Apokryphen, im Sprachgebrauch der protestantischen Kirchen Terminus technicus für diejenigen Bücher, die die griechische Übersetzung des Alten Testaments (LXX) und die lateinische Vulgata über den hebräischen Urtext hinaus besitzt, Makkabaeerbücher, Tobias, Judith etc. (die beste, aber noch nicht völlig genügende Ausgabe O. Fr. Fritzsche Libri apocryphi Veteris Testamenti [2839] graece, Lips. 1871, ausserdem vgl. Wahl Clavis librorum Vet. Test. apocryphorum philologica. Fritzsche und Wil. Grimm Kurzgefasstes exegetisches Handbuch zu den A. des Alten Test. 6 Bde., Lpz. 1851–60). Dieser Name ist erklärlich nur aus dem Sprachgebrauch der alten Kirche, die ihn, wie die katholischen Kirchen noch heute, für die erwähnten Bücher gerade nicht verwendet. Bei den griechischen wie lateinischen Vätern liegt in der Bezeichnung ‚apokryph‘ ein verwerfendes Urteil; βιβλία ἀπόκρυφα sind das Gegenstück von βιβλία κοινὰ καὶ δεδημοσιευμένα (Origen. in Matth. 23, 35), und da unter letzteren die öffentlichen Bücher κατ’ ἐξοχήν, die kanonischen, verstanden werden, ist apokryph das ‚Nichtkanonische, Widerkanonische‘, jedoch nur soweit es den Anspruch auf Kanonicität zu erheben scheint – denn sonst hätte ja die gesamte griechische und römische Litteratur der vorchristlichen Zeit als apokryph bezeichnet werden können. Wie schon Tertull. de pudic. 10 apocryphus mit falsus zusammenstellt, so haftet durchweg der Begriff der Unglaubwürdigkeit an dem Worte, was bei anonymen Schriftwerken sich auf den Inhalt beschränkt, bei den übrigen auch die Angaben über Verfasser, Zweck u. s. w. betrifft, so dass dann apokryph gleich pseudepigraph (Iren. I 20 πλῆθος ἀποκρύφων καὶ νόθων γραφῶν) ist. Augustin definiert ganz treffend contra Faustum XI 2 libri, qui appellantur apocryphi non quod habendi sint in aliqua auctoritate secreta, sed quia nulla testificationis luce declarati de nescio quo secreto nescio quorum praesumptione prolati sunt; nicht umfassend genug Hieron. ep. 107, 12 caveat omnia apocrypha, … sciat non eorum esse, quorum titulis praenotantur, und Augustin de civ. Dei XV 23 apocryphae nuncupantur eo quod earum occulta origo non claruit patribus ist irreführend. Besonders charakteristisch Salvianus epist. IX (217, 9 ed. Pauly). Der falsche Schein des Kanonischen, unbedingt Verbindlichen ist das Entscheidende; gleichgültig ist, ob daran der Verfasser schuld ist – so wenn ein Christ des 2. oder 3. Jhdts. unter dem Namen eines Propheten oder Apostels Bücher schreibt (apokryphe Briefe und Apokalypsen) oder auch ohne Namen neue Darstellungen der im Kanon endgültig fixierten heiligen Geschichte giebt (apokryphe Evangelien und Apostelgeschichten) – oder nur ein Missverständnis der Leser, wie wenn der Hirte des Hermas von Tertull. de pudic. 10 als apocryphus ille pastor moechorum angegriffen wird, während der Verfasser an irgendwelche praesumptio so wenig wie an eine Heimlichkeit dachte.
Nicht von Haus aus ist ‚apokryph‘ eine tadelnde Bezeichnung; viele Producte der religiösen Litteratur aus der Periode des Synkretismus legen sich selber diesen Titel bei (vgl. Dieterich Abraxas 155, 16–23. 161ff.); diese Winkelweisheit hat Zutrauen blos zu dem Geheimen und Geheimnisvollen; in den gnostischen Kreisen, die ebendahin gehören, teilte man diese Neigung, vgl. Clem. Alex. Strom. I 15, 69: die Prodikianer rühmen sich des Besitzes von βίβλοι ἀπόκρυφοι des Magiers Zoroastres. Bei der Kirche kam das Wort gerade dadurch in Misscredit; sie konnte auch mit ihrem demokratischen Zug und ihrem [2840] Streben nach Eroberung der ganzen Menschheit keine Geheimlitteratur brauchen. Doch ist nicht ausgeschlossen, dass sie in einer späteren Periode ein Buch als ‚falsch‘, apokryph, verwarf, das und gerade weil es in einer früheren hohes Ansehen bei ihr genossen hatte. So gewiss ein sehr erheblicher Teil der A. ausserkirchlichen Ursprungs ist, von Gnostikern, Manichaeern u. s. w. herrührend – einiges mit alttestamentlichen Namen ist jüdisch, öfters christlich überarbeitet, so besonders die Testamente der 12 Patriarchen und das 4. Buch Esra, davon die wichtigsten Stücke ediert bei O. F. Fritzsche Libri Veteris Test. pseudepigraphi selecti, Lips. 1871: ψαλμοὶ Σαλομῶντος, liber Esdrae IV. V, Apocalypsis Baruchi und Assumptio Moyseos; vgl. auch Volkmar Handbuch d. Einleitung in d. Apok. 3 Tle. 1860. 63. 67 –, es bleiben genug A. übrig, die in der Kirche geschrieben worden sind, teils eben aus ganz alter Zeit, teils aus späterer, als besonders der Trieb zur legendarischen Weiterbildung der biblischen Geschichte und der zur Ergänzung des aus der christlichen Urzeit Überlieferten (Brief des Paulus an die Laodicener wegen Koloss. 4, 16 und Briefwechsel zwischen Paulus und der Gemeinde von Korinth wegen I Korinth. 5, 9. 7, 1) sich lebhaft regten. Die meisten A. sind in griechischer Sprache verfasst, einige davon aber nur in Übersetzungen, viele fragmentarisch erhalten; von mehreren kennen wir nur die Titel. Man zählt an 30 apokryphe Evangelien, Apostelgeschichten nicht viel weniger. Diese Litteratur ist grösstenteils überaus gedankenarm, eintönig und geschmacklos; aber man lernt aus ihr besser als aus den ‚Kirchenvätern‘ die Interessen und Ideale des Vulgärchristentums kennen, und auch für Kultur- und Sprachgeschichte dürfte aus ihr manches zu gewinnen sein. Es ist den A. nur noch nicht genügender Fleiss gewidmet worden; vieles liegt noch unediert in den Bibliotheken. Die erste relativ vollständige Sammlung ist: J. A. Fabricius Codex apocryphus Novi Test. 1703, 2 tom., 1719 3 tom.; einen grossen Fortschritt in der Textkritik bezeichnete J. C. Thilos gleichnamiges Werk, von dem aber nur Band I 1832 erschien. C. Tischendorf publicierte, nicht durchweg mit Sorgfalt, 1851 die Acta Apostolorum apocrypha, 1866 Apocalypses apocryphae Mosis, Esdrae, Pauli, Johannis item Mariae dormitio, die Evangelia apocrypha 2. Aufl. 1876. Musterhaft ist die noch unvollendete Ausgabe der Acta Apostolorum apocrypha von R. A. Lipsius und M. Bonnet (I 1891), ausgezeichnet die Bearbeitung der Acta Ioannis von Th. Zahn 1880. Beinahe erschöpfend hat innerhalb der gesteckten Grenzen den Stoff litterargeschichtlich behandelt und verwertet R. A. Lipsius Die apokr. Apostelgeschichten und Apostellegenden (I. II, 1. 2. III) 1883–90. Zur Orientierung sehr geeignet ist der Anhang über die neutestamentlichen A. in Holtzmanns Einleitung in das Neue Testament³ 1892, 485–503 und die Abhandlung von E. Schürer in Herzogs Realencyklopaedie I² 484–511. Vieles Genauere bei E. Schürer Gesch. d. jüd. Volkes im Zeitalter Jesu Chr. II 1886, 588ff. 609–691. Th. Zahn Geschichte d. neutestamentl. Kanons Bd. II 1890–92. Abschliessende Arbeiten existieren nicht, schon weil der Stoff sich täglich [2841] mehrt, so hat M. R. James 1892 die διαθήκη Ἀβραάμ in zwei Recensionen bekannt gemacht (Texts and Studies ed. Robinson II 2) und die Veröffentlichung weiterer noch ungedruckter Texte versprochen; höchst interessante Bruchstücke des Evangeliums und der Apokalypse des Petrus sind in Ägypten jüngst aufgefunden und von Bouriant in t. IX 1 der Mémoires der französischen Mission archéologique en Caire 1892, bald darauf mit zahlreichen Verbesserungen von Harnack in Berlin und von Robinson und James in London publiciert worden; Text und Bearbeitung bietet Harnack in seinen Texten und Untersuchungen zur Geschichte der altchristlichen Litteratur IX 2 (1893).