Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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Verwandtschaft durch Geburt
Band IV,1 (1900) S. 204206
GND: 4133957-5
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Cognatio ist der Zusammenhang durch Geburt (Dig. XXXVIII 8, 1 pr. cognati appellati sunt quasi ex uno nati), genauer die gemeinsame Abstammung durch Geburt oder eheliche Zeugung [205] (Blutsverwandtschaft). Die uneheliche Zeugung bringt das Kind nicht in die Familie des Vaters, sondern in die der Mutter, Gai. I 64. Dig. I 5, 23. XXXVIII 8, 4. Der Zeugung wird die adoptio (s. d.) rechtlich gleichgestellt, Dig. XXXVIII 8, 1, 4. Man kann die cognatio daher nicht als die Gesamtheit der ,natürlichen Verwandten‘ (Dig. L 16, 195, 4. Puchta-Krüger Institutionen10 II 14 § 195) bezeichnen, sondern nur als die vom Recht anerkannte Blutsgemeinschaft (Leonhard Institutionen 211 § 55). Immerhin erscheint diese Gemeinschaft als die natürlichere (naturalia iura) im Gegensatze zu der agnatio oder civilis cognatio (s. Agnatio), Gai. I 158. Ulp. XXVIII 9. Dig. L 17, 8. Die römische Entwicklung ging dahin, die agnatio mehr und mehr zurückzudrängen und die Bedeutung der cognatio zu steigern, namentlich im Erbrechte, in dem diese Entwicklung in Iustinians nov. 118 ihren Abschluss fand. Dass aber auch schon im älteren römischen Rechte die C. von grosser Bedeutung war, hat mit grosser, vielleicht zu grosser (so Puchta-Krüger Inst.10 18 § 195 w) Bestimmtheit Klenze ausgeführt (Ztschr. f. gesch. Rechtsw. VI 1–114). Hier aber bedeutet cognati nicht den vollen Kreis der rechtlich anerkannten Blutsverwandten, wie ihn nov. 118 in das Auge fasst, sondern eine engere Gruppe, die nahen Verwandten (propinqui, Gai. II 182. Inst. II 16, 4), die durch das Sittengebot gezwungen sind zusammenzuhalten (necessarii, Gell. XIII 3. 1: necessitudo ius quoddam et vinculum religiosae coniunctionis. Dig. I 1, 12). Eine einheitliche Abgrenzung dieses Kreises für alle Fälle, in denen es auf ihn ankam, ist jedoch (abweichend von Klenze) nicht anzunehmen, vielmehr ist sie entweder in einzelnen dieser Fälle zwar in ähnlicher, aber nicht durchweg gleicher Weise gesetzlich geregelt (z. B. bei dem parricidium, Dig. XLIX 8,1, und anderseits bei der praetorischen Erbfolge der cognati, Dig. XXXVIII 8, 1, 3) oder jedesmal nach freiem Ermessen bestimmt worden. Der religiöse Zusammenhalt der nächsten Verwandten bei den Caristia, dem gemeinsamen Festmahle (Ovid. fast. II 617–638. Val. Max. II 1, 8, worauf Klenze 16 die bei Festus p. 245 s. publica sacra erwähnten privata sacra bezieht) und das ius osculi, das Recht und die Pflicht zum Verwandtschaftskusse (Serv. Aen. I 256. Donat. in Ter. Eun. III 2, 3. Bruns Fontes⁶ p. 78) mögen hierbei von Einfluss gewesen sein, ebenso die Trauerpflicht (Paul. I 21, 13) und die Eheverbote, Inst. I 10, 1ff. Coll. leg. VI 2ff.

Die nahe Verwandtschaft gewährte teils Vorrechte, die sich auf die gegenseitige Zuneigung der Angehörigen gründeten, teils Zurücksetzungen, die der Furcht der Parteilichkeit gegenüber den nahen Verbundenen entstammten. Zu den Verwandtschaftsrechten gehörte die Mitgliedschaft am iudicium domesticum, dem Hausgerichte des paterfamilias (s. d.), die Freiheit von gesetzlichen Schranken unentgeltlicher Zuwendungen, frg. Vat. 158. 298. 301. Ulp. XVI 1; eine Bevorzugung kauflustiger Verwandter bei der bonorum emptio (s. d.), Dig. XLII 5, 16, sowie das Vorrecht der Angehörigen zu der adsertio in libertatem (s. Adsertor) und zur Klage wegen Tötung eines Verwandten, Dig. IX 3, 5, 5. Hierher gehört auch die strengere Bestrafung des Verwandtenmordes [206] XLIX 8, 1, die Befreiung von der Zeugenaussage gegen Verwandte, Dig. XXXVIII 10, 10 pr., vor allem aber das Recht zur Erbfolge nach dem praetorischen ordo unde cognati, Dig. XXXVIII 8. Inst. III 5, 5 (4), das den Verwandten bis zum sechsten Grade und vom siebenten dem Kinde des einen zweier Geschwisterenkel (sobrinus) gegenüber dem andern Geschwisterenkel (und umgekehrt) zustand. Eine Zurücksetzung von Verwandten wegen Verdachtes der Parteilichkeit erwähnt Cic. de leg. agr. II 21; vgl. auch Leist in der Fortsetzung von Glücks Commentar V 50 n. 56. 70 n. 75. 85 n. 86. Karlowa Röm. R.-G. II 1, 62.

Die Heraushebung eines engern Kreises aus der Verwandtschaftsmasse findet ihr Seitenstück in den Rechten anderer Völker, Klenze a. a. O. 120ff. Leist Graeco-italische Rechtsgeschichte 1884, 21ff. Dass aber der Zusammenhalt unter den römischen Blutsverwandten besonders stark war, ergiebt sich aus dem weiten Umfang der besondern Bezeichnungen für Verwandtschaftsgrade in der geraden Linie wie in der Seitenverwandtschaft, Dig. XXXVIII 10. Inst. III 6, eingehend erörtert von Schilling Lehrbuch für Institutionen und Geschichte des römischen Privatrechts II 160–191.

Litteratur. Klenze a. a. O. Puchta-Krüger Institutionen10 14 § 195 und über die Geltung des Mutterrechts (d. h. der rechtlichen Zusammengehörigkeit der von der Mutterseite her Verwandten) für altrömische Familien Bernhöft Ztschr. f. vergleichende Rechtswissenschaft VIII 401. Cuq Les institutions juridiques des Romains 1891, 69ff., eine Geltung, die wohl richtiger zu verneinen ist. Vgl. ferner Voigt Röm. Rechtsgeschichte I 113ff. § 12. Leonhard Institutionen 211. 212. 376.