Rath Braunstein und Familie
Rath Braunstein und Familie.
In einer der gesegneten Fluren Deutschlands, welche Anmuth mit Nutzbarkeit vereinen, finden wir eine hübsch gebaute, von thätigen und muntern Leuten bewohnte Stadt, die wir Blauberg taufen wollen, um sie nicht ganz namenlos in unserer Erzählung agiren zu lassen. Die ganze weite Landschaft um diese Stadt trägt den eigenthümlich idyllischen Charakter derjenigen Berggegenden, welche nur weiche, saftig grüne Wiesenmatten und wellenförmige, waldbewachsene Höhen in schönster Abwechselung aufweisen. Eine gewisse Poesie umwogte die Stadt mit ihren allerliebsten Umgebungen und auf ihren Straßen ruhte der Hauch des Friedens. Harmloser Sinn zeichnete die unteren Schichten der Bevölkerung vortheilhaft aus, aber in den Coterien der höheren Stände war es, wie überall in der Welt, wo Militair, Beamte, Adel und reicher Bürgerstand zusammentreten, um sich zu amüsiren.
Es gab in Blauberg ein Appellations- und ein Kreisgericht; es gab dort reitende und nichtreitende Officiere; es gab arme und dabei hochgestellte Edelleute; es gab Regierungsbeamte und pensionirte Militairpersonen; dann aber gab es auch noch reiche Kaufleute, die es sich zur Ehre schätzten, zur haute volée gezählt zu werden.
Der Kampf um Rang, Stand, Ansehen und Repräsentation ruhte in Blauberg, wie überall, mehr in den Händen der Frauen, als der Männer, und während sich die Letzteren nur geneigt zeigten, sich geistig zu gesellen, wogen die Damen behutsam die Ranges- und Standesunterschiede ab, bevor sie sich einem Kreise ganz hingaben.
Der Appellationsgerichtsrath Braunstein gehörte in der Stadt Blauberg zu den hervorragenden Persönlichkeiten. Er bewohnte das hübscheste Haus dort und hatte die eleganteste Frau. Er selbst war, trotz seiner zweinundfunfzig Jahre, noch ein hübscher, sehr feiner Mann, woraus er sich freilich leider Gottes gar nichts zu machen schien, und die Frau Appellationsräthin Braunstein konnte ebenfalls, ungeachtet ihrer siebenundvierzig Sommer, noch in der Reihe schöner Frauen auftreten, worauf sie denn auch so viel Werth legte, daß sie mit einer Sorgsamkeit, die an’s Lächerliche grenzte, die moderne Ausstaffirung ihres siebenundvierzigjährigen Körpers besorgte.
Der Morgen eines Septembersonntages war beinahe bis zur Mittagsstunde vorgerückt, als der Rath Braunstein, tief beschäftigt, in seinem Zimmer weilte, während die Frau Räthin mit exemplarischer Geduld und Gelassenheit Toilette in ihrem Boudoir machte.
Von fern her drangen die Töne einer Militairmusik, auf die sie mit wohlgefälligem Kopfnicken bisweilen lauschte, und endlich, unter den rauschenden Klängen der Wilhelm-Tell-Ouvertüre, vollendete sie ihr gelungenes Kunstwerk einer Modedame, indem sie die Hutbänder ordnete und die knappen Handschuhe überpreßte.
Noch einen einzigen Blick warf sie in den Ankleidespiegel, der ihre ganze Figur in gewünschter Breite wiedergab, und dann trippelte sie eilig über den Vorsaal hinweg, um mit einigem Eclat die Thür zu ihres Mannes Zimmer zu öffnen.
„Nun, Eduard, bist Du fertig?“ fragte sie im Eintreten, ohne jedoch die Blicke von ihren Handschuhen emporzuheben, die sich beim Zuknöpfen widerspenstig zeigten.
Der Rath fuhr erschreckt von seinem Schreibtische empor. Sein Blick verrieth eine völlige Abwesenheit der Gedanken und das Lächeln der Zerstreutheit thronte auf seinen Lippen.
„Was meintest Du, Laurette, was?“ fragte er sanft.
Die Dame hatte aber schon die wenig schmeichelhafte Entdeckung gemacht, daß sie einmal wleder vollständig von ihrem Gatten vergessen worden war. Er saß im Schlafrocke, wie an jedem anderen Sonntage, und schrieb.
„Mein Himmel, was soll ich davon denken, Eduard? Du hast Dich ja nicht angezogen!“ rief sie, weit weniger sanft, als er.
„Weshalb anziehen?“ fragte der Rath, augenscheinlich mit seinen Gedanken schon wieder bei seinem Referate.
„Willst Du etwa nicht mitgehen?“ warf die Räthin pikirt ein.
„Wohin?“
„Nach der Eisenbahn,“ antwortete sie kurz und ärgerlich.
„Wozu, Laurette, wozu?“
„Nein, das übersteigt denn doch Alles, was bis jetzt dagewesen ist!“ rief die Dame voller Unwillen. „Du hast kein Herz, wahrhaftig, Du hast kein Herz!“
„Wie so? Kein Herz? Nein, Laurette, ich habe nur keine Zeit, mit zur Eisenbahn zu gehen.“
Madame schlug die engbehandschuheten Hände kräftig zusammen.
„Daß sich Gott erbarme! Ja, Eduard, Du hast keine Zeit! Ich hätte es nachgerade lernen sollen! Du hast nie Zeit, niemals! Einen Mann zu besitzen, wie Du bist, ist doch das allerschlimmste Unglück für eine gefühlvolle Frau!“
„Aber, Laurette –“ wendete der Rath sehr sanftmüthig ein, indem er seine Feder wieder ergriff, eintauchte und Miene machte, weiter zu schreiben.
„Schreibe nur, ich will gar nichts dagegen haben,“ eiferte die [638] Räthin nun in vollen Zornesflammen, indem sie ihre Mantille fester um sich zog und sich anschickte, das Zimmer zu verlassen. „O, hätte ich das vor dreißig Jahren geahnt!“ Sie schlug die Thür ziemlich unmanierlich zu und eilte die Treppe hinab.
Braunstein sah nachdenklich vor sich nieder. Er versuchte, seine Zerstreutheit Herr zu werden, um den Zusammenhang in dieser Scene zu finden.
„Was ist es nur wieder?“ murmelte er, aber sein bedeutungsvolles Kopfschütteln bekundete, daß er sich vergeblich nach einem leitenden Faden in diesem Labyrinthe umsah. Bald überschlich ihn wieder die Fluth seiner Geschäftsthätigkeit und er vertiefte sich ohne Gewissensbisse in seine Arbeit.
Während dieser Zeit wanderte die zornige Appellationsgerichtsräthin, äußerlich graziös und vollendet elegant, die Straßen hinab, die zur Eisenbahn führten, empfing huldvoll die Grüße der jungen und alten Officiere, welche en grande tenue von der Parade kamen, und schlug dann seufzend den schmalen Weg zwischen den Gärten ein, der bei dem Perron auslief.
Jetzt erst fielen ihre Gedanken mit erneuerter Bitterkeit auf die eben erlebte Scene mit ihrem Gatten zurück.
„So geht es,“ dachte sie, ärgerlich ihren Schritt beschleunigend, denn die Locomotive signalisirte in der Ferne, „so geht es, wenn man durch die Märchen der Kinderwelt auf Irrwege geräth und in dem ersten Manne, der uns nahe tritt, das Ideal seiner Träume anbetet! Elf Jahre habe ich nach dem Zeitpunkte geschmachtet, der mich zu dieses Mannes Gattin erheben konnte – elf Jahre war ich eine zärtliche, eine treue Braut, um dann nach und nach die unglücklichste Frau zu werden.“
Ihre Gedanken durchliefen pfeilschnell den weiten Zeitraum, den sie hinter sich hatte. Mit phantastischen Begriffen von Liebe und Glück war sie in die Welt getreten und hatte, vermöge ihrer liebenswürdigen Persönlichkeit, die Liebe eines schönen, vielversprechenden Studenten errungen, der sie unter der Aussicht, „dermaleinst Assessor zu werden“, sogleich zu seiner Braut machte. Nach elf vollen Jahren war sie dann ihres hübschen Eduard Braunstein Gattin geworden, um gleich darauf zu der Ueberzeugung zu kommen, daß ihr Mann mehr zu thun hatte, als sie für ihr Liebes- und Lebensglück zuträglich hielt. Er hatte nicht Zeit, mit ihr die Modehandlungen zu durchstreifen, er hatte nicht Zeit, sie Parade zu führen und als gehorsamer Diener bereit zu stehen, wenn sie einen Spaziergang für nothwendig hielt. Zuerst frappirte sie dieser Umstand, dann aber fand sie sich darein und suchte ihr Vergnügen auf anderen erlaubten Wegen. Sie spielte mit Geschick die Musterdame der Mode, vergaß aber dabei, daß sie zu alt für jugendliche Moden wurde. Kleine Spöttereien ihres Mannes ignorirte sie und weiter verstieg sich der Rath Braunstein nicht, wenn er auch innerlich unzufrieden über die Geistes- und Geschmacksrichtung seiner Gemahlin war. Von Natur zur Zerstreutheit und Vergeßlichkeit geneigt, bildete sich diese Naturanlage im Laufe der Zeit und unter der Einwirkung der Verhältnisse bis zum Fehler bei ihm aus und zeigte sich namentlich, zum größten Leidwesen der Räthin, in Rücksicht auf gesellige Verhältnisse, denen sie eine ungeheuere Wichtigkeit beizulegen pflegte. Seine Beschäftigungen, zu abstract von den kleinlichen Dingen, die seine elegante Gemahlin zu ihrem Götzen erhoben hatte, rissen nach und nach eine Kluft zwischen den Gatten, die sich außerdem keineswegs haßten, denn kleine Anfälle von Heftigkeit abgerechnet, mußte man der Räthin Braunstein zur Ehre nachsagen, daß sie sich wunderbar gut mit ihrem Eheherrn zu stellen wußte. Freilich aber wurde sie dabei unterstützt von der unausbleiblichen Folge fortgesetzter Zerstreutheit, die zuletzt in Indolenz übergeht, um sich ein gewisses Ungestörtbleiben zu sichern.
Eine halbe Stunde nach der unwillkommenen Störung warf der Rath, tief aufathmend, die Feder auf das Schreibzeug.
„Das war ein schweres Stück Arbeit,“ murmelte er vor sich hin, indem er nach dem Cigarrenkasten griff, um sich mit einer Havanna zu belohnen. „Lieber will ich mich mit einer Legion Feinde herumcapituliren, als diplomatisch die Grobheit einer Zurückweisung Freunden gegenüber zu bemänteln.“ – Er spitzte die Cigarre ab, brannte sie an und murmelte weiter: „Ja, wenn es sich der Mühe lohnte, noch vorwärts zu streben! Warum aber sollte ich wohl die bequeme Bahn zum Alter verlassen, um mich durch den Wellenschlag der Fürstengunst auf eine Höhe schleudern zu lassen, wo ich ebenfalls, wie hier, allein stehe? Ja, wenn ich Söhne hätte – !“
Er trat langsam an’s Fenster und blickte zerstreut und sinnend hinab auf die Straße. Seine Phantasie hing noch immer an dem Berichte, den er, in Folge einer Privatanfrage des Ministers, so eben zu Stande gebracht, nachdem er ihn, unschlüssig, seit mehreren Tagen verschoben hatte.
Mechanisch richtete er das Auge auf zwei Damen, die über den Straßendamm fort auf sein Haus zusteuerten. Es war seine unglaublich elegante Frau – er erkannte sie sogleich an dem Ueberflusse von Spitzen, Band und Blumen. Wer aber war die andere Dame? Kopfschüttelnd verfolgte er mit den Blicken beide Frauengestalten, bis endlich die Begleiterin der Räthin den Kopf emporhob und ein liebes Gesicht zu ihm emporschaute. Wie ein Blitzstrahl erleuchtete plötzlich die Macht der Erinnerung sein Inneres.
Jetzt wußte er, was der Zorn seiner Gattin zu bedeuten gehabt hatte. Wahrlich, sie hatte Ursache dazu gehabt! Ein herzlich frohes Lächeln zog wie Sonnenleuchten über des Mannes Züge.
„Himmel, meine Hermine!“ rief er laut und eilte mit jugendlicher Lebhaftigkeit der Treppe zu, um seine Tochter im Ausbruche einer leidenschaftlichen Freude des Wiedersehens stürmisch zu umarmen. Unter der Wärme reuiger Zärtlichkeit klagte er sich dabei zum ersten Male einer unverzeihlichen Vergeßlichkeit an und bot seiner schmollenden Gattin bittend die Hand zur Versöhnung.
Sie verweigerte ihm dieselbe nicht, aber sie nahm doch kluger Weise die Gelegenheit wahr, ihm in haarscharfen Worten sein Unrecht gegen sie und sein einziges Kind im Allgemeinen und Speciellen vorzuhalten.
Rath Braunstein lachte in seiner herzgewinnenden Weise und räumte für’s Erste Alles ein. Es war richtig, daß er, von der Rückkehr seiner Tochter unterrichtet, fest versprochen hatte, mit der Räthin nach der Eisenbahn zu gehen, aber er wendete ein, daß es ebenfalls ein Versehen von dieser gewesen sei, ihn „vor dem Beginne ihrer großen Empfangstoilette“ nicht nochmals an diese Familienbegebenheit zu erinnern, da er durchaus „keine Zeit habe“, an dergleichen Dinge zu denken.
Die Räthin ließ den Einwand nicht gelten. Sie meinte, sein Vaterherz müsse ihn an solche Dinge erinnern. Was die Leute nur davon denken sollten, daß er ruhig am Schreibtische säße, während sie allein hingeeilt sei, ihre Tochter nach monatelanger Abwesenheit wieder zu umarmen.
Ein eigenthümliches Lächeln, von einem schnellen Blicke über ihre ganze Gestalt hin begleitet, verrieth deutlicher, als er selbst dachte, daß er im Stillen meinte, sie mache Staat mit ihrer Mutterliebe und das Töchterchen habe vielleicht den einfachen Vater selbst nicht so nöthig zum Empfange gefunden, als die prunktreibende Mutter.
Hier lag die Tragik seines Alltagslebens, welches den leise bohrenden Wurm innerlicher Verstimmung in sich verbarg. Nachdem er mit einigen schwachen Versuchen, seine junge Gattin zur Theilnehmerin edlerer Interessen zu gewinnen, früher gescheitert war, wendete er sich mit Hoffnung seinem einzigen Kinde zu, das ihm von der Natur hinreichend günstig ausgestattet erschien, um neben ihm zu wandeln.
Auch diese Erwartung scheiterte. Hermine Braunstein wurde der Affe ihrer modernen Mutter und opferte bereitwillig die schönen Gaben der Natur gegen die Triumphe der Aeußerlichkeit.
Als der Rath Braunstein diese Erfahrung gemacht hatte, quittirte er seelenruhig seine Lebensfreuden, warf sich mit regem Eifer seinem Berufe in die Arme und verlor natürlich von da an jedes tiefere Interesse für seine Familie. Hundert andere Männer mußten die Träume ihrer Jünglingsjahre von „Familienglück“ begraben, weshalb sollte er nicht versuchen, sich bei dem traurigen Schicksale seiner Vereinzelung durch andere Lebensgenüsse schadlos zu halten? Er wählte, seiner edlen Natur zu Folge, die Bahn der Wissenschaften, um sein Alleinstehen zu verträumen. Dadurch verfiel er natürlich mehr noch, als früherhin, seiner Neigung zur Vergeßlichkeit, aber gleichzeitig gewann er auch dadurch eine Bedeutung in der juristischen Welt, wovon er nicht eher etwas ahnte, als bis ihm Anträge vom Ministerium gemacht wurden, die einen mehr ehrgeizigen Mann in Entzücken versetzt hätten. Er aber lehnte, seiner Gemüthslethargie vollen Spielraum lassend, alle Vorschläge ab, obwohl sie den sichersten Weg zum Chefpräsidenten irgend eines Obergerichtes in Aussicht stellten.
Man beruhigte sich nicht bei dieser abschläglichen Antwort, denn man konnte das Wissen und die Theorien eines Juristen, wie Rath Braunstein, gerade gebrauchen. Der Minister, von früherer Zeit [639] her mit ihm bekannt, richtete ein Freundeswort an ihn, um ihn für die vorliegende Stellung zu begeistern.
Auf diesen Brief hatte er an dem Sonntagmorgen, wo wir ihn tief versunken im Schreiben fanden, endlich ausführlich, jedoch abermals ablehnend, geantwortet und seine Gründe dafür mit aller nur möglichen Spitzfindigkeit zu motiviren gesucht. In der That hatte er aber keinen triftigen Grund weiter, als „ein Leben, das er als abgeschlossen vor sich liegen sah, nicht zwecklos von Neuem zu beunruhigen.“
Wir haben gesehen, daß er sich eine Alternative stellte, indem er seinen Entschluß von dem Besitze einiger Söhne abhängig machte. Seine Tochter gehörte also nicht mehr in den Bereich seiner Lebenspläne, seitdem sie als Abbild ihrer oberflächlichen Mutter prangte.
Mit seiner Gattin stand er auf einem Fuße, der ihn eigentlich in den Augen aller vernünftigen Menschen fälschlich compromittirte. Man glaubte ihn allgemein dem Pantoffel-Regimente der eleganten Hausfrau verfallen, während er sich ganz einfach nur nicht darum bekümmerte, was seine Gemahlin zu thun und zu lassen für gut befand. Die ergötzlichen Geschichten, womit sich das Publicum amüsirte, kamen ihm nie zu Ohren, sonst würde er sich männlich gegen die falschen Auslegungen seiner fehlerhaften Hinneigung zur Zerstreutheit gewehrt haben. Richtig war es, daß er häufig erst im Beginne eines Festins in seinem eigenen Hause Nachricht davon erhielt und daß seine Tochter es sich zur Regel gemacht hatte, ihn jedes Mal mit den Worten zu unterrichten: „er möge sich ankleiden, denn es sei große Gesellschaft bei ihnen!“ – Allein dies Verfahren beruhte weniger auf einer Nichtachtung der Hausfrau gegen ihn, als auf seiner eigenthümlichen Nichtbeachtung der häuslichen Angelegenheiten.
Mutter und Tochter hatten im Grunde einen außergewöhnlichen Respect vor dem Hausherrn, der sich durch die ernste Sanftmuth seines Wesens, trotz aller kleinen Kampfscenen, stets wach erhielt. Er übereilte sich nie in seinen Ausdrücken, während die sehr lebhafte und reizbare Frau Räthin durch heiße unüberlegte Worte die Achtung gegen sich selbst schwächte und schon dadurch, daß sie immer gezwungen war, die Aussöhnung mit ihrem Gatten zu suchen, in den Augen ihres aufmerksamen Töchterchens zu einer Zeit verloren hatte, wo sie dasselbe noch keiner Kritik fähig hielt. Mit dem dunklen Bewußtsein seines Werthes entspann sich in spätern Jahren in Herminens Herzen eine weit innigere Liebe zum Vater, als zur Mutter, und es hätte vielleicht nur eines ernsten väterlichen Wortes bedurft, um sie dem Flitterstaate der mütterlichen Lebenssphäre abwendig und zu einer Gefährtin der ernstern Gemüthsrichtung des Vaters zu machen. Dieser gab sich aber niemals die Mühe, ihr die Seichtigkeit ihres Strebens zu erklären, weil er auf diesem Felde der Erziehung in der eigenen Gattin die größte Widersacherin gefunden haben würde.
Hermine war vier Monate verreist gewesen. Der Rath Braunstein hatte ihre Abwesenheit kaum bemerkt und beachtet. Woher kam es, daß jetzt plötzlich ihre Wiederkehr sein Vaterherz mit einer sonderbar leidenschaftlichen Freude erfüllte, daß ihm seine Tochter anders, schöner, bedeutender, lebensvoller und lieblicher erschien? War das nur der Verklärungsschimmer der Entbehrung?
Sein Auge hing erstaunt an diesem liebenswürdigen Wesen, das er seine Tochter zu nennen berechtigt war, und so oft er auch Anstalten traf, sich endlich auf sein Zimmer zurückzuziehen, um den am Morgen angefertigten Brief zur Expedition reif zu machen, immer zog es ihn wieder zurück in die Nähe der holden Schwätzerin, deren heller, fröhlicher Stimmenklang mit einem Male anziehender für ihn wurde, als die prächtigste Musik. War es denn wirklich nur der Reiz des Wiedersehens, der ihn so mächtig ergriff, und ihn zu liebevollen Kundgebungen seiner Vaterfreude hinriß? War es denn auch nur der Reiz des Wiedersehens, der Herminens Blicke mit einer wahren Gluth der Begeisterung erfüllte, wenn sie sich strahlend vor Glück in ihres Vaters Arme schmiegte, die er ihr immer von Neuem bereitwillig öffnete?
Endlich riß der Rath sich los und ließ Mutter und Tochter allein. Er nahm denselben Platz wieder ein, den er am Morgen seiner Tochter wegen zu verlassen sich nicht gedrungen gefühlt hatte. Lächelnd dachte er daran zurück. Ein Befremden eigener Art beschlich ihn dabei. Er vergegenwärtigte sich die Minuten voller Genüge, die er jetzt durchlebt und, von dem Strahle heiliger Sympathie getroffen. wach und lebendig genossen hatte. Er fühlte zum ersten Male, wie bitter er gedarbt hatte, wie einsam sein Herz, wie durchkältet sein Gemüth gewesen war. Kopfschüttelnd zergliederte er seine Seelenstimmung, die ihn zu einer Würdigung der töchterlichen Liebenswürdigkeit zwang und ihn gleichsam zum Eingeständnisse eigener Ungerechtigkeit gegen sie aufforderte. Er forschte dem Ursprunge seiner veränderten Vatergefühle nach und kam zu dem Resultate, „daß in Hermine eine wesentliche Umwandlung vorgegangen sein müsse, der er ferneres Gedeihen wünschte.“
Bei diesen Träumereien blieb sein Bericht an den Minister ganz natürlich in derselben Verfassung und wurde nicht zur Post expedirt. Als die hellen Glockentöne der Stutzuhr ihm anzeigten, daß es für diesen Tag zu spät geworden war, warf der gute Herr leichtfertig, wie nie, die Schreiberei bei Seite und beschloß, wieder in’s Familienzimmer zu gehen. Eilig seinen Vorsatz ausführend, trat er gerade durch die halb offen gebliebene Thür in’s Vorzimmer, als Hermine mit etwas bedrückter Stimme die Frage an ihre Mutter that:
„Ist’s wahr, Mama, daß der Vater auf Deinen speciellen Wunsch eine ehrenvolle Berufung nach der Residenz ausgeschlagen hat?“
Die Räthin sah befremdet einen Moment zu der Tochter auf und antwortete schnell:
„Davon weiß ich nichts, kann also keine specielle Wünsche ausgesprochen und geltend gemacht haben. Wer sagte Dir das?“
„Es erzählte „Jemand“ in einer Gesellschaft davon, ohne zu ahnen, daß ich die Tochter des Appellationsgerichtsrathes Braunstein sei.“
„So –“ warf die Räthin gleichgültig ein. „Du widersprachest doch dem Gerüchte?“
„Das konnte ich nicht, ohne mich bloßzustellen,“ antwortete Hermine, sichtlich mit einer Befangenheit kämpfend, die sonst, namentlich ihrer Mutter gegenüber, gar nicht in ihrem Wesen lag. „Man hatte meinen Vater eine „Celebrität“ genannt, und „Jemand“ war so kühn gewesen, ihn für den besten Juristen seiner Zeit zu erklären – nach solchen Lobhymnen wagte ich mich nicht als die Tochter des Appellationsgerichtsraths Braunstein kund zu geben.“
„Warst Du denn der Gesellschaft nicht vorgestellt?“ fragte die Räthin befremdet.
„Ja wohl, aber der Herr, welcher dies mittheilte, war viel später eingetreten. Er mag nachher zu seinem großen Schrecken erfahren haben, daß eine Tochter des Braunstein’schen Ehepaares, das er als ein ganz unpassendes Paar schilderte, Ohrenzeugin seiner Kritik gewesen war.“
„Wie hieß dieser Herr? Kennen wir ihn?“ Hermine ließ geflissentlich die erste Frage unbeantwortet, indem sie lebhaft erwiderte:
„Nein, weder Du noch der Vater kennt ihn, und er selbst kennt Euch Beide auch nicht. Was er von Euch mittheilte, war das Tagesgespräch der Residenz, und hatte sich von oben herab durch alle Kreise verbreitet.“
„Laß sie in der Residenz sprechen, was sie wollen, Hermine,“ fiel die Räthin eilig ein. „Du siehst, daß sie dort eben so gern klatschen und lügen, wie anderswo. Es kann freilich sein, daß Dein Vater einmal wieder „vergessen“ hat, mir etwas mitzutheilen, was immerhin und auf alle Fälle Interesse für mich haben könnte, allein ich will mich darüber nicht weiter grämen und auch nicht darüber etwas vergessen, was mir weit näher am Herzen liegt, als Deines Vaters Berufung nach der Residenz. Hier wie dort hat er keine Zeit für uns – also laß ihn gehen, wohin er will, und beantworte mir lieber die Frage: wie steht es denn mit Deinem Herzen? Du bist einen halben Tag zu Hause, und hast noch nicht nach Bruno von Fahrenhorst gefragt? Was soll ich davon denken?“
„Nichts weiter, Mama,“ entgegnete Hermine mit fröhlichem Tone, „als daß ich ihn vergessen habe!“
Die Räthin sah sie strafend an.
„Keine Leichtfertigkeiten in Herzensangelegenheiten, mein Kind!“ rief sie erzürnt.
„O – Mama, mein Herz hat nie etwas mit Bruno von Fahrenhorst zu thun gehabt,“ erwiderte Hermine, stolz den Kopf aufwerfend. „Du hast mir gesagt, er liebe mich, und darauf habe ich Dir geantwortet: ich aber liebe ihn nicht!“
„Es ist aber mein Wunsch, daß Du seine Gattin wirst,“ sprach die Räthin kurz und heftig.
„Diesen Wunsch kann ich nicht erfüllen!“ erklärte Hermine fest, aber mit sehr sanfter Stimme.
[640] Der Rath Braunstein, immerfort ein unsichtbarer Zeuge des Zwiegesprächs, konnte sich kaum enthalten, in einen Beifallsruf auszubrechen. Er trat so nahe wie möglich an die Thür, um kein Wort von einer Unterhaltung zu verlieren, die ihm einem Einblick in Herzen gestattete, welche er weniger kannte, als die Blauberger Bevölkerung. Sonst gleichgültig gegen das, was Mutter und Tochter zu discutiren hatten, waren ihre Gespräche bis dahin spurlos an seinen Ohren vorübergerauscht, trotzdem er bisweilen dicht neben Ihnen gesessen hatte.
„So muß ich Dich dazu zwingen, mein Kind!“ rief die Räthin mit erhobener Stimme.
„Zwingen – Mama,“ lachte Hermine, „Mich zu einer Heirath mit dem Lieutenant von Fahrenhorst zwingen?“
„Ich habe die Mittel in der Hand!“ drohete die Räthin, ernstlich böse.
„Halt’ ein, Mama! Ehe Du Dich in Deiner Heftigkeit zu tragischen Entschlüssen begeisterst, will ich Dir Geständnisse machen. Ich habe „Jemand“ kennen lernen, der es mir unmöglich macht, eines Andern Gattin zu werden.“
Die Räthin starrte sie erschrocken an.
„Hermine – Du hast Dich verlobt? – Du hast vielleicht dasselbe Schicksal zu erwarten, wie ich?“
Das junge Mädchen schlang in einem Augenblicke vollständiger Ueberwältigung beide Hände zusammen, hob sie mit Inbrundt empor und murmelte kaum hörbar:
„O – wenn ich das hoffen könnte – wenn ich das hoffen könnte – ich wollte gern elf Jahre um ihn dienen und mich seiner würdig machen –!“ Dann ließ sie schnell besonnen die Hände sinken, und rief heiter: „Tröste Dich, Mama – verlobt habe ich mich nicht, werde auch nie darauf hoffen können, dieses Herrn Beifall zu gewinnen, denn er verachtet mich als Mode- und Putznärrin, wie Fama mich ihm genannt hat!“
„Elf Jahre Braut!“ rief während der letzten Worte die Räthin unter einigen Zeichen innerlichen Schauders. – „Du weißt nicht, wie albern Du wünschest. Nein, Hermine, Du feierst nun in kurzer Zeit Deine Verlobung mit Bruno und im nächsten Jahre ist Deine Hochzeit. Das Erbtheil, welches mir von meinem Onkel zugefallen ist, reicht gerade hin, die nothwendige Einzahlungssumme zu schaffen. Daß Du Bruno nicht schwärmerisch liebst, ist mir eine Garantie Deines zukünftigen Glückes.“
„Ich für mein Theil halte Liebe zum Manne für ein Haupterforderniß zur Ehe,“ fiel Hermine sehr gleichmüthig ein.
„Grundfalsche Ansichten, mein Kind! Mein Leben beweist es, daß man durch die treueste Liebe am unglücklichsten wird.“
„Bist Du denn unglücklich, Mama?“ fragte Hermine, halb erschrocken, halb ungläubig.
Die Räthin schlug etwas verwirrt die Augen nieder.
„Ich habe resignirt!“ sagte sie dann mit Pathos „Aber ich will Dich glücklicher wissen. Bruno, mit seiner unaussprechlichen Sorgfalt für Frauen, wird Dich vor dem behüten, was mich elend macht!“ Ein kühles Lächeln Herminens verrieth, daß sie eine andere Meinung von dem weibisch weichen Sinn des Herrn Lieutenant Bruno von Fahrenhorst hatte.
„Glaube mir, mein Kind, und vertraue Du meiner Erfahrung,“ fuhr die Räthin fort, „nur ein Officier ist im Stande, eine Frau vollständig glücklich zu machen, nur ein Officier! Er allein hat den nöthigen Gemüthsfond! – Der Officier allein übt die feinen ritterlichen Artigkeiten gegen das Weib seines Herzens – der Officier allein ist von der Ehrerbietung gegen seine Herzensdame durchdrungen, die uns zu unserm Wohlsein nöthig ist – der Officier allein versteht es, dem Leben seiner Gattin Bedeutung zu verleihen, ihre Stellung zu sichern und seinem Stande gemäß sie in der Welt zu situiren – der Officier allein vergißt über den Pflichten seines Berufes nicht die Gattin, sondern präsentirt sie in dem Lüstre, das sie beanspruchen kann – der Officier allein behält die huldigende Artigkeit bei, die der Verlobte seiner Braut beweiset – der Officier allein hat „Zeit“, sich mit seiner Gattin in den Cirkeln seines Standes zu zeigen! Du wirst es mir erst nach Jahren danken, daß ich für Dein Lebensglück kämpfend auftrete!“
„Liebe Mama, ich danke es Dir schon heute,“ fiel Hermine mit der Stimme der Beschwichtigung ein, konnte aber einen gewissen schelmischen Ausdruck nicht ganz verbergen. „Aber trotz meines Dankes bin ich so undankbar, anderer Meinung zu sein, als Du. Von all’ den schönen Lobpreisungen des Officierstandes hebe ich nur den letzten Passus hervor: „der Officier hat Zeit für seine Frau und deren Vergnügungen“, und setze statt des Wortes „Zeit“ das Wort „Lust“.“
„Verändert dies die Sache?“
„O ja! Nach meinem Dafürhalten ist „Zeit“ und „Lust“ wesentlich verschieden und charakterisirt den Mann. Glaube mir, Mama, wenn Du Dich überwinden wolltest, „Zeit“ und „Lust“ für die Interessen und Vergnügungen meines Vaters zu haben, Du würdest bei Gott keine unglückliche Frau genannt werden können.“
„Welche Ansichten, Hermine! – Was wagst Du zu sagen? Wer hat Dich gelehrt, mich zu tadeln? Willst Du mich böse machen?“ eiferte die Räthin, heftig werdend. „Ich erwarte, daß Du meine Wünsche in Betreff des Lieutenants von Fahrenhorst berücksichtigst, und nun kein Wort weiter über diesen Gegenstand bis zu dem Momente, wo Bruno sein volles Herz gegen Dich ausschütten wird.“
„Mir ist dieser Befehl ganz genehm, liebe Mama,“ erwiderte mit exemplarischer Gelassenheit, die sie jedenfalls von ihrem Vater gelernt hatte, die junge Dame, „aber ich werde in dem Momente seines feurigen Geständnisses dem Herrn Lieutenant mit derselben Offenherzigkeit erklären, daß ich ihn durchaus nicht zum Gatten wünsche, weil ich ihn niemals lieb gewinnen könne.“
„Unverständiges Kind!“ schalt die Räthin. „Aber wir werden sehen, ob Du diesen Vorsatz dem hübschen Freier gegenüber ausführst!“
„Ganz gewiß!“ betheuerte das junge Mädchen.
Die Damen schwiegen jetzt und der lauschende Rath schlicht in sein Zimmer zurück. Er hätte unmöglich mit kaltem Gesichte seiner Tochter entgegentreten können und die tiefe Bewegung seines Innern mochte er doch noch nicht ihrem Blicke preisgeben, da er nicht wußte, ob er sein Gefühl dadurch nicht profanirte. Zu den hervorstechenden Zügen seines Charakters gehörte die Sensibilität. Sich gleichgültigen Augen mit seinen Seelenregungen darzustellen, war ihm zuwider, und wenn er auch die Aeußerungen seiner Tochter günstig für sich auszubeuten berechtigt schien, so blieb doch seine Frau als kühle Beobachterin seiner Herzensrevolution neben ihr.
Aufgeregt betrat er sein Zimmer und ging in unverkennbarer Bewegung mehrmals hastig darin hin und her. Für’s Erste dachte er nur an seine Tochter und sein Herz machte ihm Vorwürfe über die Vernachlässigung, welche er sich rücksichtlich ihrer hatte zu Schulden kommen lassen. Es hatte nur des Hauches der Liebe bedurft, um in ihrer Seele das zu wecken, was ihn stolz auf sie machte, also mußte der echte weibliche Zartsinn nur leise schlummernd in ihr geruht haben und er hatte, in halber Gedankenlosigkeit das Leben verträumend, nie der Mühe sich unterzogen, ihre besseren Gefühle zu erwecken. Eben so klar, wie er fühlte, daß Hermine seiner innigsten Zuneigung werth war, eben so tief war seine Reue und sein Bedauern über die Vergangenheit, die nicht ungeschehen gemacht werden konnte. Aber es lag eine Zukunft vor ihm!
Schnell trat er zu seinem Schreibtische und ergriff das Meisterwerk seiner Morgenstunden, worin er sich gleichsam selbst begraben hatte. Wie ein Wiederauferstandener und in neuer Lebensthätigkeit Aufathmender hieit er das Schreiben an den Minister in seinen Händen. Es kam ihm plötzlich lächerlich vor, daß er sich „zu alt“ für eine Berufsthätigkeit genannt hatte, wie sie ihm von dem Minister dargeboten war. Prüfend durchflog er im Geiste den Kreis der Männer, die für dergleichen Stellungen gewählt zu werden pflegten. War er nicht frischen Geistes? Glühte in ihm nicht die Kraft eines intellectuellen Wesens? Lohnte es sich nicht der Mühe, seine Tochter mit sich hinauf auf eine Höhe des Weltlebens zu ziehen, wo sie, sonnig bestrahlt, glücklich zu werden vermochte? Daß er früherhin, egoistisch seinen Eingebungen nachgebend, dem Rufe nach der Residenz nicht gefolgt war, gereichte ihm weniger zum Vorwurfe, aber wenn er jetzt, nach der Wiederbelebung seines Gemüthes, der Selbstsucht fortgesetzt Folge leisten wollte, so mußte er sich selbst verachten.
Diese Selbstprüfung endete mit einem raschen Entschlusse. Ein Lächeln, das nahe an Humor streifte, flog über seine Mienen, seine Hand zuckte und der Brief, das Opus voll diplomatischer Feinheit, das eine kräftige Zurückweisung aller künftigen Beförderungen enthielt, lag in Stücken vor ihm. Dann setzte er sich nieder und schrieb.
[653] Es kostete dem Rath Braunstein weit weniger Zeit und Mühe, was er jetzt zu Papier brachte. Aus dem resignirenden Manne von zweiundfunfzig Jahren war ein Vater mit Jünglingsmuthe geworden, der sich bereitwillig in den Strom neuer Thätigkeit zu werfen beschlossen hatte, um eine süße Pflicht gegen sein Kind zu erfüllen. Er schrieb in einem Zuge bis er fertig war, dann siegelte er und sendete den Brief fort. In demselben Momente öffnete sich langsam seine Thür und Hermine erschien schüchtern auf der Schwelle. Ihr Blick fragte, ob der Vater Zeit für sie habe. Ein Lächeln voll Wohlwollen und Güte beantwortete diese stumme Frage. Verflogen war der starre Ausdruck gedankenloser Gleichgültigkeit, womit er sonst den Eintritt Herminens begrüßt hatte, verschwunden die zerstreute Hast, mit der er sie abzufertigen sich stets beeilte.
Er streckte ihr die Hand entgegen mit jener überströmenden Freundlichkeit, die mehr als Worte eine Bewillkommnung ausdrücken.
Hermine ergriff die Hand und schmiegte sich an seine Brust. Es war ersichtlich, daß sie ohne Absicht das väterliche Asyl aufgesucht hatte, allein es lag nicht im Plane des Rathes, das vertrauliche Band sogleich ganz festzuknüpfen.
Mit einigen leichten Fragen wendete er das Gespräch auf Gegenstände, die fern von denen waren, welche ihre Herzenswärme auf einen Höhepunkt zu führen vermochten, und nur, als sie von einander schieden, glaubte er, ihr eine Bürgschaft auf seine verbesserte Gemüthsstimmung geben zu müssen.
Er sah dem Töchterchen fest und ernst in’s Auge.
„Möchte das, was heute zwischen uns erwacht ist, nie wieder einschlafen, mein liebes Kind!“ sagte er mit dem Ausdrucke tiefer Bewegung.
„Nie wieder – nie wieder, Vater!“ flüsterte sie innig und legte ihre Lippen mit herzlichem Drucke auf seinen Mund.
Vierzehn Tage waren verflossen. Sie hatten eine wesentliche Veränderung in dem Verhältnisse zwischen Mutter und Tochter entwickelt, die aber nur einem eingeweihten Beobachter bemerklich werden konnte. Es war ein stiller Kampf zwischen ihnen entbrannt, der sich von Seiten der Tochter in consequenter Ruhe hielt, während sich die Räthin Braunstein sehr häufig im Eifer, ihre mütterlichen Rechte aufrecht zu erhalten, vergaß und die Maske der Mutterliebe fallen lleß. Danach sollte man annehmen, daß keineswegs eine behagliche Stimmung im Hause herrschte und dennoch begegnete man Gesichtern, in denen der heilige Friede keimenden Glückes ruhte.
Mit unverwüstlicher Sanftmuth betrachtete Rath Braunstein die Revolutionsstürme seines Hauses, ohne sich im Geringsten daran zu betheiligen. Er genoß den Vortheil, der für ihn daraus entstand, und ließ seelenruhig den Charakter Herminens durch den Wellenschlag der Zeit sich historisch entwickeln.
Den Hauptgrund der kriegerischen Evolutionen bildete natürlich der Herr Lieutenant Bruno von Fahrenhorst, welcher – als erklärter Günstling der Räthin, von der Blauberger haute volée für den Verlobten Herminens gehalten – jetzt der Gegenstand täglicher Debatten sehr unerquicklichen Inhaltes wurde.
Er selbst hielt sich klüglich fern von den Flammen des Streites, der sich seinetwegen entsponnen hatte, nachdem ihn das erste Zusammentreffen mit seiner angebeteten Hermine über ihre Gefühle gegen ihn hinreichend belehrt hatte. Aber er unterließ es nicht, hinter den Coulissen als jammernder Liebhaber zu agiren und das Herz seiner quästionirten Schwiegermama in Bewegung zu erhalten.
Hermine benahm sich ausgezeichnet. Sie betrachtete diese Sache als abgemacht und ihre Anlage zur sarkastischen Kaltblütigkeit gab ihr Waffen in die Hand, denen die sprudelnde Lebhaftigkeit der Mutter nicht gewachsen war.
Aber es war nicht zu leugnen, daß das stille Bündniß mit ihrem Vater dennoch bisweilen sehr nöthig wurde, um die muthige Geduld des armen siebzehnjährigen Kindes aufrecht zu halten. Wenn sie, geängstigt und gequält von den Bitten, Drohungen und Befehlen ihrer Mutter, betäubt gemacht durch die Vorstellungen von Glück in einer Ehe nach deren idealen Ansichten, ihr Auge endlich hülfeflehend auf den Vater richtete, so war sie jetzt sicher, nicht den gedankenlosen, durch Studien zerstreuten Mann, sondern einen stillen Theilnehmer und Beobachter neben sich zu finden.
Der Rath Braunstein hatte sich gründlich gebessert. Mit der Zeitung in der Hand, in welcher er aber nicht las, postirte er sich im Nebenzimmer, wenn die Räthin ihre Ueberredungskünste spielen ließ, und erschien immer so prompt in den Augenblicken, wo Herminens Noth am höchsten war, daß diese bald den treuen Verbündeten in ihm erkannte. Mit seinem Erscheinen dämpfte sich die Gluth der Begeisterung für den Lieutenant von Fahrenhorst und die Räthin ließ den Faden des Gespräches fallen.
Obwohl Hermine sich ihm dadurch zu herzlichem Danke verpflichtet [654] fühlte, so empfand sie doch in der Länge der Zeit einen kleinen Groll über die phlegmatische Ruhe, womit er sich immer wieder dem Fegefeuer solcher Kampfscenen überantwortete. Es hätte ihm doch nur ein festes Manneswort gekostet, um sie von dieser Pein zu befreien – daß er mit seinem Benehmen die Absicht verbinden könnte, sie erst gänzlich von der Einwirkung mütterlicher Principien frei zu machen, um sie dann mit unauflöslichen Banden an sich zu ketten. davon ahnte ihre sorglose Kindesseele nichts.
Die Scenen des Kampfes vermehrten sich aber nach und nach. Es schien gewaltsam eine Entscheidung zu Gunsten des Lieutenants herbeigeführt werden zu sollen und die sonderbaren Irrthümern hingegebene Mutter nahm selbst zu Thränen ihre Zuflucht.
Hermine wurde stiller. Sie schwankte vielleicht nicht, aber sie ermattete im Widerstande. Indem sie erwog, daß der „Jemand“, dem sie ganz willenlos die ersten leidenschaftlichen Regungen ihres jungen Herzens geweiht hatte, unerreichbar für sie war, hob sie die guten Eigenschaften des Mannes, der sich edelsinnig einer directen Bestürmung ihres Herzens enthielt, hervor und prüfte resignirt, ob es wohl nicht am gerathensten sein könne, eine Steigerung ihrer Herzenswärme, die von ihrer erfahrenen Mama in Aussicht gestellt worden war, zu versuchen. „Nur zu versuchen,“ dachte sie in der Sicherheit der Jugend, die sich Titanenkräfte in Herzenskämpfen zutraut und oft dem ersten Angriffe der Eitelkeit erliegt.
Der Einfluß des bürgerlichen und socialen Lebens in einer Stadt, wie Blauberg, ist weit eingreifender, als man anzunehmen gewohnt ist. Die allgemeine Beachtung der jungen Männerwelt ist nicht zu entbehren – das Flüstern guter Freundinnen und ihr unberufenes Lächeln ist nicht zu ertragen – die Sehnsucht nach dem weltlichen Throne befriedigter Eitelkeit ist nicht zu überwinden! Hermine vermochte sich nicht mit eigener Willensstärke über den Einwirkungen des Geselligkeitsstromes zu erhalten.
Der Enthusiasmus für den „Jemand“ begann zu verrauchen. Sie erlaubte es sich schon, den „Jemand“ zu tadeln, daß er seinen jungen Freunden, laut genug, um es in der Gesellschaft überall zu hören, Urtheile über ihre Mutter und über sie mitgetheilt hatte. Zwar wollte der bewundernde Blick seiner schönen dunkeln Augen, den er, auffallend bewegt, immer wieder auf sie heftete, als er, freilich zu spät, erfahren hatte, wer seine Nachbarin sei, seinen bezaubernden Einfluß wieder geltend machen, zwar wollte die sichtliche Huldigung, die in seinem ganzen Wesen sich ausprägte, wieder verführerisch ihre Seele umgarnen; aber – es stand ein Ball bevor, wo sie als Königin der Saison zu glänzen hoffen konnte, ein Ball, der schon im Vorgeschmack ihre Seele zu berauschen fähig war. Sie gab zuerst nur den Befehlen der Mama nach und erklärte sich bereit, diesent Ball unter der Bedingung besuchen zu wollen, wenn der Herr Lieutenant von Fahrenhorst seine heiße Liebe für sie dadurch bewiese, daß er sich ganz kalt gegen sie benähme.
„Albernes Verlangen!“ tadelte die Räthin, im Innern seelenvergnügt über die Modification der töchterlichen Härte und Consequenz. „Heißt das: er soll nicht mit Dir tanzen? Nun,“ fuhr sie fort, als Hermine, von ihren eigenen Stricken gefangen, mit der Antwort zögerte, „nun, so wirst Du unausbleiblich in der Polonaise sitzen bleiben, denn bei der überall anerkannten Bewerbung des Herrn von Fahrenhorst wird es Niemand wagen, ihm den Vorrang abzulaufen.“
Hermine hing das Köpfchen.
Wie? In der Polonaise sitzen bleiben, nachdem sie davon phantasirt hatte, den Ball zu eröffnen? Dieser Gedanke war doch nicht zu ertragen!
Was schadete es denn, wenn sie mit Herrn von Fahrenhorst den Ball eröffnete?
Keck hob sie das gesenkte Köpfchen wieder auf.
„Gut, Herr von Fahrenhorst mag die Erlaubniß haben, mich zur Polonaise zu engagiren,“ entschied sie kurz und ihre Wangen bedeckten sich mit tiefem Rothe.
Die Räthin hielt dies nicht für bedeutungsolos.
„Und den Cotillon?“ fragte sie neckend.
„Den tanze ich gar nicht,“ fiel Hermine hastig ein.
„Unsinn, Kind, Unsinn!“ rief die Räthin. „Du tanzest den Cotillon mit Bruno, und so wahr ich lebe, Du wirst ihn gern mit Bruno tanzen, denn ihr werdet unbestritten das schönste Paar abgeben!“
Hermine sah nachdenklich vor sich nieder. Diese Bemerkung enthielt das Zauberwort, das die kleinen und großen Geister der Eitelkeit aus den Schlupftwinkeln ihres Innern wieder hervortrieb, wohin sie dieselben verbannt hatte. Wie schmeichelnd tönten die Worte „das schönste Paar“!
Aber das junge Mädchen raffte sich heroisch auf. Ihre Erinnerung traf auf einige anders lautende Worte, die ein „Jemand“ ohne Scheu seinen Freunden mitgetheilt hatte. Mit der Kraft des Donners rollten sie an ihrem innern Ohre vorüber: „Der Rath Braunstein zählt zu unsern tüchtigsten Juristen,“ hörte sie deutlich, wie damals, „allein er soll das Unglück haben, eine Gattin und eine Tochter zu besitzen, die seinen Werth keineswegs begreifen, sondern ihren Triumph darein setzen, die größten Mode- und Putznärrinnen zu sein.“
Hatte sie sich nicht insgeheim den Schwur abgelegt, dies harte Urtheil durch ihr ferneres Verhalten zu entkräften? War sie nicht von der wahrhaft edeln Persönlichkeit des ungenirten Kritikers dergestalt bezaubert, daß sie ihm nicht allein nicht zu zürnen vermochte, sondern ihn im Stillen zum Richter ihres Handelns erhob? Gut, was würde er sagen, wenn er im Stande wäre, die Inconsequenz ihrer Handlungen zu beurtheilen? Das junge Mädchen athmete tief auf und sprach beklommen:
„Ich möchte nicht zum Ball gehen, Mutter, ich möchte meinen Entschlüssen treu bleiben – laß mich, störe meinen Frieden nicht, ich will nicht zum Ball! – Ich bitte Dich, mir zu erlauben, daß ich mein voreilig gegebenes Versprechen zurücknehme!“
„Kleine Thörin, wie kannst Du mich und Dich so quälen!“ rief die Räthin, gleich wleder in Hitze gerathend. „Dein Glück ruht in meiner Hand und, glaube mir, dort ruht es sicher. Erfahrung macht klug! Ich werde mein Leben daran setzen, um Dich vor dem Elend zu bewahren, das ich zu tragen hab, und Du wirst es mir danken, wenn Du, gewiegt und berauscht von dem Beifalle der Menge, in den Armen eines Gatten ausruhst, während ich – o, ich Unglückliche – einsam auf der Weltbühne figuriren muß –“
Ein leichtes Geräusch lenkte ihre Aufmerksamkeit nach der Thür und sie sah ihren Gatten auf der Schwelle derselben, mit mitleidigem Lächeln ihre Tiraden bewundernd. Verwirrt erhob sich die Dame. Ihre Exaltation fiel zusammen, wie der hohle Schaum eines abgestandenen Bieres, und sie erwartete beschämt eine Zurechtweisung von dem, welchen sie so eben verurtheilt hatte.
Der Rath Braunstein schritt langsam vorwärts. In seiner Hand schwankte ein offener Brief. Seine philosophische Ruhe trug diesmal einen kleinen Beigeschmack von stolzer Erhebung, als er kaltblütig begann:
„Ich habe so eben meine Ernennung als Vicepräsident des Appellationsgerichtes zu P. erhalten, verbunden mit der Anweisung, mich bis zum 31. October dort einzufinden. Sonach habt Ihr Euch einzurichten, daß wir heute über acht Tage in P. sind.“
Unter dem Aufflammen zornigen Schreckens hatte die Räthin und unter dem nervösen Zittern einer großen und sehr freudigen Ueberraschung das Fräulein diese Ankündigung vernommen.
„In acht Tagen – das ist unmöglich!“ schrie Erstere, ganz beherrscht von der Furcht, ihre lang gehegten Wünsche an diesem unerwarteten Ereignisse scheitern zu sehen.
„Nach P.?“ flüsterte das Mädchen, „nach P.? Vicepräsident in P.?“
In P. stand nämlich der „Jemand“, der sich so unverantwortlich dreist in ihre Phantasie eingenistet hatte, als Assessor beim Appellationsgerichte.
„Es muß möglich sein,“ entgegnete der Rath seiner Gemahlin, während er liebkosend über Herminens heißes Gesicht strich.
„Es ist durchaus nicht möglich,“ replicirte eigenwillig die Räthin. „Ich habe noch viel hier zu ordnen – auch ist heute über acht Tage der erste Ball – es wird am besten sein, Du reisest allein und wir kommen später nach.“
Der Rath warf einen Blick auf seine Gemahlin, der niederschmetternd in ihre Seele drang.
„Wir reisen zusammen,“ erwiderte er dann. „Unsere Möbel und Hausgeräthe vertrauen wir sichern Händen zur Verpackung und Versendung, Kleidung und Wäsche hingegen nehmen wir gleich mit. Wir werden dort so lange Quartier im Gasthofe nehmen, bis wir ein Logis gefunden haben.“
Sprachlos starrte die Räthin auf ihren Mann. So besonnen hatte er in seinem ganzen Leben noch nicht entworfen, was nicht in sein Fach schlug. Was war für ein Wunder geschehen, das [655] solche Umwandlung bewirkt hatte? Einige Momente sah sie in sein offenes und verschlossenes Auge, dann aber brach sie eben so entschlossen und dabei hartnäckig in die entschiedenste Widerrede aus. Sie erklärte schließlich, daß sie überhaupt nicht gesonnen sei, Blauberg ohne Weiteres zu verlassen, da es für sie den Inbegriff aller Lebensfreuden beherberge. Sie sähe nicht ein, weshalb sie eine Stellung verändern solle, die sie genügend beglücke – wolle ihr Herr Gemahl seinen misanthropischen Sinn in andere Welten tragen, so habe sie nichts dagegen, aber sie würde sich mit allen Kräften dagegen auflehnen, Blauberg mit seinen Annehmlichkeiten, wozu sie auch ihr brillant ausgestattetes Haus zähle, aufzugeben.
Nach dieser Relation erwartete die Dame nichts gewisser, als eine Nachgibigkeit, seiner früheren Indolenz entsprechend, von ihrem Gatten. Allein sie irrte. Der Herr Gemahl gab ihr eine Probe, daß er aller Indifferenz in Bezug auf seine Tochter Hermine entsagt hatte und nur Willens schien, sie selbst ihrem Schicksale zu überlassen, im Falle sie sich geneigt zeigen sollte, ihren Kopf aufzusetzen. Die traurig einsame Lebensweise seiner vergangenen Tage war zu vortheilhaft von den Bildern einer heitern Zukunft verdrängt, als daß er nicht Alles daran setzen wollte, um diese Bilder zu realisiren.
Der Rath Braunstein schloß seine Discussion mit der ernst wiederholten Aufforderung an beide Damen, „sich zur Abreise am neunundzwanzigsten October bereit zu halten,“ und machte Miene, nach dieser lakonischen Rede das Zimmer zu verlassen.
Hermine war taktvoll genug, den Abglanz innerer Fröhlichkeit über ein Ereigniß, das wie ein Stern in eine umnachtete Zukunft hineinleuchtete, hinreichend zu verbergen, allein sie empfand plötzlich den Muth, für diese Zukunft tapfer in die Schranken zu treten, als ihre Mutter, über alle Begriffe heftig aufbrausend, ganz entschieden mit dem Vorsatze hervortrat, Blauberg niemals zu verlassen, und sich lieber in eine ewige Trennung von ihrem Gatten zu fügen, als Verhältnisse, in denen sie allein ihre Seligkeit fände, zu zerreißen.
Der Rath sah sie mit ruhiger Hoheit unverwandt an, indeß Hermine sie mit Thränen in den Augen beschwor, ihre Heftigkeit zu mäßigen.
„Ich habe bis dahin des traurigsten Geschickes Last getragen!“ rief die verblendete Frau mit Emphase. „Ich habe mich begnügt – “
„Womit begnügt, Laurette?“ – fiel der Rath rasch ein und störte damit den erhabenen Gedankenflug der armen Räthin gänzlich. Ganz verdutzt gemacht, sah sie zu dem Gatten auf, welcher lächelnd fortfuhr:
„Mit demselben und vielleicht größern Rechte könnte auch ich sagen: ich habe mich begnügt, allein ich will gerechter sein, und die Hälfte der Schuld auf meine Achseln nehmen. Laß uns nicht mit einander rechten, sondern laß uns vergessen, was geschehen ist, und ohne gegenseitige Vorwürfe eine neue Bahn voll friedlichen Glückes suchen. Sieh den Weg dazu im Dasein unserer Hermine –“
„Ganz recht,“ unterbrach ihn die Räthin, etwas gesänftigt. „Eben Hermine ist die Ursache meiner Weigerung, Blauberg zu verlassen. Herminens Glück keimt hier – ich muß diesen Keim pflegen, um ihn zur Blüthe und Reife kommen zu sehen. – Ich bitte Dich deshalb, mir nachzugeben – ja, ich will mein Glück und Wohlsein gern opfern und Dir späterhin folgen – aber für jetzt fordere ich, daß Du allein reisest, daß Du ohne mich und Hermine nach P. übersiedelst. Ich fordere dies von Dir und werde von Deiner Einwilligung meinen Entschluß abhängig machen, fernerhin mit Dir zu leben.“
Eine so bittere Demüthigung mochte der Rath Braunstein, trotz aller Befürchtungen, doch nicht erwartet haben. Das war also das Ende aller romantischen Liebe der Jugendjahre! Dazu hatte er elf Jahre mit Entsagungen aller der Jugendfreuden, die ein junger Mann liebt, verbracht, um nun, nach einer beinahe zwanzigjährigen Ehe, wie eine abgenutzte Waare weggeworfen zu werden? Vielleicht hätte er gütiger und liebevoller verfahren können, um die Erbfeinde seines Eheglückes, Putzsucht und Eitelkeit, zu bekämpfen, aber bei alledem verdiente er es nicht, so schmachvoll aufgegeben zu werden, um einem Schwiegersohne Platz zu machen, der „Zeit und Lust“ dazu hatte, sich in die Regionen einzubürgern, die ein Paradies für die geistige Oberflächlichkeit der Dame bargen.
„Ist dies Dein letztes Wort in diesem traurigen Zerwürfniß, Laurette?“ fragte der Rath gelassen.
„Ja, mein letzter Vorschlag zu einer Einigung!“ rief sie laut und pathetisch.
Der Rath wendete sich zu seiner Tochter, die in fieberhafter Aufregung dicht bei ihrer Mutter stand.
„In eine Scheidung der Ehe in aller Form willige ich für jetzt nicht, bis Deine Mutter zur vollständigen Besinnung kommt und im Stande ist, zurechnungsfähig zu handeln; aber, meine liebe Hermine, eine Entscheidung muß ich auf Dein junges Herz legen, da es sich, nach dem Ausspruche Deiner Mutter, um Dein Glück handelt. Ich frage Dich und warne Dich dabei vor jeder Uebereilung: willst Du bei Deiner Mutter in Blauberg bleiben oder willst Du mit Deinem Vater nach P… gehen!“
„Mit Dir, mein Vater – mit Dir nach P…!“ rief das Mädchen mit dem Accente der zärtlichsten Hingebung, flog auf den Vater zu, und schlug beide Arme um seinen Nacken. Der Rath zog sie fest an sein Herz und trug sie so in seinen Armen hinaus bis in sein Zimmer hinüber, das er sogleich hinter sich verschloß.
Machtlos, einer maßlosen Bestürzung hingegeben, stand die Räthin mitten im Zimmer und sahe ihnen nach. Ihre Blicke irrten dann, wie suchend umher, – sie fand sich allein.
Haß und Groll erwachten in ihrer Brust! Haß gegen den Mann, den sie so lange geliebt – Groll gegen das Kind, welches sie glücklich zu machen gedacht hatte! Auch sie verschloß nun ihr Zimmer und setzte sich rachebrütend, so lange sie heftig war, in eine Ecke des Divans nieder, dann aber, als ihre Aufregung nachließ, weinte sie lange und schmerzlich.
Der Abend dämmerte unterdessen herein. Die letzten Sonnenstrahlen glühten nur noch auf den äußersten Bergspitzen und die Sichel des Mondes schwebte am Himmelszelte gerade den Fenstern gegenüber, aus denen die verlassene Gattin und Mutter zum Himmel emporschauete und Lust hatte, eine blutige Vergeltung auf die Häupter ihrer Lieben herabzubeschwören.
Es klopfte leise an die Thür und eine vorsichtige Hand drehte den Griff derselben versuchend hin und her. Gleich steifte sich Dame Braunstein wieder in Trotz und Widerspenstigkeit auf.
„Aha – jetzt kommt mein Töchterchen, um ihr Unrecht einzugestehen,“ dachte sie und rührte kein Glied, um aufzumachen.
„Mama,“ flüsterte die Stimme ihrer Tochter weich und bittend durch das Schlüsselloch, „Mama – nur einen Kuß, nur einen einen einzigen Kuß – der Vater hat es verboten – aber ich kann nicht anders, ich muß ihm ungehorsam sein! Nur einen einzigen Kuß!“
Die Räthin nickte majestätisch mit dem Kopfe und ihr Blick verrieth, daß sie nicht gesonnen war, diesen erbetenen Kuß alsobald zu verabreichen.
„Mama,“ bat die Stimme weiter durch’s Schlüsselloch. „Nur einmal will ich Dich küssen, nur ein einziges Mal Dir sagen, wie lieb ich Dich dennoch habe, wenn ich auch mitreise –“ die Stimme brach in leisem Schluchzen.
Dame Braunstein hob stolz ihr Haupt, und sah von oben herab, als wollte sie die liebenswürdige Liebeserklärung des kindlichen Mädchens verachten. Die Stimme begann abermals:
„Der Vater kommt – o Mama – behalte Dein Kind lieb – lebe wohl! Auf Wiedersehen –!“
Wie Geisterhauch durchflog das letzte Wort den Raum des Gemaches und durchlschauerte die Dame mit seltsamen Gefühlen. Trotzdem blleb sie noch eine ganze Weile ruhig sitzen und horchte, mit Spottlächeln auf den Lippen, nach der Thür hin.
Es blieb Alles still!
Dann stand sie auf und trat vor den Spiegel, um ihren verschobenen Kopfputz wieder zu ordnen und die Verwüstung zu verwischen, die ihre „albernen Thränen um solche Lappalien“ in dem noch ganz hübschen Gesichte angerichtet hatten.
Ein Poltern auf der Straße, dicht vor ihrem Hause veranlaßte sie, dabei an’s Fenster zu gehen und hinauszublicken. Da stand ihr Diener, und hob mit Hülfe eines Eisenbahnkofferträgers einen Koffer auf den Rollwagen.
Ahnungsvoll riß sie das Fenster auf – dort unten am Ende der Straße verschwanden eben zwei Gestalten – hastig setzte sich der Kofferträger in Galopp, der Bediente sah ihm nach – dann ertönte das Signal der Locomotive – lachend schauete der Diener zu ihr auf und sagte:
„Der Herr und das Fräulein werden gerade noch zu rechter Zeit gekommen sein!“
[656] Behutsam drückte die Räthin ihr Fenster wieder zu und schlug beide Hände vor die Augen.
„Allmächtiger Gott! Mein Mann – mein Kind! Sie sind fort! Sie sind fort!“ flüsterte sie, sinnlos vor Schmerz, und sank zusammen. „Auf Wiedersehen!“ tönte es wie ein Geisterhauch um sie, als sie wieder zur Besinnung kam. Aber die bösen Geister begannen wieder in ihr zu toben und unter dem Trotze eines tief beleidigten Herzens machte sie sich bereit, ihre Zukunft zu bestimmen.
Die Maßregeln des Rath Braunstein waren längst vorbereitet gewesen. Er bezweckte, seine Stellung als Gatte und Vater gründlich zu verbessern, oder dies Verhältniß ganz zu lösen, wenn seine Tochter den Erwartungen nicht entspräche, die er hegte.
Hermine hatte sich bewährt – seine Gemahlin aber mit unverantwortlichem Leichtsinne die heiligen Bande der Ehe geringschätzend behandelt. Er gab sie deshalb noch nicht auf, überließ sie jedoch strafend einer Einsamkeit, die sie entweder läutern oder, was er mit schmerzlichem Bedauern ertragen haben würde – gänzlich verhärten konnte. Ihm blieben noch acht volle Tage bis zum Antritte seines neuen Amtes und er verwendete sie dazu, seine Tochter für großartige Weltanschauungen zu begeistern, um den Keim der Kleinbürgerlichkeit, welche der Selbstüberschätzung Thor und Thür öffnet, in ihr völlig zu ersticken. Er überantwortete sie stillschweigend der Einsicht ihres Verstandes, um diese Angelegenheit seines Herzens zu einer Quelle dauernder Glückseligkeit für sie selbst zu machen. Mit Absicht wählte er einige volkreiche Städte, die sie auf ihrer Reise nach P… berühren mußten, zum Ruhepunkte, führte das junge Mädchen in den großartigen Volksverkehr ein und ließ sie ohne Belehrung selbst erkennen, daß die jämmerliche Effecthascherei des einzelnen Individuums entweder spurlos im Wogen der allgemeinen Interessen untergeht oder vom vernünftigen Theile des Publicums verlacht und verhöhnt wird. Der Begriff von wahrer Menschenwürde brach sich bei diesen kurzen Weltanschauungen Bahn, und nachdem das junge Mädchen erst eine Ahnung von dem außerordentlichen Werthe dieser selbstständigen Würde erhalten hatte, war es ihrem Vater nicht mehr schwer, für die Vollendung ihrer geistigen Cultur mit Wort und Blick zu sorgen.
Am bestimmten Tage langten sie in P… an und nahmen Wohnung in dem ersten Hotel des etwas düstern, fast ehrwürdig ernsten Ortes.
Während der Rath Braunstein sich den Feierlichkeiten seiner Einführung als Vicepräsident unterwarf, schrieb Hermine mit der ganzen Lebhaftigkeit ihrer kindlichen Liebe an ihre Mutter, schilderte die Reise mit ihren belehrenden Erfahrungen, den Vater in seiner Liebenswürdigkeit als Reisegefährte und erklärte ihr, daß nur der Gedanke an den Zorn der Mutter ihre Freuden beeinträchtigt habe. Sie beschwor sie, ihr nicht ferner zu zürnen, berührte aber nichts von der nächsten Zukunft, die Bezug auf eine nachfolgende Uebersiedlung der Mutter haben könne, weil der Vater mit wenigen Worten angedeutet hatte, „daß dies seine Sache sein würde.“ Den Lieutenant von Fahrenhorst erwähnte sie mit keiner Sylbe, weil sie in Wahrheit nicht an ihn gedacht hatte, bat aber schließlich mit der Gluth der Kindeszärtlichkeit um schleunige Beantwortung ihres Briefes.
[669] Diese Epistel übergab sie offen ihrem Vater, als er, etwas angegriffen von der ceremoniellen Scene, aus dem Gerichtslocale nach dem Hotel zurückkam. Mit einer unwiderstehlichen Gebehrde bat sie ihn „um eine kleine, kleine Nachschrift für die Mama“, und als er lächelnd zu willfahren versprach, zog sie sich schleunigst in ihr Zimmer zurück.
Kaum hatte sie die Thür hinter sich geschlossen und der neue Herr Vicepräsident etwas widerstrebend die Feder zur Hand genommen, als der Kellner des Hotels ehrerbietig in’s Zimmer trat und den „Herrn Appellationsgerichtsassessor Windhagen“ meldete.
Frappirt und einen ganz absonderlichen Anlaß zu diesem nicht gewöhnlichen Besuche ahnend, nahm der Vicepräsident den jungen Mann an, der gleich darauf zu ihm eintrat.
Braunstein erkannte ihn sogleich wieder. Er hatte ihn unter dem Personale des Gerichts bemerkt und war einigermaßen bewundernd mehrmals mit seinen Blicken zu ihm zurückgeschweift. Nicht, daß er einer jener schönen Männer gewesen wäre, denen die Mädchenblicke huldigend folgen, aber es lag etwas so Bedeutendes in dem Ausdrucke seiner Augen, in dem kaum bemerkbaren Lächeln seines Mundes, ja selbst in der Haltung des ganzen Körpers, daß er, trotz einiger Unregelmäßigkeiten in den Gesichtszügen, zu den hervorragendsten Männergestalten zählte.
Wie gesagt – der neue Vicepräsident hatte nicht umhin gekonnt, diesen jungen Mann verschiedene Male mit ernstem Wohlgefallen zu beobachten.
Assessor Windhagen schritt dem Präsidenten Braunstein bis zur Mitte des Zimmers entgegen und verneigte sich dann nochmals mit jener Ehrerbietung, die mehr dem eigenen Herzen entstammt, als dem Herkommen gemäß ist.
Braunstein reichte ihm grüßend die Hand entgegen, die der Assessor unter einem Anflug von Erröthen annahm, und sogleich begann: „Der ehrliche Mann, Herr Präsident, wählt stets den geraden Weg! Ihr befremdeter Blick hat mir hinlänglich verrathen, daß Sie es tadeln, mich unter den obwaltenden Umständen noch unter denen zu finden, die künftighin die Ehre haben werden, unter Ihrer Direction zu arbeiten.“
Braunstein unterbrach ihn jetzt rasch mit höchster Verwunderung:
„Mein Blick? Mein befremdeter Blick? – Herr College – hier waltet wohl ein Irrthum ob.“
Der junge Mann hatte aber ziemlich aufgeregt weiter gesprochen: „Ich würde Ihnen unsere Begegnung erspart haben und sogleich bei der Nachricht Ihrer Ernennung zum Präsidenten von hier weggegangen sein, wenn nicht pecuniäre Verhältnisse meinem Vorhaben entgegengestanden hätten. Herr Präsident, ich bin arm, noch unbesoldeter Assessor, und habe meine Existenzmittel bis dahin durch eine bedeutende Remuneration des Justizraths Klemann, dessen rechte Hand in Anwaltsgeschäften ich bin, erworben. Es würde mir unmöglich sein, ohne diese Erwerbung zu leben, und ich kann nicht hoffen, an einem andern Orte, wo ich fremd bin, sogleich eine solche Nebenerwerbsquelle zu finden – deshalb, Herr Präsident, ersuche ich Sie, mir den Aufenthalt für jetzt noch hier zu gestatten oder, wenn Ihnen meine Persönlichkeit ganz zuwider ist, mich auf das Schleunigste mit irgend einem Commissorium zu betrauen, das mich von hier entfernt. Wohin Sie mich senden wollen, ist mir gleich – ich sehe ein, daß selbst die Bergwerke Sibiriens keine zu harte Strafe für meine unverzeihliche und unvorsichtige Offenherzigkeit sein können!“
Voll Erstaunen, aber mit ernster Haltung, hatte Braunstein den jungen Herrn ruhig sprechen lassen, bis dessen Verbeugung ihm bekundete, daß er fertig mit seinem Vortrage war. Dann erwiderte er sehr freundlich:
„Es muß hier ein Irrthum obwalten, mein lieber junger College, aber mir ist dieser Irrthum angenehm, weil er mich sogleich mit Ihnen in nähere persönliche Berührung bringt, die für mich ein Vortheil ist.“
Der Blick des Assessors bewölkte sich, und sein Auge streifte mißtrauisch über die Mienen seines Vorgesetzten hinweg, die mehr Wohlwollen verriethen, als bloße Höflichkeit.
Der Präsident fuhr fort:
„Ich finde trotz meines Nachdenkens keine Veranlassung, Ihre Entfernung, welche unter den mir vorgelegten Gründen ein Exil sein würde, zu wünschen. Sollte sich unter meinem Vorgänger etwas ereignet haben, was diese Maßregel nöthig macht, so muß ich Sie bitten, Ihre Offenherzigkeit ganz ohne Scheu weiter auszudehnen.“
Der Assessor trat einen Schritt zurück und sah ihm fest in’s Auge. Es lag Entschlossenheit, aber es lag auch Ironie in dem Ausdrucke, womit er seinen Blick auf ihn fixirte.
„Sie irren, Herr Präsident! Die Angelegenheit zwischen uns ist eine rein persönliche Berührung –“
„Aber mein Gott – ich habe Sie ja noch nie gesehen!“
„Doch aber gewiß von mir gehört?“
Braunstein sann nach. „Wildenhagen – Wild –“
„Nein, Herr Präsident – Windhagen!“
[670] „Windhagen? Beim Himmel – nein! Nein, niemals!“
Der Assessor wurde glühend roth – er legte die Hand an die Stirn. „Mein Gott, sollte sie zartsinnig genug gewesen sein, dies schauderhafte Rencontre zu verschweigen? –“ flüsterte er betroffen vor sich hin.
„Hat Ihnen Ihr Fräulein Tochter nicht von mir erzählt?“ fragte er dann laut mit dem festen Entschlusse, diese fatale Scene sehr rasch zu endigen.
„Meine Tochter?“ wiederholte der Präsident sehr aufmerksam, und wie ein Blitz durchfuhr ihn der Gedanke: „Aha – der Jemand!“
„Meine Tochter Hermine?“ sagte er nochmals, um nur Zeit zur Antwort zu gewinnen.
„Ihr Fräulein Tochter, Hermine Braunstein, die vor ungefähr sechs Wochen in Volkmersau sich aufhielt –“
„Ganz richtig! Dort waren Sie?“ forschte Braunstein, innerlich jubelnd, denn dieser Mann gefiel ihm über alle Maßen, und er gab schon ohne Weiteres sein Jawort, wenn er sich jemals um Herminens Hand bemühen sollte.
„Nur auf acht Tage in der Gegend daselbst –“
„Ei – so will ich meine Tochter benachrichtigen,“ rief Braunstein schnell einfallend, um fernere Geständnisse zu verhindern.
„Herr Präsident,“ stammelte der arme Assessor, „Sie wissen nicht! – Hat Ihnen wirklich Ihr Fräulein Tochter nichts von der boshaften Unvorsichtigkeit erzählt, womit ich ein unverbürgtes Gerücht öffentlich mittheilte – ein Gerücht, das eine furchtbar schwere Kränkung für Ihre Frau Gemahlin und für Ihr Fräulein Tochter enthielt?“
Der Präsident Braunstein nahm eine andere Miene an.
„Nicht ein Wort hat sie mir gesagt, lieber College! Sie übertreiben wohl! Weiß meine Tochter, daß Sie hier am Appellationsgerichte arbeiten?“
„Ja! Sie weiß Alles! Sie weiß, daß ich von pecuniären Verhältnissen gezwungen bin, hier zu bleiben! Sie weiß, daß ich sonst längst einen andern Plan ausgeführt haben würde. Ich selbst erzählte ihr dies vorher, ehe ich so unglücklich war, sie zu beleidigen – ich erzählte es ihr in der falschen Voraussetzung, eine Schwester meines Freundes, mit dem ich die Reise nach Volkmersau unternommen hatte, neben mir zu haben.“
„So – so! Für Hermine muß Ihre Beleidigung nicht so schrecklich gewesen sein, wie Sie meinen, liebster College,“ erwiderte Braunstein dann sinnend. „Ich dächte, wir ließen die Sache auf sich beruhen, oder“ – er ging so schnell entschlossen nach der Thür des Nebenzimmers, daß der Assessor nicht die geringste Zeit gewann, eine Einwendung zu erheben.
„Hermine,“ rief er im gütigsten Vatertone. „Ein alter Bekannter.“
Das Fräulein erschien ahnungslos auf der Thürschwelle. Ein Blick genügte, um ihre Wangen mit dem brennendsten Rothe zu überziehen, doch schnell gefaßt, trat sie näher und rief:
„Herr Assessor Windhagen! Wer hätte das gedacht!“
„So – so!“ dachte der Herr Papa und gefiel sich plötzlich in der Rolle eines schweigsamen Beobachters.
„Daß Sie mich noch hier finden könnten, nachdem es mir bekannt geworden, wer künftighin mein Präsident sein würde,“ – fügte der junge Mann mit großer Bitterkeit hinzu.
„O – nein, mein Herr!“ stammelte das Mädchen, betroffen zu ihrem Vater aufschauend. „Mein Gott – es weiß ja Niemand,“ sagte sie dann leise, sich sammelnd.
„Sie haben Ihrem Herrn Vater nicht gesagt –“
„Daß Sie ihn für den größten Juristen seiner Zeit halten?“ unterbrach ihn Hermine schelmisch. „Nein – wahrhaftig, das habe ich vergessen – will es aber hiermit nachgeholt haben!“
Der Präsident hätte sie gern in die Arme geschlossen für diese zeitgemäße Schelmerei, verschob es jedoch bis zu gelegener Zeit.
„Fräulein Hermine,“ rief Windhagen in steigender Bewegung. „Sie haben Ihrem Herrn Vater nicht gesagt –“
Mit einer verrätherischen Hast hob Hermine ihren Finger und legte ihn auf ihren Mund.
„Still,“ rief sie unter sprechenden Angstgebehrden. „O schweigen Sie, bitte, bitte, schweigen Sie!“ fügte sie so weich und liebevoll hinzu, daß es einem Kannibalen das Herz gerührt haben würde.
Windhagen ergriff in der Überwältigung ihre Hand, und neigte sich eine volle Minute auf dieselbe. Ob er während der Zeit einen Schwur, des Ritters ohne Furcht und Tadel würdig, geleistet hat, können wir nicht verrathen, aber als er sein Auge wieder emporhob zu dem Präsidenten, der tief bewegt neben den beiden jungen Leuten stand, da glänzte es wie Thau im Sonnenscheine.
„Können Sie es begreifen, Herr Präsident“ sprach er dabei ganz eintönig und ruhig, „daß die Welt dieses Mädchen hier für unfähig erklärte, den Werth ihres Vaters zu erkennen, und daß die Welt Ihre Tochter in die Reihe herzloser Modenärrinnen geworfen hatte?“
Der Präsident wollte um Alles in der Welt die tragische Seite dieses ersten Begegnisses zu verlöschen suchen, deshalb nahm er seine Tochter unter herzlichem Lachen in die Arme und rief:
„Die Welt hatte Recht, lieber College! Meine Kleine war auf dem besten Wege dazu – sie kehrte zu meinem Erstaunen plötzlich um – und ich glaube jetzt annehmen zu dürfen, daß Ihre Offenherzigkeit gerade rechtzeitig gekommen ist, um sie zu curiren. Schweigen wir von nun an über diesen aufregenden Gegenstand, und rechnen Sie auf meine ewige Dankbarkeit!“
Der Assessor empfahl sich, die Brust erfüllt von einem namenlos freudigen Gefühle, dem sich der Stolz über eine errungene Unabhängigkeit beimischte. Er hatte fest und redlich seiner Pflicht genügt, was nun kam, konnte er ruhig abwarten.
Nach seiner Entfernung nahm der Präsident den Brief Herminens an seine Gattin wieder zur Hand. Die junge Dame hatte sich sogleich sehr eilig und sehr leise wieder in ihr Zimmer zurückgezogen.
„Der Mann gefällt mir,“ murmelte er, indem er sich anschickte, dem Briefe ein Appendix anzuhängen. „Besonders gefällt es mir, daß er arm ist. Gewinnt er Vertrauen zu mir und Liebe zu meinem Töchterchen, so habe ich nichts dagegen. Für das Nothwendige muß sein Gehalt ausreichen, und für das Entbehrliche sorgt des Vaters Casse. Mir scheint diesem „Jemand“ eine große Zukunft verliehen zu sein, was könnte sonst meine Blicke wohl so fesselnd zu ihm gelenkt haben? – warten wir ab, ob sich seine Zauberei auch bei meiner Frau Gemahlin bewährt!“
Ein leichtes, zufriedenes Lächeln stahl sich über seine Mienen, und er setzte sich hin und schrieb:
„Ich grüße Dich, Laurette und trete dem Urtheile unseres Kindes bei, daß Du uns auf unserer Reise hierher überall gefehlt. Besonders hätte es mein Entzücken gewiß gesteigert, wenn ich eine Vertraute bei den Beobachtungen des lieben Mädchens gehabt hätte. Ich bin erstaunt, wie sich ihre herrlichen Gemüthsanlagen überraschend entwickeln! Wir sind seit gestern in unserm neuen Wohnorte – ich seit wenigen Stunden in meinem neuen Wirkungskreise, der mich vollständig aus meinem alten Schlendrian herausschälen wird. Es regt sich in mir bisweilen etwas vom Studenten Eduard Braunstein, der seit dreißig Jahren nur einen Wunsch gehabt hat und zwar den, seine Laurette glücklich zu machen. Ich habe mich vielleicht unklugerweise in den Mitteln dazu vergriffen, allein, wie gesagt – der Student Eduard Braunstein hat Lust, seine Carriere nochmals zu beginnen! Ich grüße Dich, gute Laurette!“
Nach diesem herzensguten Briefe verflossen vierzehn Tage, ohne daß die Frau Präsidentin Braunstein die Gewogenheit hatte, ein Wort darauf zu antworten. Während der Zeit war Manches vorgefallen. Es war eine schöne, sehr hübsch gelegene Wohnung gefunden, durch die Bemühungen des Assessor Windhagen. Es war auch ein Wettstreit zwischen diesem Assessor und dem Prasidenten Braunstein entglommen, das junge Fräulein Hermine gleich einer Fürstin zu verehren und ihr unvergängliche Throne im Herzen zu bauen.
Dann war ebenfalls ein Kampf zwischen dem Fräulein und dem Herrn Assessor ausgebrochen, der jedenfalls mit blutendem Herzen enden mußte, wenn sie sich nicht gegenseitig als großmüthige Feinde beweisen und den leidenschaftlichen Kampf der Herzen dadurch stillen wollten, daß sie auf „Auslieferung der zu erkämpfenden Kleinodien“ capitulirten.
Allein dahin waren die jungen Leute noch nicht gelangt. Windhagen ließ nur die brennendheißen Blicke dergestalt spielen, daß Herminens Wangen sich immer stärker unter diesem Feuer rötheten, aber sie wußte dafür ihrem innern neuen Leben so liebliche Worte zu leihen, daß die brennendheißen Blicke bis zum Siedepunkte avancirten und täglich in tragische Redensarten auszubrechen drohten.
Der Präsident wartete der Entwicklung der Dinge mit stoischem Muthe. Daß seine Gattin den Brief der Tochter unbeantwortet [671] ließ, erfüllte ihn mit einiger Bitterkeit und er kam dadurch in die Lage, zweifelhaft zu sein, ob er zu der gemietheten Wohnung Möbel kaufen solle oder nicht. Daß seine Frau es auf eine Ueberraschung abgesehen haben könne, fiel ihm gar nicht ein; um so angenehmer war sein Erstaunen, als er eines Tages seinen ehemaligen Bedienten aus Blauberg in sein Zimmer treten sah, der ihm die Meldung brachte, daß ein großer Transportwagen mit ihm zugleich auf dem Bahnhofe angelangt sei, und daß die gnädige Frau Präsidentin am nächsten Tage mit dem Courierzuge ebenfalls eintreffen werde.
Jetzt erst fühlte Braunstein im vollen Ernste, daß man nicht dreißig Jahre ein Weib lieben könne, um sie dann ohne Schmerzen von seiner Seite zu entbehren. Eine heilige Freude durchzitterte seine Brust und lockte eine Thräne in sein Auge herauf. Mit einer heiligen Freude betrachtete er den Jubel seines und ihres Kindes, das bei dieser Botschaft hoch aufjauchzte und der Zeit Flügel wünschte, die zwischen dem Heute und Morgen lag.
Vater und Tochter entwickelten nun eine staunenswerthe Thätigkeit im Ordnen der neuen Wohnung. Der Assessor Windhagen ward angesteckt von ihrem Eifer. Wie durch überirdische Kräfte befördert, gestaltete sich die Einrichtung in unglaublich kurzer Frist zum vollendeten Ganzen und als der Courierzug am nächsten Tage die Präsidentin Braunstein, zwar etwas ernster, als sonst, aber dennoch gütig und zur Versöhnung sehr geneigt, heranführte, da wurde sie im Triumphe empfangen und in die geschmückten Gemächer geleitet.
Zwischen den Gatten bedurfte es nur eines einzigen festen, versöhnenden Blickes, um diese ganze Störung ihres ehelichen Friedens auf immer zu begraben. Sie hatten erkannt, daß die Bande der Jugendliebe durch die Bande der Gewohnheit ersetzt und unendlich bindender gemacht werden, als man glaubt.
Auf Herminens Seele ruhte noch ein kleiner Druck, der trotz der liebevollen Worte, womit ihre Mutter sie begrüßte, nicht weichen wollte, Sie warf ihn endlich gewaltsam durch die Frage herunter:
„Was macht der Lieutenant von Fahrenhorst, Mama?“
Die Präsidentin lächelte verlegen.
„Er grüßt Euch und läßt Euch seine Verlobung mit seiner Cousine Therese von Fahrenhorst melden, die in wenigen Tagen stattfinden wird.“ Hermine lachte herzhaft.
„Siehst Du, daß er mich nicht geliebt hat!“ rief sie.
„Das kann man doch nicht ganz bestimmt behaupten,“ meinte die Präsidentin.
„O, Mama, ich behaupte es! denn ich kenne Einen, der sich niemals im ganzen langen Leben verloben würde, wenn ich ihn nicht zum Gatten wählte.“
In demselben Augenblicke trat der Präsident rasch in’s Zimmer, an seiner Hand den jungen Hausfreund.
„Assessor Windhagen,“ sprach er, ihn der überraschten Gattin präsentirend.
Hätte die Dame eine Ahnung davon gehabt, daß dieser Assessor Windhagen der „Jemand“ sei, welcher einst den Impuls zu den hartnäckigen Widerstrebungen ihrer Tochter gegeben hatte, so würde sie ihn nicht, von seinem wunderbar gewinnenden Wesen frappirt, so zuvorkommend empfangen haben. Allein Dank der Vorsicht Herminens, sie wußte es nicht und gab sich vollständig zwanglos dem Eindrucke hin, den der junge Mann auf sie machte.
Vier Wochen später feierte man im Hause des Präsidenten Braunstein ein brillantes Verlobungsfest. Die Anordnungen dazu gaben den Beweis, daß Dame Braunstein noch immer der Effecthascherei mit Vorliebe huldigte, allein die junge, frische und fröhliche Braut zeigte sich vollkommen curirt. Ihr Ehrgeiz beschränkte sich nicht mehr auf die kleinlichen Triumphe der Eitelkeit, er hatte seine Flügel zu einem mächtigeren Fluge entfaltet, der als Ziel einen unerschütterlichen Thron im Herzen ihres Vaters und ihres zukünftigen Gatten hatte. Vor phantastischen Einbildungen in Bezug auf ein ungestörtes Glück in der Liebe war sie durch das Beispiel ihrer Eltern frühzeitig bewahrt worden, aber sie hatte auch aus dieser Schule der Erfahrung als Resultat die Gewißheit erlangt, „daß eine echte und wahre Liebe den Grundstein zur Veredelung in sich tragen muß.“ Indem sie die Geistesherrschaft des Mannes als competent anerkannte, machte sie ihr Auftreten auf der Weltbühne abhängig von dem Urtheile desjenigen, den sie liebte, und räumte ihm von vornherein eine maßgebende Obergewalt über ihre innerlichen Regungen ein. Dadurch entging sie auf alle Fälle den Klippen, woran das Eheglück ihrer Eltern beinahe gescheitert war.
Beinahe, sagen wir, denn aus den brandenden Wogen der aufgeregten Gefühlswellen stieg wider alles Vermuthen ein sanftes, stilles Glück empor, das beschwichtigend eine ganze Vergangenheit von zwanzig Jahren mit dem Schleier der Vergessenheit bedeckte.
Braunstein hatte bei der Katastrophe, die eine Wendung seiner häuslichen Verhältnisse herbeiführte, eingesehen, daß selbst die puppenhafte Geliebte seiner Jugend zu seinem Glücke nothwendig war. Ohne es also nur zu versuchen, die alten fehlerhaften Neigungen seiner Frau zu entfernen, war er geneigt, sie eben so „verputzt“ neben sich wieder aufzunehmen, um sie nur nicht ganz entbehren zu müssen. Allein die Frau Präsidentin hatte auch nicht ungestraft die Zeitperiode durchgemacht, welche sie zu isoliren drohte.
In ihrem Innern erzürnt und durchaus entschlossen, ein Leben ohne Mann und Kind zu ertragen, wurde sie mit Erstaunen gewahr, daß nicht ihrer Person die achtungsvolle Auszeichnung galt, mit der sie seither in Blauberg behandelt worden war. Sie begegnete dem Lächeln der Verwunderung, als sie keine Anstalten traf, ihrem Gatten zu folgen, und sie erlitt Kränkungen einer gewissen Zurücksetzung als einzeln stehende Frau, denen sie nimmermehr ausgesetzt zu werden glauben konnte, so lange sie in ihren alten Verhältnissen blieb.
Der Brief ihrer Tochter kam zu rechter Zeit und die Worte ihres Gatten trafen wie Feuerpfeile eine gut vorbereitete Stätte. Sie war nicht so erkältet gegen die schönen Jugendgefühle, die sie zu einer geduldigen Braut gemacht hatten, um nicht in der Verheißung: „der Student Eduard Braunstein hat Lust, seine Carriere nochmals zu beginnen“, den süßen Ton alter Liebe zu finden. Und als sie nun wieder an der Brust dieses Eduard Braunstein ruhte, von seinen Armen umschlungen, von seinem innig treuen Blicke begrüßt? Nun, da fühlte sie, daß sie doch recht glücklich sei, wieder neben ihm leben zu dürfen! Sie fand ihn aufmerksamer und gütiger, als sonst; konnte sie ihm nachstehen in der Besserung?
Willenlos und unbewußt ahmte sie endlich ihrer Tochter nach, die sich von Tag zu Tag inniger an den Vater anschloß, und wenn sie auch nicht im Stande war, dem Vergnügen zu entsagen, das die Siege der Eleganz bereiten, so fand sie doch neben diesen Beschäftigungen hinreichend Muße, sich für das Wohlsein ihres erweiterten Familienkreises zu interessiren. Sie lernte es, die Zerstreutheit und Gleichgültigkeit ihres Gatten zu bannen, und als sie erst bemerkte, daß er für die Gemüthlichkeit eines Familienzirkels „immer Zeit“ hatte, da begann sie das Unrecht ihrer früheren Anforderungen einzusehen.
Die vorrückende Zeit mit der unausbleiblichen Großmutterwürde wird das Werk der Besserung hoffentlich vollenden.