Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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Gregor I., Bischof v. Rom, gest. 604 n. Chr., Gregor der Große
Band VII,2 (1912) S. 18681870
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8) Gregor I., Bischof von Rom, gest. 604. Im J. 540 wurde er zu Rom aus einer senatorischen, und namentlich in Sizilien reich begüterten, Familie geboren. Nach dem frühen Tod des Vaters widmete sich die Mutter dem Klosterleben, ließ indes ihrem Sohn eine standesgemäße Erziehung angedeihen. Er brachte es schon vor 573 in der Staatskarriere zum Praefectus Urbi, entsagte aber in plötzlichem Umschlag der Stimmung allen weltlichen Aspirationen, verkaufte die väterlichen Güter und stiftete von dem Erlös sieben Klöster, in deren eines, zu Rom, er selber eintrat. Die asketischen Übungen, denen er sich hier unbarmherzig unterwarf, mögen den Grund zu seiner späteren Kränklichkeit – während der letzten Lebensjahre war er fast dauernd an das Bett gefesselt – gelegt haben. Gleichwohl zwang ihm Papst Benedict I. 577 das Amt eines Diakonen in Rom auf, und gleich nach seiner Thronbesteigung [1869] sandte ihn Pelagius II. (579–590) als Apocrisiarius nach Constantinopel, ein Posten, der ihm bereits eine Anwartschaft auf die spätere Papstwürde verlieh. 585 kehrte er zwar nach Rom zurück und durfte als Abt sich der Leitung seines Klosters widmen, nahm indessen an den Curiageschäften teil, und wurde nach dem Tode [des Pelagius, während die Pest in der Stadt wütete und die Langobarden sie von draußen bedrohten, einstimmig von Laien und Klerus zum Papst gewählt. Die Flucht vor dem verantwortungsvollen Amt, die ihm ernst war, hat ihm nicht geholfen; am 3. September 590 wurde er ordiniert, am 11. März (604 ist er gestorben (der 12. März ist der Tag seiner Depositio). Von seiner großartigen Tätigkeit als Politiker und Kirchenfürst kann hier nicht des näheren die Rede sein; das Ansehen Roms hat er auf dem edelsten Wege wiederherzustellen verstanden; wo auch der Kaiser versagte, erwies er sich, oft mit den größten persönlichen Opfern, als Retter in der Not. So hat er die in Folge des Dreikapitelstreits mit Rom zerfallenen Provinzen leise wieder an Rom herangezogen und durch die Missionsarbeit an den Angelsachsen ein verlorenes Königreich in die innigste Abhängigkeit von Rom gebracht. Die einzigen Schatten fallen auf seine öffentliche Tätigkeit durch den leidenschaftlichen Titelstreit, den er mit Constantinopel führte, wo er sein servus servorum Dei dem οἰκουμενικὸς πατριάρχης des Johannes Jejunator gegenübersetzte, sowie durch die jubelnde Begrüßung, die er dem blutbefleckten Tyrannen Phocas 602 und 603 zusandte, nur weil Kaiser Mauritius (582–602) dem Papst nicht immer hatte zu Willen sein dürfen und können. Die Urkunden seiner großartigen politischen und pastoralen Tätigkeit, zugleich die wertvollsten und reichhaltigsten Dokumente für die Geschichte seines Zeitalters sind seine Briefe, ca. 850 Schriftstücke chronologisch geordnet und nach seinen Pontifikatsjahren in vierzehn Bücher zerlegt, Registrum Epistolarum, herausg. von P. Ewald und Ludw. M. Hartmann in Mon. Germ. Epist. Tom. I u. II 1891 und 1899.

Für die übrigen Werke G.s sind wir noch auf die Maurinerausgabe von 1705 und 1744 oder den etwas verbesserten Abdruck bei Migne L. 75–79 angewiesen. Wie sehr sie der Korrektur aus den Manuskripten bedürfen, mag man ersehen aus L. Hartmann Zur Orthographie Papst Gregors Ι., Neues Archiv f. D. Gk. XV 529. Charakteristisch für seine literarische Eigenart sind die 35 Bücher Moralia, oder Expositio in beatum Job, das halb gelehrte Exegese, halb ein Handbuch der Ethik ist, begonnen in der Constantinopler Zeit, aber erst nach 590 vollendet und dem Bischof Leander von Sevilla gewidmet. Eine unbefangenere Auslegung liegt vor in den 40 Homilien über Evangelienperikopen (um 592, vgl. Pfeilschifter Die authentische Ausgabe der 40 Evangelienhomilien Gregors d. Gr., Münch. 1900) und in den zwei Büchern Homilien über Ezechiel. Sein Bestes an Lebensweisheit und Erfahrung in der Behandlung der Menschen hat er niedergelegt in den vier Büchern der Regula pastoralis; der religiösen Erbauung, doch auch der Exposition dogmatischer Grundlehren wie der von der Interzession [1870] der Heiligen und vom Fegfeuer, dienen die libri IV dialogorum de vita et miraculis patrum italicorum et de aeternitate animarum. Diese Werke sind vom 7. Jhdt. an in allen Teilen der abendländischen Kirche eifriger gelesen worden, als die Meister, von denen G. sich doch ganz abhängig wußte, Ambrosius, Hieronymus und Augustinus. Er hat auf Jahrhunderte hin den Geschmack, den Geist, das Wissen und Wollen der lateinischen Kleriker bestimmt. Ein origineller Denker ist G. nicht gewesen; er ist auch kein hervorragender Schriftsteller, vielmehr breit und eintönig, aber wenigstens nicht maniriert und spielerisch, dazu frei von Eitelkeit und ehrlich. Mit G., der von sich behauptete, er verstände kein Griechisch – was sicher nur von seiner Unfähigkeit zu griechischer Schriftstellerei verstanden werden darf – hat sich das Abendland definitiv der Vorherrschaft, ja überhaupt dem Einfluß der orientalischen Theologie entzogen. Er vertritt ganz und gar die Eigenart der mittelalterlichen Kirchlichkeit und redet doch noch in der Sprache der alten Zeiten als in seiner Muttersprache und fühlt sich noch mit den klassischen Theologen, wenn auch nur selten noch mit den heidnischen Klassikern in ununterbrochenem Zusammenhang.

Große Verdienste hat G. sich jedenfalls um die Ausgestaltung des Kirchengesangs und der Liturgie erworben; wieweit aber der Cantus Gregorianus und das Sacramentarium Gregorianum unmittelbar sein Werk sind, läßt sich zur Zeit noch nicht feststellen. Daß die von Hieronymus verfertigte Übersetzung der Bibel aus dem hebräischen Urtext – beim Neuen Testament die Revision nach der griechischen Vorlage – in der lateinischen Kirche überall sich an Stelle der älteren Teste als ,Vulgata‘ durchsetzte, ist ebenfalls ein Verdienst des G. Unendlich vieles ist irrtümlich ihm zugeschrieben worden; bei interessanten Kommentaren, wie dem zum Hohenlied, der unter seinem Namen geht, liegt wenigstens der Verdacht späterer Überarbeitung vor: eine Monographie, die dem Namen gerecht würde, steht noch aus; gerade die literarischen Probleme, die seine Hinterlassenschaft uns aufgibt, sind zum guten Teil noch nicht einmal angefaßt. Nur zur ersten Orientierung genügt Böhringer Die Kirche Christi und ihre Zeugen² I 4, 1879.