Ravel – Strawinski – Schönberg
In die grosse Liquidation der Werte, oder richtiger: Wertbegriffe wird auch die Musik mit einbezogen. Beträchtlich sogar. Eine Zeitlang hatte das musikalische Schaffen auf allen Gebieten einschliesslich des Theaters die Führung, neue Ideen brachen hier am stärksten durch. Ueberall gab es festliche Veranstaltungen für neue Musik. Gesellschaften wurden ihr zu Ehren gegründet, eine epochale Wendung schien sich vorzubereiten. Heut ist es still geworden: am stillsten da, wo es vorher am lautesten zuging: in Deutschland. Von den einst Namhaften lebt nur noch Hindemith dort. Man lässt ihn zwar in Frieden weiter basteln, aber „Führer“ sind heute die Dutzendmänner vom Schlage eines Paul Graener oder gar Max Trapp und Müller. Wien stellt sich vor lauter Angst nach allen Seiten tot, die schon angesagte Aufführung von Kreneks „Karl V“ ist einstweilen wieder abgesetzt worden. In Italien macht Casella neue Miene zum alten Spiel: das Wenige, was man aus Russland hört, klingt mehr nach westlicher Neuklassizistik als nach Umsturz. In Frankreich, wo man eigentlich niemals sehr experimentell eingestellt war, ziehen sich die Liebhaber des Neuen auf immer kleinere Kreise zurück; um die Vierteltonmusik des Tschechen Haba ist es still geworden. Die grosse Agonie des Geistes breitet sich mit epidemischer Stetigkeit aus, und man sieht es mit eigenen Augen, wie auch die europäische Musik in den Dornröschenschlaf hinübersinkt.
Da ist es gut, gelegentlich nachzuprüfen, was sich eigentlich begeben hat, ob vielleicht jene Werke, die einst Fanfare bliesen, nicht das waren, was man dachte, ob man sich – aus einem Wunsch, einer Hoffnung – in den künstlerischen Erscheinungen getäuscht hat. Der „Triton“, eine Vereinigung für zeitgenössische Musik, gab sein erstes Konzert. Ravel, Schönberg, Strawinski standen auf dem Programm. Nichts Neues also, Werke aus der Zeit vor zwei bis drei Jahrzehnten. Aber Grundwerke, gut, um alte Urteile zu revidieren.
Ravel zwar gehört nicht ganz in diese Gruppe, höchstens insofern als er Franzose ist. Seine „Introduktion und Allegro“ ist ein prächtiges Konzertstück für Harfe mit Quartettbegleitung, Flöte und Klarinette. Ravel ist „maitre“, ein Musiker von sensibelster Kultur und unbeirrbarer Eleganz. Er spricht die scheinbar[1] gewagtesten Harmonien aus – sie klingen bei ihm, als wäre garnichts dabei, sie sind entgiftet. Ravel ist radikal, dabei aber so konservativ, wie es eben nur der gute Franzose sein kann – in Haltung und Wesen eine hochzuschätzende Persönlichkeit und wirkliche Potenz, doch immer ein Weltmann.
Von Ravel ist es nicht gar so weit zu Strawinski. Auch er arbeitet im wesentlichen mit den gegebenen Elementen, die er nach irgendeinem Einfall durcheinanderwirbelt. Aber nicht wie Ravel, so dass sie gleich wieder ein neues, schön geordnetes Kaleidoskop-Bild geben – sondern so, dass sie kreuz und quer stehen, sich überschneiden, die drolligsten harmonischen, melodischen, rhythmischen Verrenkungen zeigen. Soweit wäre es eine parodistische Kunst. Nun aber kommt das Eigene an Strawinski: dass sich hier aus all diesen Bestandteilen des Gestrigen eine neue Welt mit organischer Gesetzlichkeit des Klanges, der Innenbewegung aufbaut, dass in diesem Marionettenspiel der Tongestalten, in der scheinbaren Grimasse ein schöpferischer Wille agiert, der sich aus altem Material den Weg bahnt zu einer bisher unerschlossenen Sphäre musikalischen Vorstellungslebens. Man kann das bei der „Geschichte vom Soldaten“ richtig erfassen erst auf Grund der szenischen Darstellung – wiederum gibt die Aufführung als Konzertsuite die musikalische Essenz klarer und verblüffender in ihrer bildhaften Drastik.
Wie weit ab von alledem steht Schönbergs „Pierrot Lunaire“. Ravel ist beliebt, man könnte sagen: populär, Strawinski kann weithin wirken – Schönberg bleibt allein. Und wenn man den „Pierrot Lunaire“ in nochmals 20 Jahren aufführt, wird seine Gemeinde nicht grösser sein als heute und ehedem. Hier handelt es sich nicht um Gewohntsein oder Nichtgewohntsein, sondern um einen Grad geistiger Intensivierung, der immer nur wenigen erfassbar sein wird. Dieser musikalische Sprechton ist schon wieder eine Ueberhöhung des Gesanges und ragt in eine Region dünnster Luftbeschaffenheit. Hier erscheinen auch die instrumentalen Klänge nur noch als Abbreviaturen, als seelische Grundlinien, punktiert. Freilich – welch eine Höhe ist das! Und wenn nun heut Leute kommen, die Bilanz ziehen wollen, so muss man wohl wagen: vielleicht war das alles zu intensiv, zu einmalig, um auf die Dauer vorhalten, oder gar tägliches Brot für den Musikbedarf geben zu können. Aber würde heut die Frage gestellt nach der Wahl zwischen dieser Art musikalischen Seins und dem, was jetzt dagegen gesetzt werden soll – so gäbe es nur ein dreimaliges Ja für das vordem Bejahte. Wir zählen nicht die Stimmen der Herde. Aber wir setzen die Kraft des lebendigen Geistes allemal über das leere Gehirn einer Allerweltsmaske.
Eine Aufführung, die solche Fragen anregt, muss in sich die gleiche Intensität tragen, wie sie das Werk ausstrahlt. Das gilt in erster Linie in Bezug auf Marga Freund als Sprecherin, die den französischen Hörer in klugen Einleitungen an den Inhalt des „Pierrot Lunaire“ heranführte. Es wäre geschmacklos, diesen wahrhaft künstlerischen Menschen mit lobenden Worten zu bedenken – sie gibt die absolut authentische Interpretation, da ist nichts hinzuzufügen. Ihr zur Seite Hermann Scherchen, der eigentliche deutsche Arbeitsdirigent, wirklicher Diener am Werk, seine Partituren technisch wie geistig mit gleicher Ueberlegenheit beherrschend – und dazu einer der Wenigen, die immer ihren gleichen eigenen Weg gegangen sind in guten Zeiten und in schlechten. Sei noch der virtuosen Harfenistin Micheline Kahn gedacht und des trefflichen instrumentalen Solo-Ensembles.
„Triton“ hat einen guten Anfang gemacht. Diese Art zeitgenössischer Musik ist immerhin die einzige, die überhaupt da ist als Wesen von Fleisch und Blut inmitten eines Kreises von Gespenstern, die sich einbilden, lebendige Geschöpfe zu sein.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: scheinbare