Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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Iulius Severianus, Verfasser eines rhetor. Lehrbuchs für die Advokatenpraxis
Band X,1 (1918) S. 805811
GND: 102396671
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481) Iulius Severianus. Unter diesem Namen sind Reste eines rhetorischen Lehrbuchs für die Advokatenpraxis erhalten (jetzt am besten zugänglich bei Halm Rhetor. lat. min. 353–370), das von dem Verfasser selber in der Einleitung 355, 3ff. als Auszug aus ,den Alten‘ bezeichnet wird; danach lautet der hsl. Titel praecepta artis rhetoricae summatim collecta de multis ac syntomata a Iulio Severiano (syntomare Mißbildung aber richtig; vgl. epitomare und syntomator). Dagegen sagt die Kölner Ausgabe vom J. 1569, die Sixtus a Popma besorgte: Aurelii Cornelii Celsi de arte dicendi libellus. Für die Autorschaft des Celsus hat sich bereits G. Leopardi eingesetzt (s. Jahrb. f. Philol. Suppl. VI 280ff.), und seitdem F. Marx (Berl. phil. Wochenschr. X 1008) und R. Reitzenstein (Philol. LVII 54ff.) unter Heranziehung Quintilians lehrten, daß im Text Celsus sicher zu fassen ist, stehen wir vor einem interessanten Problem. Woehrer (De A. Cornelii Celsi rhetorica, Diss. phil. Vindobonenses VII 92ff.) gab das Büchlein für eine Epitome des Celsus aus, und ihm hat neuerdings W. Schäfer beigepflichtet (Quaest. rhetoricae, Diss. Bonn. 1913, 8). Es empfiehlt sich, die Gesamtanlage kurz durchzusprechen und Punkt für Punkt das Nötige in bezug auf die Quellenfrage in aller Kürze zu bemerken.

Inhalt und Quellen. Der Autor beginnt mit einer Darlegung des Zwecks seiner Arbeit; sie bringe nichts Neues, sei ein Kompendium und solle der Auffrischung des Gedächtnisses dienen; memento tamen non ante tibi haec esse conpendia relegenda quam ingenium tuum multa ac Tulliana arte subegeris. Zu dem Hinweis auf Cicero stimmt, daß der Verfasser nachher nur ihm Beispiele entnimmt. Vom Redner wird geistige Begabung und körperliche Eignung gefordert. Lektüre von Rednern, Geschichtschreibern, Dichtern, nicht zu große Vertiefung ins bürgerliche Recht, weil allzuviel Gelehrsamkeit der Eleganz und dem Temperament schädlich sei. Man soll gute Sprecher hören und selbst fleißig üben. Entsprechendes liest man bei Cicero und Quintilian (Schäfer 22ff.); die Grundanschauung ist rhetorisches Gemeingut, charakteristisch der Ausschluß der Philosophen aus der Lektüre (Rh. Mus. LIX 529ff.). So weit geht auch Quintilian nicht. Es heißt Quintilians Urteil bedenklich [806] unterschätzen und z. B. seine genaue Kenntnis Ciceros sowie die gesamte Literatur περὶ μιμήσεως einfach ignorieren, wenn Woehrer und Schäfer die Meinung vertreten, Quintilian habe ebenso wie Severian das alles nur aus Celsus. Aber die bei Severianus folgende Definition der Rhetorik und ihres Ziels ist die des Celsus (Quintil. II 15, 22. 32). Dann kommt eine bemerkenswerte Erörterung: soll der Redner Attiker oder Asianer sein? Die Antwort, von Reitzenstein aus Amerbachs Exzerpten ergänzt (s. u.), ist immer noch verstümmelt, läßt aber eine vermittelnde Stellung der Quelle vermuten, was im Sinne Ciceros ist (Reitzenstein 57 Anm.). Gegen die von Severian vertretene Auffassung des Attikers polemisierte schon Quintilian (XII 10, 21). Severian findet die Rücksicht auf Charakter, Stellung und Interesse des Richters, der in Privathändeln stets Eile habe, für das Genus orationis entscheidend, wie vor ihm Cicero und Quintilian (Cic. libr. rhet. frg. 6 H. Quintil. XII 10, 56) und endet mit dem schon isokratischen Gemeinplatz, man müsse achtgeben, quid personae, quid loco, quid tempori conveniat (entsprechend z. B. Quintil. XII 10, 70. Rh. Mus. LXIX 87ff.). Hier ist zuviel Gemeingut der Rhetorik, um mit Sicherheit auf eine bestimmte Vorlage zu schließen. Völlig abrupt folgt ein Abschnitt über die Anordnung der crimina, und in ihm ist Celsus als Grundlage zu erkennen (Woehrer 93). Aber was will eine Erörterung, die zur dispositio gehört, hier an dieser Stelle, vor der Auseinandersetzung über prooemium, narratio, argumentatio? Es gibt nur eine Antwort: die Quelle, der Severianus folgt (und das ist hier allerdings Celsus), hatte wie Anaximenes κατηγορία und ἀπολογία getrennt behandelt und zwar die κατηγορία dem natürlichen Verlauf entsprechend an erster Stelle; dann ist freilich bei Severian von jenem ersten sachlichen Teil des benützten Lehrbuchs, von der Behandlung der Anklage, nur ein kümmerlicher Rest geblieben. Er tut weiter das Prooemium mit einem einzigen Satze ab: de principiis nihil putavi dicendum, quando quidem ad ea, quae arte servanda (d. h. soviel wie observanda; es ist Vulgärlatein) sunt, natura duce saepius pervenitur, aber dieser Satz ist merkwürdig als Bekenntnis zur naturalis eloquentia (Quintil. XII 10, 40ff. Caecil. frg. 103. Ofenl. 126 a. Rh. Mus. LIV 364f.). Das nihil dicere stimmt nicht zu Celsus, der über das Prooemium nach Ausweis der Fragmente einiges gesagt haben muß. Der folgende Abschnitt über die narratio ist schlecht disponiert und zeigt das Bestreben, nur praktische Ratschläge vorzutragen. Er beginnt mit der Behandlung der praecepta communia; zugrunde liegt die alte isokratische Forderung der drei Eigenschaften Deutlichkeit, Kürze, Wahrscheinlichkeit: die angehängten Erläuterungen (–358, 9) sind gegen Ende ziemlich durcheinandergeworfen; als Abschluß stehen Anweisungen über die Stellung der Erzählung innerhalb der Rede. Die Zusammenstellungen Woehrers (142f.) verraten nicht einmal mit Quintilian besondere Übereinstimmung im Vergleich zu anderen Technikern (Schäfer 26f.), die Woehrer doch auch hätte beachten müssen, ehe er die Folgerung zog, der erfahrene [807] Praktiker Quintilian habe in diesen Sachen, die zum Gemeingut der Rhetorik gehören, wie natürlich auch Severian, den Celsus abgeschrieben (s. zur brevitas noch Anaxim. 72, 19 H. Walz VII 730, 2, zur Stellung Dionys. de Isaeo 15). Nun folgen bei Severian Erörterungen über Fälle, wo eine Erzählung überflüssig ist; damit verbindet sich neuerdings die Frage nach der Stellung der Erzählung. Nur die ἀπολογία kommt in Betracht und Celsus ist Quelle (Reitzenstein 55. Woehrer 93). Am Schluß erscheinen Bemerkungen zur Definition der narratio, die man eher zu Anfang erwartet. Celsus ist greifbar (Reitzenstein 55). Der kompilatorische Charakter des ganzen Abschnitts liegt auf der Hand. Die anschließende Auseinandersetzung de disponendis argumentis geht parallel mit den früheren Bemerkungen de disponendis criminibus; das einzige literarische exemplum (359, 27) stammt aus der ἀπολογία; in der Umgebung ist Celsus als Quelle zu fassen (Woehrer 93. 149. Schäfer 31). Zu Anfang des Abschnitts geht Severian einer Auseinandersetzung über die Topik mit der resoluten Bemerkung aus dem Wege, die Prozeßparteien versorgten die Anwälte mit Argumenten; im weiteren Verlauf bringt er einen fingierten Fall: occidisti hominem; cruentam enim vestem habuisti ähnlich wie Quintil. V 12, 3, aber in abweichender Behandlung; denn er dient ihm einzig zur Charakteristik des εἰκός, während Quintilian daran demonstriert, daß das gleiche Indicium für die Beweisführung ganz andere Bedeutung hat, je nachdem es von dem Angeklagten ohne weiteres zugegeben oder ihm trotz seines Leugnens nachgewiesen wird. Nachher folgt bei Severian noch der alte Satz, der Redner müsse verstehen, die Rede lang oder kurz zu machen. Überall fehlen hier die Handhaben, um einen Schluß auf die Quelle genügend zu begründen. Das Kapitel de propositione adversarii ließe sich am besten aus Apsines c. 6 und 7 kommentieren, den schon Schäfer heranzog; bei jenem Theoretiker liegt vor allem der Gedankenzusammenhang klar zutage, der in der kompendiösen Darstellung des Severian schwer greifbar ist. Es ist also eine geschlossene Lehre, und ganz anders liest sich Quintilian (V 13), bei dem zwar gleiche Gedanken auftauchen, jedoch vermischt mit Neuem in anderer Ordnung. Um so merkwürdiger ist, daß die von Severian gebrachten illustrierenden Cicero-Beispiele mit Quintilian stimmen, doch hat Severian ein Mehr, wie auch in der Theorie einzelnes, das bei Quintilian fehlt. Der Schluß auf eine gemeinsame lateinische Vorlage Quintilians und Severians liegt nahe, in der griechische Theorie mit ciceronischen Beispielen erläutert wurde. Nun gelangt bei Severian an einer Stelle, wohin sie wirklich nicht gehört, die Statuslehre zum Worte. Gerne hätte man ja früher schon etwas über die inventio erfahren; daß ihr ein Platz zwischen der Widerlegung des Gegners und der Affektenlehre gegönnt wird, muß wundernehmen. Während Celsus von Quintilian ausdrücklich in der Liste derjenigen Lehrer angeführt wird, die nur zwei Grundstatus anerkannten, beginnt Severian: status tres sunt und läßt dann in engem Anschluß an Cicero park or. 29, 101ff. (Schäfer 20) die Erklärung von coniectura [808] finis qualitas folgen; hier kann doch nicht Celsus reden, wie schon Reitzenstein hervorhob. Im Widerspruch zu der anfangs gegebenen Definition des status finalis schreibt Severian zu Beginn der speziellen Behandlung dieses Status (363, 2): in finitivo statu quaeritur an sit, und das ist, wie Woehrer (94f.) richtig aus Quintilian zeigte, die besondere Auffassung des Celsus gewesen. Dagegen alle weiteren Bemerkungen über den status finalis berühren sich, wie Halm bemerkt und Woehrer zuerst ausführlicher dargelegt hat, mit Cic. de inv. II 17, 53. 18, 55 so eng, daß dort ihre letzte Quelle gesucht werden muß: wie Woehrer meint, durch Vermittlung des Celsus. Wie kommt es dann 1), daß Severian die Behandlung von finis und coniectura trennt und selbständig durchführt, während Celsus finis unter die coniectura einbegriff?, 2) daß Severian gleich im Anfang der Behandlung von finis, nachdem er die Celsus-Definition vorgetragen, doch in das gewöhnliche Fahrwasser einlenkt? de vi nominis quaeritur geht auf quid sit, wie die übliche Bestimmung der Rhetoren lautet, nicht auf an sit. Schäfer (58) löst nicht die Schwierigkeit. Mit ihr hängt zweifellos zusammen, daß Severian in aller Seelenruhe zwei verschiedene Definitionen des status finalis gibt, 361, 12 die übliche, 363, 2 die des Celsus. Wer die Sachlage frei von jeder Zuneigung für die eine oder andere Entscheidung betrachtet, kann an der Benutzung zweier Quellen zuletzt nicht zweifeln. Da die Erörterung über den Status finalis (363, 2ff.) in einem Falle die ciceronische Anordnung der Argumentation umkehrt (gut Schäfer 18f.), da zur Erläuterung ciceronische Reden herangezogen werden und zum Schluß noch ein Rat gebracht wird, der den Begriff der translatio selbständig umfaßt (364, 1), so ist ein Mittelsmann zwischen Cicero und Severian anzunehmen, doch dürfte es eben nicht Celsus sein. Die Ausführungen über den status coniecturalis decken sich im ganzen und großen mit Cic. de inv. II 16 und Quintil. VII 2, 27–50, am Ende aber fällt der Satz auf (362, 21): argumentorum omnium enumerationem advertite studiosam videri, quando quidem in his plus ingenii vis dominetur arsque ipsa magis ab natura profecta videatur. Severian hat eine ähnliche Äußerung schon bei der Behandlung des Prooemium gemacht, und die von uns dort zur Sache gegebenen Belege dürften zeigen, daß die Anerkennung der natura dux attizistisch ist; die von Severian aufgeworfene Frage (s. o.), ob der Redner Attizist oder Asianer sein solle, scheint in diesem Zusammenhang an Bedeutung zu gewinnen. Der wichtigste status, die qualitas, wird von Severian mit 15 Worten abgetan; wenn irgendwo , ist hier der subjektive Eindruck gegeben, daß der Text in späterer Zeit verstümmelt worden ist. Sehr ausführlich wird die Lehre von den Affekten behandelt, die wohl dem persönlichen Geschmack des Verfassers entsprach. Benutzung von mindestens zwei Quellen ist greifbar. Zuerst wird für die Erzählung die Frage verhandelt, ob und wo man vom Pathos Gebrauch machen soll. Man soll nur ausnahmsweise pathetisch werden, soll um der Affekte willen nicht Form und Gestalt der Erzählung sprengen, sed adfectus qui [809] in narratione latebit, eadem explicita reddendus erit atque exsequendus d. h. erst nach Abschluß der Erzählung. Neben den Ausdruck adfectus qui in narratione latebit stelle man die Schilderung des Attizisten 356, 12 breves adstrictique et acres sunt pure inter res ipsas aculeosque versantes quique adfectum ex occulto petunt. Es ist also anscheinend ein Attizist, von dem Severian diese Vorschrift über das Pathos in der Erzählung bezieht. Nun folgt aber bei ihm ganz unvermittelt eine andere Lehre. Man darf die loci communes, quos etiam adfectus vocamus, nicht an den Schluß stellen, sed (ich schreibe die bei Halm 364, 15 schlecht interpungierte Stelle aus) haec narratio gravissimi criminis erit, in qua cum se primum adfectus optulerint, statim interponendi sunt, neque enim possunt simul omnes post narrationem reddi: ut est, und nun folgt ein Beispiel aus Cicero. Auch in der Frage der pathetischen Argumentation streiten bei Severian der Attizist, wie wir ihn zu nennen uns erlaubten, und der andere Gewährsmann (365, 5ff.). ,Affekte gehören nicht in die Beweisführung, sondern in den Epilog. Die Beweisführung ist ethisch, der Epilog pathetisch.’ So der eine, dagegen der andere: die Affekte, qui ex quaestionibus nascuntur, gehören an die Stelle, wo sie entstehen, dagegen die Affekte, qui de omni causa nascuntur, perorationibus reservabuntur . . . Cicero sane per omnem orationem adfectum inserit. Auch die Topik der Affekte ist bei Severian eine doppelte. Zunächst wird (365, 21ff.) der Stoff geteilt und verhandelt nach der Art der Leidenschaften (ira, odium, misericordia usw.). Die Ordnung der Darlegung ist stark verwirrt und wird von Schäfer (13ff.) gewaltsam eingerenkt; über Beziehungen der Lehre zu Cicero, Quintilian, Cornutus, Aristoteles Schäfer 51f. Dann wird 367, 6ff. nach den περιστάσεις: res, persona, causa usw. geteilt. Daran sind weiter Vorschriften über αὔξησις (368, 29) und μείωσις (369, 25) der Affekte angehängt, die, wie zuerst Reitzenstein 59 zeigte, so auffallend mit Quintilian übereinstimmen, daß entweder dieser selbst oder eine gemeinsame Quelle abgeschrieben sein muß; daß dies Celsus sein könnte, ergibt sich aus Quintil. III 7, 25 (vgl. Aristot. rhet. A 9 p. 1368 a, 27). Doch der Zusammenhang zwischen der Lehre von der αὔξησις und μείωσις wird (369, 15–25) durch eine Einlage unterbrochen, in der (Schäfer 21. 50) der Einfluß von Cic. de inv. und part. or. unverkennbar hervortritt, und hier redet nun wieder derselbe Mann, der vorhin Affekte und loci communes gleichgesetzt hatte (vgl. 364, 14 und 369, 17) und sich andauernd auf Cicero berief. So lassen sich zwei oder drei Gewährsmänner reinlich voneinander scheiden; mit dem, was wir zunächst einem Attizisten gaben, scheint in Verbindung zu stehen der Passus, in dem die Topik nach einzelnen Affekten abgehandelt wird (s. 364, 10ff.); dazu kommt der Abschnitt über αὔξησις und μείωσις, bei dem Celsus als Vermittler hervortrat Das übrige, wohl in sich geschlossen, gehört einem ,Ciceronianer’. Die Bemerkungen über den Epilog sind zu kärglich und allgemein, als daß aus ihnen (trotz Woehrer 151) ein Schluß auf die Quelle gezogen werden dürfte. [810]

Im allgemeinen ergibt sich aus unseren Darlegungen: 1. Für die Komposition des Ganzen, daß die Statuslehre an falscher Stelle steht. Auch sonst ist die Ordnung nicht immer die beste. Auffallend wirkt die ungleichmäßige Behandlung des Stoffs, die abgerissene Vortragsweise und das Fehlen der Lehre von der elocutio; vielleicht ist daran doch, wie Reitzenstein bereits vermutet hat, spätere Verstümmelung des Lehrbuchs schuld. Allerdings läßt sich mit kritischen Mitteln nicht leicht ausmachen, wie weit bei einem Büchlein, das sich selbst als Auszug gibt, neue Kürzungen und Entstellungen in späterer Zeit Platz gegriffen haben. Auf nicht ganz sichere Indizien der Überlieferungsgeschichte wies Reitzenstein hin (57ff., dazu Schäfer 12ff.). 2. Sieht man ab von Unbestimmbarem und weiter von dem, was sicher Celsus gehört, so scheint sich unter den Quellen eine Persönlichkeit herauszustellen, die dem Attizismus sehr nahe steht, und eine zweite, die Cicero als ganz besondere Autorität beleuchtet. Nun wäre zunächst die Frage, ob wir Celsus etwa mit dem Attizisten oder jenem extremen Ciceronianer identifizieren dürfen. Das zweite scheint ausgeschlossen (s. besonders die Darlegungen zur Statuslehre), womit nicht gesagt sein soll, daß Celsus dem Cicero fremd gegenüberstand; das erste dagegen wäre entschieden möglich trotz Severians Äußerung über das Prooemium, die eine Übertreibung der Vorlage sein könnte. Es gibt Gründe, die dafür sprechen, daß Celsus durch den Lysiasbewunderer Caecilius von Kaleakte beeinflußt worden ist, und was an Attizistischem bei Severian steht, widerspricht der Art dieses Mannes nicht; da könnte Celsus der Vermittler sein. Quintilian scheint nicht unmittelbar benutzt; die Übereinstimmungen zwischen ihm und Severian aber zwingen (trotz Woehrer und Schäfer 22ff.) keineswegs zu dem Schlusse, daß beide einer einzigen gemeinsamen Vorlage folgen (d. h. Celsus). Die Anschauung, daß Severian einfach ein Auszug aus Celsus sei, ist nicht zu beweisen; dazu ist die von ihm vertretene Lehre nicht genug geordnet noch auch genug einheitlich und geschlossen, wie die Analyse im einzelnen dargelegt hat. Man wird das vorsichtigere Urteil Reitzensteins akzeptieren müssen, und mit Recht hat Marx in seiner Edition der rhetorischen Fragmente des Celsus Severian mit großer Zurückhaltung behandelt. Nun fragt sich, wie wir demgegenüber den Titel zu deuten haben, den das Werk in Popma’s Ausgabe trägt. Reitzenstein sieht darin eine Konjektur des Popma, der den Zusammenhang durch Vergleichung von Quintilians Angaben über Celsus erschloß. Dagegen meint Woehrer, der Titel sei ex vetere eoque bono fonte geflossen. Selbst wenn wir dieser Ansicht beipflichten, so gewinnen wir tatsächlich nichts, nur daß die Sache einen gewissen Reiz des Geheimnisvollen bekommt. Wir müssen uns darüber klar sein, daß eine Aufschrift, wie sie sich Woehrer denkt, jedenfalls nicht von Iulius Severianus selbst herstammen kann; denn es ist ausgeschlossen, daß er danach mit dem Bekenntnis begann, er habe das Büchlein de veteribus zusammengestellt. Also muß es sich um eine spätere Zutat handeln. Auch eigene Äußerungen des Popma, die Schäfer (9) ans Licht zog, machen [811] wahrscheinlich, daß Reitzenstein mit seiner Vermutung das Rechte traf.

Zeit und Persönlichkeit. Ältere Vermutungen über die Zeit des Severian werden von Schäfer (10ff.) verzeichnet. Sie ist im Grunde so ungewiß wie die Persönlichkeit. Seine Gleichsetzung mit einem Rhetor und Dichter Severianus, den Sidonius Apollinaris in einem Briefe (9, 15) erwähnt (Fabricius Bibl. lat. ed. Ernesti III 462. Teuffel-Kroll 466, 8), wird von Schäfer unter Anerkennung des im übrigen vortrefflichen Lateins durch den Hinweis auf das Vorkommen zweier spätlateinischer Wörter zu stützen versucht: speciatim (nach Schäfer häufig seit dem 4. Jhdt.) und usurpator (nach Schäfer zuerst bei Ammianus Marcellinus). Diese Kombination würde Severianus in die zweite Hälfte des 5. Jhdts. hinabrücken, indessen ist zu bedenken, daß die Aufwerfung der Frage, ob ein Redner Attizist oder Asianer sein solle, für eine so späte Epoche sehr seltsam erscheint. In der Zeit Quintilians und des jüngeren Plinius (ep. V 20) hat diese Frage noch Interesse besessen und hat es wohl behalten können, solange es noch etwas wie Attizismus (oder Archaismus) gab. Celsus und Cicero sind dem Manne veteres, während er das Werk Quintilians allem Anschein nach nicht benutzt. Auffallend ist die primitive Behandlung der Statuslehre, die sich zugleich von der Rücksicht auf fingierte Fälle, wie sie sonst in der Zeit nach Hermogenes die größte Rolle spielen, völlig frei hält. Man könnte demgemäß daran denken, den Rhetor bis in die Frontozeit hinaufzurücken. Der Name Iulius Severianus kommt dreimal auf gallischen Inschriften vor (Schäfer 12).

Überlieferung. Die Überlieferung scheint im Mittelalter eine reichere gewesen zu sein. Der Druck des Popma zeigt so entschiedene Abweichungen von unseren Hs., deren älteste ein Wirceburgensis s. VIII oder IX ist, daß an eine selbständige Tradition zu glauben nahe liegt, wenngleich gemeinsame Fehler auf eine und dieselbe Urquelle weisen und die Möglichkeit besteht, daß Popma aus freiem Ermessen geändert hat (unter Heranziehung Quintilians, den er nach eigenem Geständnis [Schäfer 9] wohl kannte? Hinter Schäfers Ausführungen 13 gehört ein Fragezeichen). Exzerpte aus der Humanistenzeit, von Reitzenstein 57ff. hervorgezogen und besprochen, scheinen gleichfalls den Schluß auf eine einst reichere Überlieferung zu gestatten. Die Ur-Hs. dürfte in einem deutschen Kloster existiert haben.