Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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Richtertätigkeit Rechtsstreit
Band IX,2 (1916) S. 24792481
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Iudicium. 1) I. bezeichnet im gewöhnlichen Sinne des Wortes ein Verfahren mit Richtertätigkeit, im Mittelalter processus genannt. Im Laufe der römischen Rechtsgeschichte erlangte i. jedoch eine engere Bedeutung, nachdem es zunächst den gesamten Rechtsstreit vom Beginn bis zum Ende bezeichnet hatte, Dig. XLVIII 11, 3. Man unterschied nämlich den früheren Prozeßabschnitt vor dem Magistrat, der ius dicebat, d. h. iudicare iubebat (Dig. V 1, 74, 1. V 1, 59. II 1, 13 pr.) von dem darauf folgenden Verfahren vor dem iudex, einem Urteilsfäller über die Bedingungen des ihm vom Magistrat gegebenen Entscheidungsbefehls. I. bezeichnete dabei sehr häufig eben diesen Befehl, der in einer Schriftformel zutage trat, also auch diese Formel (Wlassak Römische Proceßgesetze, Leipzig, Duncker u. Humblot 1888. 1891, I 26ff. 72. 78. II 54). So namentlich in der häufigen Wendung des Ediktes: iudicium dabo, d. h. ,ich werde eine Richterbestellung gewähren‘. Da jedoch häufig Ursache und Wirkung denselben Namen haben, so bezeichnet i. auch das durch die Bestellung hervorgerufene Verfahren und die wichtigsten mit ihm zusammenhängenden Dinge, [2480] namentlich das Richteramt, das Prozeßverhältnis (Wlassak II 357), die Gerichtsbehörde und die Gerichtsstätte, vgl. Seckel Heumanns Handlexikon zu den Quellen des röm. R.⁹ s. judicium 294ff.

Im spätrömischen Verfahren fiel der Urteilsbefehl weg, weil der Magistrat selbst die Sache zu Ende führte. Der schon früher nicht streng festgehaltene Unterschied zwischen ius dicere und iudicare (Dig. XLVIII 11, 3. Wlassak II § 19. 26ff.) verschwand damit. Auch bei uns werden Jurisdiktion und Judikatur nicht unterschieden.

Zweifelhaft ist das Verhältnis von i. und actio (Wlassak a. a. O. I 26ff.). Die Wendung actionem dabo statt i. dabo kommt (verhältnismäßig selten) vor, Dig. XXXVI 1, 1, 2 (Wlassak I 42, 6). Doch bezeichnet i. die Magistratshandlung oder Richtertätigkeit, actio die vom Magistrat ermöglichte Parteihandlung (z. B. auch den Antrag auf Zwangsvollstreckung, vgl. Wenger Zur Lehre von der actio judicati, Graz 1901, 13, 43). Wo eine solche Handlung durch Verweigerung des i. nicht zugelassen werden sollte, da hieß es: actionem non dabo.

Wlassaks Meinung (Proceßgesetze I 72ff.), der Girard (Manuel élémentaire⁵ 1016, 2) zustimmt, die aber von Kübler (Ztschr. der Sav.-Stift. XVI 137ff.) bezweifelt wird, geht dahin, daß der Ausdruck actio von den legis actiones auf die Klagen aus formulae ausgedehnt worden sei. Es bleibt dies zweifelhaft, vgl. auch Gradenwitz Interpolationen 105ff. über iudicia und actiones bonae fidei.

Abgeleitete Bedeutungen von i. betreffen die (dem Richter besonders nötige) geistige Urteilskraft (V 1, 12, 2. XL 2, 25), und die bloße Überzeugung, auch ein kirchliches Dogma (Cod. I 5, 2, 1), wie ja auch in der Logik das Wort ,Urteil‘ über richterliche Entscheidungen hinausgreift. Sogar rechtsgeschäftliche Handlungen, namentlich Testamente, heißen iudicia, zumal auch bei ihnen eine Rechtslage durch eine Äußerung begründet wird, Dig. V 2, 8, 10. 12, 1. 19. 23, 1. 32 pr. X 2, 20, 3. XXVII 1, 34. Seckel-Heumann Rechtslex.⁹ s. judicium 294ff.

Eine Haupteinteilung der iudicia (= Prozesse) in privata und publica ist ein Seitenstück der Unterscheidung des ius privatum vom ius publicum, Dig. I 1, 1, 2; s. Ius. Sicherlich sind die iudicia privata solche, die ad ius privatum pertinent, während iudicia publica nicht alle Streitigkeiten des öffentlichen Rechts betreffen (s. Iudicium publicum).

Beiden Arten von iudicia gemeinsam ist ihre Einteilung in ordinaria und extraordinaria. Die letzteren sind jedoch nicht alle Ansnahmeerscheinungen auf dem Gebiete der Prozesse, wenn auch als ihr Kennzeichen die Abweichung vom ius ordinarium hingestellt wird, Dig. L 16, 178,

2. Bei dem ordinarium ist hier vielmehr an eine einzelne bestimmte rechtsgeschichtliche Erscheinung gedacht, den ordo (d. h. das Verfahren) nach den Leges Iuliae iudiciorum, insbesondere an das Hauptmerkmal dieses Verfahrens, seine Spaltung in zwei Teile (Magistrats- und richterliches Verfahren); vgl. Seckel Heumanns Rechtslexikon zu extraordinarius.

[2481] Ein hiervon befreites Verfahren kam in Rom vor, falls die Edikte zwar keine Klagen gaben, aber ein kaiserlicher Befehl sie trotzdem zuließ (z. B. Dig. XIX 1, 52, 2). In den Provinzen galten die leges Iuliae iudiciorum überhaupt nicht, wohl aber besondere Vorschriften und Gewohnheiten von sehr verschiedenem Inhalt (vgl. über Ägypten namentlich Mitteis Grundzüge und Chrestomathie der Papyruskunde, Teubner 1912, II 1. 288; vgl. ferner R. Samter Nichtförmliches Gerichtsverfahren, Weimar 1911 und dazu Berger Grünhuts Zeitschrift XL 31 1ff. und Steinwenter Kritische Vierteljahrsschrift für Gesetzgeb. und Rechtswissenschaft 3. Folge XVI 59ff.). Die Prozesse wurden in spätrömischer Zeit mehr und mehr dem freien Ermessen des Richters in ihrer Ausgestaltung überlassen, auch die iudicia publica, Dig. XLVIII 1, 8 (Paulus). Daher gilt auch für Strafprozesse Iustinians bekannter Ausspruch Inst. IV 15, 8: quotiens extra ordinem ius dicitur, qualia sunt hodie omnia iudicia; vgl. Zocco-Rosa Imp. Iust. Institutionum Palingenesia, Catania 1908, II 375. Hieraus ergibt sich, daß extraordinarium nicht so viel heißen kann wie ,außerordentlich‘; denn eine Ausnahme kann keine ausnahmlose Regel bilden. Es bezeichnet vielmehr nur das, was von den Iulischen Prozeßgesetzen abweicht. Dieser Begriff hatte auch noch zu Iustinians Zeit einen Sinn, obwohl diese Gesetze zu dieser nicht mehr galten. Es scheinen übrigens nicht bloß die Richterbestellungen den Iulischen Prozeßordnungen eigentümlich gewesen, d. h. außerhalb ihres Geltungsgebietes nicht angewandt worden zu sein, sondern auch manches andere, namentlich die sog. Prozeßverjährung und die prozessuale Konsumption (vgl. R. Leonhard in den Mélanges Fitting. Montpellier 1908. II 6lff. über Amherst Pap. II 27).

Neben den iudicia publica und privata stehen die iudicia domestica, s. Patria potestas. Sie betrafen bis zur Zeit des Augustus nicht bloß Hauskinder und Sklaven, sondern auch Freigelassene und waren selbst bei Todesurteilen der provocatio entzogen, vgl. Mommsen St.-R. III 1, 433.

Auch zivilrechtliche Streitigkeiten z. B. unter gewaltunterworfenen Brüdern gehörten vor das Hausgericht und nicht vor den Zivilrichter, Dig. XII 6, 38.

Literatur. Wlassak Röm. Prozeßgesetze, Leipzig, Duncker u. Humblot, 2 Bände 1888. 1891; vgl. daselbst über ältere Schriften besonders II 20ff.; vgl. auch Wenger Zur Lehre von der actio judicati, Graz 1901, 13, 43; dens. in Hinnebergs: Die Cultur der Gegenwart. Allgem. Rechtsgeschichte I 1914, 284ff. Cesare Bertolini Appunti didattici di Diritto Romano. Seria Seconda II. Processe Civile. I Torino 1913, 37ff. 55ff. II 1914, 124ff.