Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
korrigiert  
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Attizist. Rhetor
Band XII,2 (1925) S. 21042106
GND: 100976972
Lesbonax in Wikidata
Bildergalerie im Original
Register XII,2 Alle Register
Linkvorlage für WP   
* {{RE|XII,2|2104|2106|Lesbonax 3|[[REAutor]]|RE:Lesbonax 3}}        

3) Ein Rhetor, Verfasser von drei Deklamationen, die in streng attizistischem Stil gehalten sind (vgl. Kiehr Lesbonactis sophistae, quae supersunt, Leipz. 1907, 14 und d. Komm.) Letzteres ist wichtig für die Bestimmung der Zeit des Verfassers. Es kann nämlich sonach auf ihn mit Recht das Scholion zu Ps.-Luk. de saltatione § 19 (p. 189, 11 R 69) bezogen werden, in welchem von einem L., den der Scholiast mit dem bei Ps.-Luk. genannten identifiziert, berichtet wird: οὗ καὶ ἄλλαι μελέται ῥητορικαὶ φέρονται θαυμάσιαι καὶ ἐνάμιλλοι Νικοστράτου καὶ Φιλοστράτου τῶν ἐν τοῖς νεωτέροις σοφισταῖς διαπρεπόντων, μάλιστα δὲ αἱ ἐρωτικαὶ ἐπιστολαὶ πολλὴν τὴν ἐκ τῶν λόγων ἀποστάζουσαι ἡδονήν. Wenn uns auch das ἐνάμιλλοι vielleicht kein Recht gibt, L. in ein engeres zeitliches Verhältnis zu Nikostratos und Philostratos zu setzen, so stimmt das Scholion doch ausgezeichnet zu der durch den Stil der erhaltenen Reden gerechtfertigten Annahme, daß der Verfasser der zweiten Sophistik angehöre. Ps.-Lukian erzählt aber an der Stelle, auf die sich das Scholion bezieht, nachdem er die günstige Einwirkung des Tanzens auf Körper und Geist hervorgehoben hat, folgendes: τὸ δὲ μέγιστον ἡ σοφία τῶν δρωμένων καὶ μηδὲν ἔξω λόγου. Λεσβῶναξ γοῦν ὁ Μυτιληναῖος, ἀνὴρ καλὸς καὶ ἀγαθός, χειροσόφους τοὺς ὀρχηστὰς ἀπεκάλει καὶ ᾖει ἐπὶ τὴν θέαν αὐτῶν ὡς βελτίων ἀναστρέψων ἀπὸ τοῦ θεάτρου. Τιμοκράτης δὲ ὁ διδάσκαλος αὐτοῦ ἰδών ποτε ἅπαξ, οὐκ ἐξεπίτηδες ἐπιστά, ὀρχηστὴν τὰ αὐτοῦ ποιοῦντα ,οἵου με’ ἔφη ,θεάματος ἡ πρὸς φιλοσοφίαν αἰδὼς ἀπεστέρηκεν‘. Danach würde also L. aus Mytilene stammen und hätte einen gewissen Timokrates zum Lehrer gehabt, der wohl, wie Rohde 34l, 3 annimmt, mit dem Philosophen gleichen Namens aus Heraklea (Luk. Alex. 57), dem Lehrer des Demonax (lebte ca. 90 bis ca. 190), nach Luk. Demon. 3 und des Polemon (ca. 85 bis ca. 141), nach Philostr. v. s. I 25, 5. identisch ist. Hingegen gibt uns die Ps.-Lukianstelle keinen Anhaltspunkt zu einem Schluß auf den Beruf des L. Die Annahme Rohdes, der dort erwähnte L. müsse gleich seinem Lehrer Philosoph gewesen sein, findet in der Anekdote keine greifbare Stütze, weshalb wir auch keinen Grund haben, mit Rohde an einen Irrtum des Scholiasten zu denken und darum den L. bei [2105] Ps.-Lukian und den im Scholion genannten als voneinander verschiedene Personen zu trennen. Das Scholion geht übrigens auf einen Freund und Kenner der zweiten Sophistik zurück, nämlich auf Arethas, im J. 914 Erzbischof von Caesarea (vgl. E. Maass Observationes palaeographicae, Mélanges Graux, Paris 1884, 759ff., bes. 783, 5. R. Müller 101ff.).

Ganz ungewiß ist es, ob man zwei an einen L. adressierte Briefe, die uns unter den Briefen des Apollonios von Tyana erhalten sind (ed. Kayser p. 48 und 55; Epistologr. Gr. p. 114 und 122 Herch.), zu unserem L. in Beziehung bringen darf. Aus den Briefen ist über die Person des Adressaten nichts zu entnehmen; ihre Echtheit wird übrigens angezweifelt: vgl. Baur Apollonius v. Tyana u. Christus usw. 102 (ed. Zeller 99). Kayser Praef. ad vit. Apollon. V. Westermann De epistularum scriptoribus Graecis II 15. R. Müller a. a. O. E. Norden Agnostos Theos 1913, 337ff.

Was die schriftstellerische Tätigkeit des L. anlangt, wäre außer der Nachricht des Scholiasten von den μελέται ῥητορικαί und den ἐπῳτικαὶ ἐπιστολαί (bezüglich letzterer vgl. Rohde) noch die Bemerkung des Photios bibl. cod. 74 p. 52 A zu beachten, es seien von ihm Λεσβώνακτος λόγοι πολιτικοὶ δεκαέξ gelesen worden.

Von den erhaltenen drei Deklamationen ist die erste in den Hss. betitelt: Πολιτικὸς περὶ τοῦ πολέμου τῶν Κορινθίων. Kiehr nennt sie bloß Πολιτικός, Reiske vermutet Θηβαίων statt Κορινθίων. Die Rede wird nämlich nach der ihr zugrunde liegenden Fiktion (vgl. § 4), vermutlich bald nach der Eroberung von Plataiai durch die Thebaner im J. 373 v. Chr.‚ schwerlich, wie Kiehr 6 (ebenso Christ-Schmid II⁵ 549) annimmt, nach der Zerstörung von Plataiai im archidamischen Krieg im J. 427, gehalten, und zwar von einem Athener in der Absicht, seine Mitbürger zu einem Rachezug gegen Theben zu bewegen. Sie ist allem Anschein nach in die gleiche Situation hineinkomponiert, wie der Plataikos des Isokrates, durch den sie auch in der Diktion stark beeinflußt ist, vgl. R. Kohl De scholastic. decl. arg. ex hist. petitis, Rhet. Stud. hg. von Drerup, 4, 53f. Da die Rede der im Prooemium gegebenen Ankündigung, der Redner werde über den bevorstehenden Krieg καὶ τῶν ἐν ὑμῖν ἀεὶ λέγαιν εἰωθότων, ὡς χρὴ τούτων ἕκαστα πράττειν sprechen, nur bezüglich des ersteren gerecht wird, vermutet Kiehr 6, daß sie uns unvollständig überliefert wäre, was allerdings, da ja der Wortlaut der eben zitierten Stelle zweifellos nicht ganz in Ordnung ist (s. Kiehr 38f.), etwas gewagt erscheint. Einen anderen Versuch zur Lösung der Schwierigkeit macht Kohl 54. Die zweite Rede, nach einigen Hss. Προτρεπτικός genannt, ist wohl als Ansprache an Krieger vor dem Kampfe gedacht. Eine Anspielung auf bestimmte Verhältnisse ist nicht enthalten. Der abgerissen klingende (nicht wie Kiehr 46 zunächst meint), als überflüssig erscheinende Schluß (vgl. die Parallele: p. 27, 6. 32, 19 und 32, 21. 36, 15 K.): ὑπομιμνήσκω δὲ ὑμᾶς, ὅτι καὶ τὰ ἱερὰ ὑμῖν καλὰ γέγονεν, läßt wohl Kiehrs Verdacht begründet erscheinen, daß hier in der [2106] Überlieferung etwas verloren gegangen ist, worauf auch die angeführte Parallele hindeutet. Bezüglich der auf dem Gesichtspunkt des ἀγαθόν begründeten Argumentation vgl. W. Schmid Rh. Mus. LIX (1904)‚ 519. Christ-Schmid-Stählin II⁵ 2, 549. Die dritte Rede, von Kiehr gleichfalls Προτρεπτικός betitelt (Ἔτι τοῦ αὐτοῦ περὶ τῶν αὐτῶν cod. A; ähnlich, aber verderbt B; keine Überschrift in M, L, Z, wo or. II und III überhaupt nicht getrennt werden [Kiehr 32, ferner 3. 8. 46]), ist eine Ansprache an die Athener vor dem Auszug zu einem Kampfe gegen die Lakedaimonier. Vorausgesetzt wird offenbar die Situation vom J. 413 v. Chr., als die Lakedaimonier die Sklaven der Athener gegen ihre Herren zum Kampf aufgewiegelt und Attika nach der Besetzung von Dekelea verwüstet hatten.

Die erste Rede unterscheidet sich von der zweiten und dritten im Gebrauch des Artikels und in der Zulassung des Hiates (Kiehr 8. 12). Die erstere ist in diesen Punkten streng attisch, die beiden letzteren dagegen freier gehalten, was wohl, wie Kiehr mit Recht vermutet, in der Verschiedenheit des Genus begündet ist. Im übrigen enthalten die Reden, wie Kiehrs Kommentar zeigt (vgl. auch S. 14), allenthalben Reminiszenzen an die großen attischen Redner und Schriftsteller; für die erste scheint namentlich der Plataikos des Isokrates Vorbild gewesen zu sein, s. o. Von einer vorwiegenden Nachahmung des Thukydides, wie Schmid Der Attizismus 1887–1897, II 9) meint, kann nicht gesprochen werden. Über die Klauseln bei L. vgl. Heibges De clausulis Charitoneis, Diss. Münster 1911, 94ff.

Überliefert ist L. unter den kleineren attischen Rednern. Über die Hss. und die älteren Ausgaben orientieren Jernstedt Ausgabe des Antiphon, Petersburg 1880. Blass Ausgabe des Antiphon², Leipz. 1881. Kiehr a. a. O. 1ff. Zu letzterem vgl. Radermacher D. Literatur Ztg. 1908, 412. Drerup [Ἡρώδου] περὶ πολιτείας 1, 1.

Die wichtigsten Ausgaben: Editio princeps: v. Aldus u. Andreas, Venedig 1513. Orelli 1820, erste Sonderausgabe des L., verdienstvoll wegen der Zusammenstellung der kritischen und erklärenden Anmerkungen der Herausgeber bis auf seine Zeit, so des Canter, Stephanus, Reiske, Jacobs u. a. Bekker Oratores Attici V., Oxford 1824 (verwertet zum ersten Male fast sämtliche vorhandenen Hss., während seine Vorgänger bloß auf L [Marcianus app. class. VIII 6] fußen). O. A. Dobson IV., London 1828 (zieht zum ersten Male M [Burneianus 96] heran). Neue Sonderausgabe von Kiehr (s. o. ‚ enthaltend außer Besprechung der Hss. und Ausgaben, Text und Kommentar, Analysen der drei Reden, einen Abschnitt über Sprache und Stil (in der Art von Schmids Attizismus), einen anderen über den Autor, seine Zeit und Werke und einen Wortindex (dazu Radermacher a. a. O. Lehnert Berl. philol. Wochenschr. 1909, 69f. Münscher Bursians Jahresb. CXLIX 43].

Zur Textkritik s. Dobree Adversaria in L., ed. Dobson IV p. XX. Radermacher Rh. Mus. L (1895) 137ff.