereiten solle – das mußte sich ja Alles finden! Sie forschte nicht, sie fragte nicht, sie wollte nur Eins für’s Erste: beruhigen und das in sie gesetzte Vertrauen rechtfertigen.

Welches Gottvertrauen aber, welche moralische Stärke mußte der ganzen Familie innewohnen! … Binnen Kurzem sollte sie aus diesem Hause vertrieben werden – es war ein tiefschmerzliches Ereigniß, das sie betroffen, und doch hatte es das glückliche Zusammenleben nicht zu stören, die harmlosen Familienfreuden nicht zu verscheuchen vermocht.

Nach zwölf Jahren zum ersten Mal wieder stieg Gisela an der Hand der Pfarrerin die Treppe hinauf, welche die stolze Jutta von Zweiflingen an jenem verhängnißvollen Weihnachtsabend auf Nimmerwiederkehr hinabgeschritten war. … Das junge Mädchen hatte noch eine dunkle Erinnerung von jenem Vorfall; sie erkannte auch den großen Vorsaal wieder, der damals so naß gewesen war, und wo ihr die großen, harten Sandbrocken um die ängstlich ausweichenden, feinbeschuhten Füßchen gekollert waren.

Und da that sich das Eckstübchen mit seinen zwei Fenstern und dem lustig trommelnden Windöfchen vor ihr auf! – Das Eckstübchen, das Frau von Herbeck einen unwürdigen Kerker für „die herrliche Jutta“ genannt, und in welchem die stolze Zweiflingen den ersten Träumen des Verrathes und der Treulosigkeit sich hingegeben hatte …

Die prachtvollen Palissander-Möbel mit dem aprikosenfarbenen Seidendamastbezug standen freilich nicht mehr an den Wänden, und das Mädchenportrait im weißen Atlasgewande mit dem Granatblüthenstrauß im Haar hing jetzt im Ministerhôtel zu A. und beschloß neben dem Bild des letzten, schönen, unglücklichen Zweiflingen die lange, stolze Ahnenreihe der schönen Excellenz.

Dafür sahen nun die kräftigen Züge Luther’s von der helltapezirten Wand des Stübchens nieder, und wenn auch nur wenige altmodische Möbel umherstanden, so waren sie doch sauber und einladend. Auf Tisch und Commode lagen Servietten und bunte Decken, und das Bett in der Ecke, so ein echtes, hochaufschwellendes thüringer Pfarrhaus-Bett, leuchtete in blendender Frische.

Gisela trat an eines der Eckfenster und öffnete es, während die Pfarrerin noch einmal hinausging. … Die wonnig-laue Nachtluft zog herein und flüsterte in dem Laub des Birnbaumes, der mit seinem längsten Ast an die Scheiben klopfte.

Mit dem Nachtwind flogen einzelne verlorene Trompetenstöße herüber – dort drüben tanzten sie noch und wußten nicht, daß unter ihren Füßen ein Pulverfaß lag, daß mit jeder Secunde der Funke näher heranflog, der jählings die ganze stolze und jubelnde Herrlichkeit zerstörend in die Lüfte schleudern würde.

Das junge Mädchen bog sich weit hinaus und sah nach der dunklen, bergaufsteigenden Masse, deren gewaltige, kühngeschwungene Contouren sich dämmernd vom strahlenden Nachthimmel abhoben – es war das Stück Bergwald, welches das altersgraue, grünumsponnene Waldhaus in sich einschloß.

Der majestätische Mann, an dessen Herzen sie geruht, hatte ihr beim Scheiden zugeflüstert, er werde sein Haus heute Nacht nicht mehr betreten – es sei zu eng für sein Glück. Er wolle auf der Wiese vor dem Waldhause auf- und abwandeln, und die Fontaine solle ihm vorplaudern von dem Mädchen im blauen Gewande, mit dem blonden Haar, das vor noch ganz kurzer Zeit als unnahbare Gräfin Sturm neben ihr gestanden und die weißen Hände in ihren silbernen Sprühregen gehalten habe. … Er wolle dort geflissentlich noch einmal alle Schmerzen der Entsagung, die er durchlitten, an sich vorüberziehen lassen, um dann der Morgensonne doppelt entgegenzujubeln, die ihm die Stunde bringe, in welcher er sein Glück wieder in die Arme nehmen dürfe. …

Die Pfarrerin trat wieder ein und brachte ein Glas Wasser, das sie mit Himbeersaft gemischt hatte.

„Ach was – jetzt sehen wir nicht mehr nach dem weißen Schlosse hinüber!“ schalt sie und schloß ohne Weiteres das Fenster. „Jetzt muß das Kindchen schlafen, vorher aber diesen guten, frischen Himbeersaft trinken – der verscheucht alle bösen Träume, und morgen – morgen ist Alles wieder gut!“

Diese einfachen Worte, die nur eine Mutterstimme so süß beschwichtigend aussprechen kann, fielen wie erlösend auf das heiß klopfende Herz des jungen Mädchens. Sie warf sich ungestüm an die Brust der großen, starken Frau, schlang die Arme um ihren Hals und brach in einen Thränenstrom aus.

„Nun, nun, Herzchen,“ beruhigte die Pfarrerin. „Freilich, schaden kann’s nicht – weinen Sie sich nur recht von Herzen aus, das wäscht alle schlimmen Eindrücke weg. … Aber dann sind Sie mir guten Muthes – das bitte ich mir aus! … Sie sind ja bei Pfarrers, und da darf Ihnen kein Härchen gekrümmt werden, und wenn zehn Excellenzen kommen und drohen sollten.“

Die gute, prächtige Frau! … Sie hatte einen klaren, durchdringenden Verstand und ein scharfes, kluges Auge; aber das erkannte sie doch nicht, daß die Thränen des tieferregten Mädchens – die ersten Wonnethränen der jungen Braut waren …

[497]
32.

Während die junge Reichsgräfin Sturm das weiße Schloß und den aristokratischen Boden für immer verließ, ging der Minister in seinem Arbeitscabinet auf und ab – es sah aus, als zermartere der Mann sein Gehirn nach einem einzigen klaren Gedanken. Das Haar, das sonst einen glatten Bogen über der Stirn beschrieb, fiel wirr durcheinander – die Hand fuhr dann und wann, ganz gegen die Gewohnheit des eine tadellose Außenseite streng festhaltenden Diplomaten, in grimmiger Hast durch die parfümirten, graugesprenkelten Strähne.

Endlich warf er sich erschöpft an den Schreibtisch und begann zu schreiben. Die schöne, junge Braut mit den großen Taubenaugen und den Feldblumen in den Händen lächelte fort und fort von der Wand hernieder auf den Mann, dem allmählich leichte Schweißperlen auf die wachsbleiche Stirne traten, während die Zähne wie im Fieber hörbar zusammenschlugen, und die Hand, die sonst einem eisernen Willen auch in eisern starren, festen Linien gehorchte, krause, unsichere Hieroglyphen auf das Papier warf.

Schon nach wenigem Zeilen schleuderte er die Feder weit von sich, nahm den Kopf zwischen die Hände und rannte abermals in unbeschreiblicher Aufregung hin und wider. … War es doch, als scheue er sich vor dem zierlichen Tisch dort neben dem Fenster, der einen kleinen Mahagonikasten auf seiner runden Platte trug. Das Tischchen stand immer auf derselben Stelle, seit Baron Fleury das weiße Schloß sein eigen nannte und nach seinem Geschmack eingerichtet hatte, und der Mahagonikasten war der unzertrennliche Reisebegleiter Seiner Excellenz und befand sich auch im Bureau des Ministerhôtels zu A. stets in seiner Nähe. Während aber jetzt sein Fuß dem unscheinbaren Möbel sichtlich auswich, glitten die scheuen Augen immer wieder hinüber, als zucke aus dem kleinen Kasten ein magnetisch bezaubernder Schlangenblick. …

Und mit jeder vorüberrollenden Viertelstunde, welche die Pendule mit feinem, silbernem Klange unerbittlich pünktlich anzeigte, verdoppelten sich die Schritte des Auf- und Abwandernden, bis er plötzlich, wie mittels eines gewaltsamen Ruckes halb athemlos vor dem Tischchen stehen blieb und mit hastigen, unsicher tappenden Händen den Kasten aufschloß. … Er sah nicht hinein in das kleine, elegant ausgestattete Viereck – seine Augen irrten über den türkischen Fenstervorhang, wie wenn sie die orangegelben Arabesken zählen müßten, während seine Rechte einen Gegenstand ergriff und in die Brusttasche gleiten ließ.

Diese einzige Bewegung gab plötzlich, der haltlos zusammengebrochenen Erscheinung des Mannes einen Anschein von Entschlossenheit zurück. … Er schritt nach der Thür. Auf der Schwelle wandte er sich noch einmal um – durch die klaffende Thür und das schräg gegenüberliegende, geöffnete Fenster fuhr der Nachtwind und jagte die Flamme aus der auf dem Schreibtisch stehenden Kugellampe – sie züngelte nahe am Vorhang hin.

Der Minister stieß ein heiseres, hämisches Lachen aus; er verfolgte einen Augenblick die Flammenzunge, wie sie sich reckte und streckte und, um wenige Linien zu kurz, vergeblich an dem Stoff zu lecken versuchte – unwillkürlich streckte er die Hand aus, als müsse er ihr zu Hülfe kommen – bah, wozu? Das Schloß war zu einer enorm hohen Summe versichert, und die drunten tanzten, waren längst entflohen, bis die Flammen an den Plafondbalken fraßen und die Kronleuchter hinunterschleuderten! …

Er schloß die Thür leise und glitt auf den Zehen durch mehrere anstoßende Zimmer. Vor dem Boudoir seiner Gemahlin blieb er stehen und drückte das Ohr an die Thürspalte – leise Klagelaute drangen heraus. … Jetzt kam die namenlose Verzweiflung, die er bisher noch niedergedrückt und verbissen, zum Ausbruch und packte und schüttelte den lauschenden Mann. – Die Frau, die da drin so schmerzlich weinte, war sein Abgott, das einzige Wesen, welches er je geliebt und das ihn, den alternden Mann, noch jetzt mit ungeminderter, glühender Leidenschaft erfüllte.

Bis zur Unkenntlichkeit entstellt in seiner Erscheinung, drückte er geräuschlos die Thür auf und blieb auf der Schwelle stehen.

Da lag die schöne Titania auf ein Ruhebett hingestreckt. Sie hatte das Gesicht tief in die Kissen eingewühlt; über Busen und Rücken wogte das entfesselte, wundervolle nachtschwarze Haar, und die weißen, bis an die Schultern entblößten Arme hingen wie leblos über die atlasgepolsterte Lehne des Ruhebettes hinab – nur die kleinen Füße hatten offenbar nichts von ihrer Energie eingebüßt; sie standen auf dem zu Boden geschleuderten brillantenen Fuchsienkranz und schienen ihn in Atome zertreten zu wollen.

„Jutta!“ rief der Minister.

Bei diesen markerschütternden Lauten fuhr sie empor wie von der Tarantel gestochen. Mit einer wilden Geberde schüttelte sie das niederfluthende Haar aus dem Gesicht und stand plötzlich auf ihren Füßen – das Bild einer entfesselten Furie.

„Was willst Du bei mir?“ schrie sie auf. „Ich kenne Dich nicht! Ich habe nichts mit Dir zu schaffen!“ Sie deutete nach der Richtung des Salons, wo sie den Fürsten wußte, und stieß ein grauenhaftes Gelächter aus. „Ja, ja, die Wände haben Ohren gehabt, mein Herr Diplomat par excellence, und ich genieße das Vorrecht, das große Staatsgeheimniß um einige Stunden [498] früher zu wissen, als das staunende Publicum! … Die Hölle kann ihre Qualen nicht raffinirter ersinnen, als ich sie dort drüben, hinter der Thür durchlitten habe!“ Ihre Mundwinkel bogen sich in vernichtendem Hohn niederwärts. „Excellenz, es war mir sehr überraschend, zu hören, daß Sie das Fürstenhaus so reizend mystificirt haben! … Und da liegt die Herrlichkeit“ – sie stieß mit dem Fuß verächtlich nach dem Fuchsienkranz – „mit der Sie ,Ihren Abgott’ zu schmücken beliebten! … Wie sie wohl alle jubeln und triumphiren werden, die boshaften Neider, bei der unschätzbaren Entdeckung, daß sich die Diamantenfee in lächerlicher Unwissenheit mit Rheinkieseln und böhmischem Glas bestreut hat!“

Die kleinen Hände der halb wahnwitzigen Frau wühlten in den Haarmassen, die von den Schläfen niedersanken.

Der Minister ging wankenden Schrittes auf sie zu – sie floh und stieß mit den Händen nach ihm.

„Du wirst Dich nicht unterstehen, mich zu berühren!“ drohte sie. Du hast keine Rechte mehr an mich! … O, wer mir die verlorenen elf Jahre zurückgäbe! … Ich habe meine Jugend, meine Schönheit an einen Dieb, an einen Fälscher – an einen Bettler verschleudert!“ –

„Jutta!“

In diesem Augenblick fand der Mann seine Haltung wieder.

Es war noch einmal die überlegene Ruhe des allmächtigen Ministers, mit der er Schweigen gebietend der Frau die Rechte entgegenstreckte.

„Du bist wieder einmal sinnlos vor Leidenschaft,“ sagte er streng. „Ich habe Dich in solchen Momenten stets wie ein verzogenes, unartiges Kind behandelt, dem man Muße läßt, sich auszuschreien. Dazu bleibt mir jetzt keine Zeit.“ – Er verschränkte mit scheinbarer Gelassenheit die Arme über der Brust. „Wohl, Du hast Recht“ – fuhr er fort – „ich habe gefälscht und betrogen – ich bin ein Bettler – es bleibt uns nicht einmal das Kopfkissen, um das Haupt darauf zu legen, wenn sie Alle kommen werden, die verbriefte Rechte an mich haben. … Nie hast Du einen Vorwurf, ein Bedenken von mir gehört; aber wenn Du diese Stunde lediglich dazu benutzest, mich zu schmähen, dann muß ich Dir auch sagen, für wen ich mich ruinirt habe. … Jutta, denke zurück und überzeuge Dich, daß Du mit jedem Jahr unserer Ehe mehr Deine Ansprüche bis in’s Maßlose gesteigert hast – selbst die Fürstin konnte zuletzt mit Deinem glanzvollen Auftreten nicht mehr Schritt halten. … Ich habe ohne Widerrede stets herbeigeschafft, was Du begehrtest – ich habe Deine Hände buchstäblich im Golde wühlen lassen. Meine unselige blinde Liebe zu Dir hat mich zum gefügigen Werkzeug Deiner schrankenlosen Verschwendungssucht gemacht. … Es klingt geradezu kindisch und lächerlich, wenn Du die elf Jahre unserer Ehe als verloren beklagst – sie haben Dir Gelegenheit gegeben, das Leben mit seinen Genüssen bis auf die Neige auszukosten; und daß Du das gründlich verstanden, kann ich Dir mit meinem Soll und Haben erschöpfend beweisen.“

Die Baronin hatte bis dahin mit abgewendetem Gesicht in einer fernen Fensternische gestanden – jetzt fuhr sie herum; die dämonisch schönen Augen funkelten in tiefster Gereiztheit und Rachsucht.

„Ach, Du kannst es ja ganz vortrefflich, das alte Lied, das auch die zuvorkommende Welt stets anstimmt, wenn ein Haus zusammenbricht: ,Die Frau ist schuld!’“ lachte sie auf. „Schade, mein Freund, daß ich so oft zugegen war, wenn Du in Baden-Baden, oder in Homburg, oder wie sie alle heißen mögen die verführerischen grünen Tische, Unglück zum Verzweifeln hattest! … Ich habe mich bei dergleichen Gelegenheiten stets mit Befriedigung überzeugt, daß auch Deine Hände vortrefflich im Golde zu wühlen verstanden – oder willst Du etwa leugnen, daß Du zu allen Zeiten ein notorischer Spieler gewesen bist?“

„Es fällt mir nicht ein, zu leugnen, oder auch nur noch eine Sylbe zu meiner Verteidigung zu verlieren. … Wer, wie ich, im Begriffe ist, einen dunklen Weg anzutreten –“

„Ja wohl, dunkel, dunkel!“ unterbrach sie ihn und trat um einen Schritt näher an ihn heran. „Mit der Excellenz ist’s freilich aus und vorbei,“ zischte sie. „Baron Fleury steigt herab von seiner Höhe und betritt den einzigen Weg, der ihm übrig bleibt, die Laufbahn des – Croupiers! –“

„Jutta!“ stieß er hervor. Er ergriff die weißen Arme, welche die Wonne seiner Augen gewesen waren, und schüttelte sie ingrimmig.

Sie riß sich los und flüchtete nach einer Thür, aber ihre zurückgewendeten Augen hingen mit unverhohlenem Abscheu an den Händen, die sie zum ersten Mal schonungslos gepackt hatten.

„Du sollst mir nicht mehr nahe kommen – nur graut vor Dir!“ rief sie hinüber. „Du fängst es schlau an – indem Du mir die Schuld aufbürdest, willst Du mich zwingen, in Gemeinschaft mit Dir ihre Folgen zu tragen! … Aber täusche Dich nicht! Ich werde Dir niemals in die Schande, die Dunkelheit und den Mangel folgen! … Ich habe Dir gegenüber keine Pflichten mehr – sie sind erloschen in dem Augenblick, wo Du als ehrlos entlarvt wurdest. … Wenn Etwas in diesen furchtbaren Stunden mich mit Genugthuung erfüllt, so ist es das Bewußtsein, daß ich Dir geistig niemals verwandt gewesen bin – ich habe Dich nie geliebt!“ …

Das war der letzte Schlag für den von der Sonnenhöhe einer beneideten Lebensstellung, eines angemaßten Glückes in den tiefsten Abgrund hinabstürzenden Mann – es konnte keiner mehr kommen; aber auch keiner konnte sich in der Wirkung mit den letzten wenigen Worten messen, die der rothe Frauenmund so unbarmherzig hinwarf.

Der Minister taumelte nach der Thür zu, als wolle er das Zimmer verlassen, allein die Füße schienen ihm treulos zu werden – er lehnte sich mit bedecktem Gesicht an die Wand.

„Du hast mich, trotz aller Deiner Schwüre und Betheurungen, nie geliebt, Jutta?“ fragte er nach einem minutenlangen tödtlichen Schweigen in das Zimmer zurück.

Die Frau schüttelte mit einer Art von wildem Triumph, energisch den Kopf.

Er stieß ein bitteres Hohnlachen aus.

„O Weiberlogik! … Diese Frau setzt sich hoch auf den Richterstuhl strenger Tugend – sie stößt den Betrüger erbarmungslos von sich und gesteht dabei mit liebenswürdiger Naivetät ein, daß sie ihren Mann auf die empörendste Weise elf Jahre lang betrogen und – am Narrenseil herumgeführt hat! … Geh’, geh’! Auch Du wirst noch Carriere machen – noch liegen einige gerettete Jahre der Jugend und Schönheit vor Dir; aber das Ende dieser Carriere – nun, ich will discreter sein, als Du, und diesen Wänden nicht erzählen, wie die Carriere der Frau Baronin Fleury, Excellenz, schließlich verlaufen wird!“

Er ging zur Thür hinaus; aber beim Schließen derselben warf er noch einen Blick in das eben verlassene Zimmer. Die Frau hatte sich wieder auf das Ruhebett geworfen – sie sah geknickt, innerlich zerbrochen aus; nie war sie hinreißender gewesen, als in diesem Augenblick. … Das glühende Gefühl für das schöne Weib überwog alle anderen Leidenschaften, die im Inneren dieses gefährlichen Mannes wühlten – er vergaß, daß in den wunderbaren Körperformen dort eine erbärmliche Seele wohnte, er vergaß, daß dieses begehrliche, unersättliche Herz nie für ihn geschlagen – er kehrte stürmisch in das Zimmer zurück.

„Jutta, gieb mir Deine Hand und sieh mich noch einmal an!“ sagte er mit brechender Stimme.

Sie verschränkte die Arme fest unter dem Busen Und drückte sie und das Gesicht tief in die Polster.

„Jutta, sieh auf – wir gehen für immer auseinander!“

Die Gestalt regte sich nicht – kaum, daß man das Heben und Sinken der athmenden Brust sah.

Er biß in wildem Schmerz die Zähne zusammen und verließ das Zimmer. Wie vorher auch, glitt er geräuschlos durch den Corridor, dann stieg er die Treppe hinab. Stimmen, die zu ihm heraufdrangen, hemmten seine Schritte; er bog sich über das Treppengeländer und sah drunten auf einem Treppenabsatz drei Herren, die glücklichen Besitzer des Kammerherrenschlüssels, stehen. Sie hatten verstörte Gesichter und sprachen in gedämpftem Ton – trotzdem konnte der Minister jedes Wort verstehen.

„Also, meine Herren,“ sagte einer dieser würdigen Cavaliere, indem er den weißen, knappen Handschuh über die fette Hand zog und sorgsam zuknöpfte – „ich werde jetzt, dem Befehl unseres Allerhöchsten zufolge, in den Saal zurückkehren und mit möglichst unverfänglicher Miene die Honneurs machen – ein blutsaures Geschäft, wenn man einen ganzen Sack voll schlimmer Neuigkeiten bei sich hat! … An und für sich ist es eine Lächerlichkeit, daß der Fürst für heute noch um jeden Preis den Scandal vertuschen will. – morgen läuft er doch von Mund zu Mund. – Herr [499] Gott, den Aufruhr in unserer guten Residenz will ich sehen – das giebt einen Eclat! … Meine Herren, was habe ich Ihnen immer gesagt? Habe ich Recht gehabt, oder nicht? Er war ein Hallunke durch und durch, und so schmerzlich ich auch Serenissimus bedaure, es kann ihm doch ganz und gar nicht schaden, zu erkennen, welch’ sauberem Patron der alte, angestammte Adel sich so lange hat unterordnen müssen.“

Die Herren nickten bekräftigend und verschwanden nach verschiedenen Richtungen.

„O mein Herr von Bothe, Sie wären sammt Ihrem alten, angestammten Adel verhungert, wenn ich nicht war!“ murmelte der Minister grimmig zwischen den Zähnen, während er weiter hinabstieg. „Bah, wir sind quitt – Sie waren das unverdrossenste, bereitwilligste Werkzeug, das mir je zu Gebote gestanden!“

Er durchschritt einen laugen, einsamen Gang und trat hinaus in den Hofraum. Da lief die Stallbedienung eilig durcheinander; man zog Pferde aus den Ställen und rollte den Wagen des Fürsten aus der Remise.

„Du, ich glaub’s nicht mit dem reitenden Boten,“ sagte einer der Männer zu einem anderen in dem Augenblick, wo der Minister ungesehen an ihnen vorüberschlüpfte. „Ich bin doch nicht blind und nicht taub, und so ein reitender Bote kann doch auch nicht durch die Luft fliegen.“

„Blind und taub bist Du freilich nicht; aber geschlafen hast Du wie eine Ratze. Ich sage Dir, der Bote aus A. ist dagewesen – der gnädige Herr von Bothe hat mir’s selbst vorhin gesagt – der Fürst soll gleich zur Fürstin kommen – es wär’ was passirt.“

Der Minister schritt mit rückwärts gekreuzten Händen durch die Alleen des Schloßgartens. … Das gellte und jubelte und schmetterte aus dem Saal hernieder, und die Kerzen flammten, die man noch angezündet hatte auf den Wink des Mannes, welcher jetzt als Bettler heimathlos drunten umherirrte.

Und nun rollte der fürstliche Wagen vor das Vestibüle. Mit möglichster Vermeidung alles Geräusches und Aufsehens erschien die schmächtige Gestalt des Fürsten, umgeben von den flüsternden Herren seines Gefolges, in der Halle.

Bei diesem Anblick ballte der tiefgefallene Mann in der dunklen Allee die Fäuste und schlug sie wild und wiederholt gegen die Brust.

Der Wagen rollte davon, und die Musik droben machte auch eine Pause – es wurde für einen Moment todtenstill im ganzen, weiten Garten. Noch einmal scholl das donnernde Gepolter der fürstlichen Equipage hinüber – sie fuhr über die Brücke – das war das Ende der „eklatanten Genugthuung“, die Serenissimus seinem Günstling „den Schreiern“ gegenüber geben wollte. …

Seltsam – hatte der gewandte, elegante Cavalier seine schwierige Mission doch nicht mit der gewohnten Meisterschaft durchgeführt, oder war die tanzende Menge da droben bereits zu aufgeklärt, um sich eine „Hoflüge“ aufbinden zu lassen? … Wagen auf Wagen fuhr vor, und die geschmückten Gestalten schlüpften scheu und eilig hinein, als gelte es Flucht, schnelle Flucht. …

Die Klänge des Orchesters erbrausten abermals – sie hallten fast schauerlich von den Wänden des geleerten, mächtigen Saales wider, und die wenigen tanzenden Paare flogen an den Fenstern hin, wie die letzten verlorenen Seelen eines bacchantischen Festes, die sich an der überschäumenden Lust nicht satt trinken können.

Der Minister schritt weiter und weiter – sein Fuß verirrte sich immer tiefer in die abgelegenen Boskets des Schloßgartens, die in künstlich erhaltener Wildniß die tiefste Ruhe athmeten – kaum, daß ein aufgescheuchter, schlaftrunkener Vogel durch die Zweige flatterte, oder der Nachtwind hoch oben durch die Ulmenkronen strich. … Jetzt wurde es lebendig in dieser Todeseinsamkeit – ächzende Seufzer entflohen den Lippen eines furchtbar aufgeregten Menschen; in wilder Hast wühlte er sich durch pfadloses Gebüsch, die gewaltsam niedergebogenen Zweige knackten und schlugen rauschend zurück in das Gesicht des nächtlichen Störers. …

Halbverloren taumelten noch einzelne Klänge der Ballmusik herüber, dann verstummten auch sie, und jetzt mit dem letzten zwölften Schlag, den das Neuenfelder Thurmglöckchen zitternd verhallen ließ, rollte und donnerte es noch einmal von ferne – das war der letzte Wagen, der von dannen fuhr.

Das Auge des Ministers richtete sich starr auf, den feurigen Würfel des Schlosses, der noch einen kurzen Moment feenhaft durch das flüsternde Laub flimmerte. …. Da sanken die Kronleuchter des Saales und geschäftige Hände löschten Kerze um Kerze, die einem schauerlich gestörten Fest geleuchtet hatten. Die langen, strahlenden Linien der Corridore verschwanden spurlos in der Nacht – ein Licht um das andere versank – dort huschte noch eines hin und wider, es lief mit dem Feuerwächter, der seine Runde machte … da erlosch es – und mit ihm fiel ein Schuß in den abgelegenen Boskets des Arnsberger Schloßgartens.

„Da wildert Einer,“ sagten die aufgeschreckten Schläfer in Neuenfeld, drehten sich um in ihren Betten und schliefen weiter den Schlaf des Gerechten.


Es war im Monat September. Der erste herbe Hauch des Herbstes mischte sich in die Sommerlüfte und betupfte die Waldwipfel hie und da mit schwachröthlichen Tinten und einem leichten Goldduft. Tief im geschützten Herzen des Waldes aber hielt sich noch die volle, wonnige Sommerwärme versteckt; sie lag auf dem kräftig wuchernden Rasen, der den Kiesplatz vor dem Waldhause einfaßte, und bestreute ihn unermüdlich mit Blumenglocken. Und die Blätter der Aristolochia lagen so breit und glänzend und zuversichtlich auf dem grauen Mauerwerk, als könne nie eine Zeit kommen, wo sie sich schmerzlich zusammenkrümmen und als unscheinbare Mumien auf dem Athem der Winterstürme die traute Wohnstätte verlassen würden.

Sie waren übrigens heute nicht der einzige Schmuck des Waldhauses. Ueber der Terrasse, einen Thurm mit dem andern verbindend, schwebten Blumengewinde, und auch die gewaltige eichene Hausthür, die in die Halle führte, umsäumte eine dicke Eichenlaubguirlande. Selbst auf den lockigen Köpfen der steinernen Edelknaben lagen Epheukränze, und lange, blätterreiche Brombeerranken wanden sich um die Jagdhörner, in denen das Hallali versteinert schlief. Diese seltsame Ausschmückung hatte „Pfarrers Röschen“ durchgesetzt – „die armen Männer sollten doch auch ihre Freude haben.“

Noch festlicher geschmückt aber erschien das traute Haus innen. Wohin der Blick fiel, in Guirlanden und Vasen, selbst auf den Steinfließen der Halle lachten und strahlten die bunten Häupter der Georginen, Astern und Spätrosen, und aus der geöffneten Thür des südlichen Thurmzimmers wehten die Düfte der vornehmeren Heliotropen.

Wir haben das Thurmgemach zu verschiedenen Zeiten gesehen – jetzt hat es sich abermals eine Umwandelung gefallen lassen müssen – es ist das Wohnzimmer einer jungen Frau geworden. Weiße Mullvorhänge schweben vor den hohen Fenstern und nehmen dem Zimmer sofort den düsteren Charakter. Helle, bequeme Möbel, wohlgefüllte Blumentische stehen an den Wänden, und auf dem Fußboden liegt ein dicker, warmer Smyrnateppich. In einer vertiefen Fensternischen, vor dem gestickten Lehnstuhl, steht ein Nähtisch, und darüber hängt ein blanker Messingkäfig mit kleinen, buntgefiederten brasilianischen Vögeln. … An den Hauptwänden hängen sich zwei große Oelbilder gegenüber – ein schönes, junges Mädchen, das Feldblumen im Schooße und in den schlanken, weißen Händen hält, sieht mit den großen, glückseligen Taubenaugen hinüber in das Gesicht des jungen Mannes, dem der prächtige Vollbart blond vom Kinn niederwallt, und welcher in den über der Nasenwurzel zusammengewachsenen Brauen den Stempel des Unglücks, eines traurigen Schicksals trägt. Um beide Bilder legen sich Blumengewinde frisch und glänzend und hauchen einen schwachen Lebensodem über die jugendlichen Gestalten, die längst unter der Erde schlafen.

Was Alles wußte heute die geschwätzige Fontaine vor dem Waldhause zu erzählen! … Der Mann mit der majestätischen Rittergestalt, der dort hauste, hatte heute, in der Abendstunde neben „dem schönen, blonden Mädchen im blauen, wallenden Gewande“ gestanden – nicht in der fein ehrbaren Weise, wie sie der Brauch und das Herkommen vorschreiben – nein, sein starker Arm hatte fest und innig die zusammenschauernde, schlanke Gestalt umschlungen in dem Augenblick, wo die Abendsonne golden durch das Fenster der Neuenfelder Dorfkirche auf sein und des Mädchens Haupt gesunken war und der Pfarrer mit ergreifenden Worten den Bund ihrer Herzen eingesegnet hatte. … Dann waren sie [500] still und glückselig, nur zu Zweien durch den Wald gewandelt, und der Mann hatte sein junges Weib buchstäblich über den blumenbestreuten Kiesplatz in sein Haus getragen.

Berthold Ehrhardt hatte in einer fast fieberhaften Angst seine möglichst rasche Vereinigung mit Gisela betrieben. Der Pfarrerin gegenüber war ihm das Geständniß entschlüpft, daß ihm das schreckliche Schicksal seines Bruders, der Verrath, den ein Weib an ihm geübt, einen unauslöschlich schlimmen Eindruck gemacht habe – er würde nicht eher ruhig sein können, bis er sein unschuldiges Mädchen in das Waldhaus gerettet. … Nie durfte die Wittwe des Baron Fleury in seiner Gegenwart genannt werden. Sie selbst machte aber auch im Lande nicht mehr von sich reden – sie hatte sich mit der kleinen Pension, die ihr der Fürst gewährte, nach Paris zurückgezogen. … Auch Frau von Herbeck war aus der Gegend verschwunden. Sie bezog ein Jahrgeld von Gisela und lebte vergessen in einer kleinen Stadt „ihren Erinnerungen“.

Am Hofe zu A. machte die Wahl der jungen Gräfin Sturm gewaltige Sensation. Der Fürst konnte einige Nächte nicht schlafen über dem Gedanken, daß der Portugiese abermals die Axt an die Wurzeln des hochfürstlichen Princips lege, indem er vor Aller Augen beweise, daß eine geborene Reichsgräfin Sturm eine schlichte Frau Ehrhardt werden könne, ohne daß die Welt darüber aus den Fugen ging.

Das Resultat dieser schlaflosen Nächte war eine geheime Mission, die er in die Hände der Frau mit der feinen Zunge und den klugen, scharfen Augen vertrauensvoll niederlegte. Die Gräfin Schliersen machte eines Tages der Braut einen Besuch im Pfarrhause und ließ dem anwesenden Bräutigam mit ausgesuchter diplomatischer Feinheit merken, daß Serenissimus „den ersten Industriellen“ seines Landes durch das Adelsdiplom auszuzeichnen gedenke. … Mit derselben ausgesuchten Feinheit vergoldete „der starrköpfige Portugiese“ seine Antwort – der bittere Kern aber, der trotz alledem geschluckt werden mußte, ließ sich nicht anders übersetzen, als: Der also Beehrte gehöre nicht zu Denen, die den Adel so lange bekämpften, als sie ihn nicht selbst besäßen. Die Neuzeit habe derartige Renegaten genug aufzuweisen, die unter dem Motto: „Nur im Interesse meiner Kinder“ sich selbst wieder zu Stützen und Bausteinen einer altersmorschen Institution machten, welche sie vorher bespöttelt und verlacht. Er finde an seinem Namen nichts auszusetzen und wünsche ihn nicht zu verändern.

Die Diplomatin kehrte unverrichteter Dinge nach A. zurück. Uebrigens erhielt die Braut sehr bald einen Beweis, daß sich die fürstliche Ungnade nicht auch auf sie erstrecke. Unter der Petition der Neuenfelder Gemeinde, welche um Belassung ihres Pfarrers im Amte bat, hatte auch der Name „Gisela, Gräfin Sturm“ gestanden. Man behauptete allgemein, diese Unterschrift sei schwer in’s Gewicht gefallen – die Neuenfelder behielten ihren Pfarrer. …

Ein leichte Dämmerung webt bereits um das Waldhaus. „Der Portugiese“ hält sein junges Weib umschlungen und tritt mit ihr heraus auf die Terrasse. Noch fließt der Brautschleier von ihrem Haupt, und auf der weißen Stirn liegen die zartgebogenen Myrthenblätter. Mit zurückgeworfenem Kopf sieht sie unverwandt in das schöne Antlitz Dessen, der sie hier im tiefen, dämmernden Wald gleichsam einmauern will. … Wie leuchtet dieses Antlitz! … Der Mann, hinter welchem eine düstere Vergangenheit voller Kämpfe und Schmerzen liegt, steht am himmlischen Ziel. Sein höchstes Kleinod hält er in den Armen. Er steht auf einer Art Oase im Weltgetriebe. Draußen lauert das protestantische Papstthum und schlägt mit Ruthen auf die Geister, die sich aufwärts bäumen, und hier, in seiner selbstgeschaffenen Colonie darf die freie Anschauung von Gott und seinem Wort ungestört die Flügel entfalten. … Draußen herrscht und regiert fort und fort der unbegrenzte Egoismus, und eine Kaste sucht der anderen auf den Nacken zu steigen; hier aber waltet die Liebe, und man erhält den unwiderleglichen Beweis, daß sich das Musterbild der Menschheit, wie es die oft verlachte Humanität anstrebt, in der That verwirklichen läßt. Der Mann im Waldhause sieht glückliche, zufriedene Gesichter, wohin sein Blick sich wendet. Das lächerliche Jagen nach Aemtern und Orden dringt nicht herein – dafür kömmt das höchste Streben, das die Menschenseele erfüllen soll, das Streben nach innerer Entwicklung und Befreiung, um so besser zur Geltung.

„Gisela!“ ruft es schnarrend und mißtönend neben der jungen Dame. Sie wendet sich überrascht um – der Papagei schwingt sich lustig auf seinem Ring, und in der Hausthür steht lachend der alte Sievert. … Das bräutliche Weib streckt ihm beide Hände entgegen; er hat dem Vogel mit unsäglicher Mühe den Namen der künftigen Hausfrau eingelernt und die letzten schauerlichen Worte des sterbenden Herrn von Eschebach aus dem Gedächtniß des Thieres verwischt. … Er nimmt sacht und behutsam die gebotenen feinen Finger zwischen seine großen, braunen Hände, und, was Gisela nie geglaubt, die alten, finsterdräuenden Augen können auch feucht schimmern.

Und jetzt tritt auch die Pfarrerin aus der Halle – sie hat einen Shawl um die Schultern geschlagen und will heim.

„Junges Frauchen, ich habe den Theetisch drin hergerichtet, denn von der Liebe allein lebt man nicht,“ meint sie schelmisch und deutet nach dem einen Fenster des südlichen Thurmzimmers, das nach der Terrasse mündet. … In der heimlichen Dämmerung da drin, fast auf derselben Stelle, wo einst die Theemaschine der alten, blinden Frau gestanden, lodert die kleine, blaue Flamme, die den Abend in der Wohnstube so behaglich und gemüthlich macht.

„Und nun, Gott sei mit Euch, Ihr lieben, lieben Leute!“ sagt die Frau, und ihre sonore Stimme schmilzt in Weichheit.

„Der Portugiese“ küßt ihr ehrfurchtsvoll die hartgearbeitete Hand, und Gisela legt die Arme um ihren Hals. Dann steigt sie die Treppe hinab und schreitet festen, kräftigen Fußes in den Wald hinein. …

Allmählich fließt ein silberglänzendes Licht über Waldwipfel, Haus und Wiese – der Mond steigt groß und voll herauf. Wieder sieht er auf der Terrasse eine hohe, majestätische Männergestalt stehen, an die sich ein junges Wesen hingebend schmiegt; aber diesmal werden die Schwüre, welche die flüsternden Lippen austauschen, nicht gebrochen werden!



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: nöhig
  2. Vorlage: Schönheite