Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
fertig  
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Zwangsdiät
Band I,2 (1894) S. 2058 (IA)–2060 (IA)
Bildergalerie im Original
Register I,2 Alle Register
Linkvorlage für WP   
* {{RE|I,2|2058|2060|Ἀναγκοφαγία|[[REAutor]]|RE:Ἀναγκοφαγία}}        

Ἀναγκοφαγία,[1] die ‚Zwangsdiät‘, die nach strengen Gesetzen geregelte Ernährung; vgl. Aristot. Polit. VIII 4 p. 1339 (von der kräftigen Ernährung, der sich jeder Jüngling während der Zeit seiner gymnastischen Ausbildung unterziehen solle); vorzugsweise versteht man unter ἀ. die Zwangsdiät der Athleten, Poll. III 153 (ἀναγκοτροφεῖν Epiktet. Enchir. 29, 2, βίαιος τροφή Arist. Polit. VIII 4, 1338 b 41). Wenn die Agonisten sich in älterer Zeit darauf beschränkten, nur während der Vorbereitung zu den Wettkämpfen bestimmte Diätregeln zu beobachten, haben späterhin die berufsmässigen Athleten ihre ganze Lebensweise nach hygienischen Principien geordnet. Das Hauptgewicht fiel dabei natürlich auf die zweckmässige Ernährung. In älterer Zeit bestand die Kost der Athleten ausschliesslich in frischem Käse, getrockneten [2059] Feigen und Weizen; erst im 5. Jhdt. soll durch den Aleipten Pythagoras die Fleischnahrung eingeführt worden sein, Paus. VI 7, 10. Laert. Diog. VIII 12. 46. Plin. n. h. XXIII 121. Über die Art und die Menge, in der Brot, Wein, Fleisch genossen werden sollten, gab es genaue Vorschriften (Epiktet. Enchir. 29. Philostr. Gymn. 48. 51). Die Hauptnahrung bestand aber in trockenen festen Substanzen (στερρὰ τροφή Luk. Lex. 22; arida saginatio Tertull. de pallio 4). Dem einzelnen Individuum konnte auch durch den Aleiptes eine seinen leiblichen Besonderheiten angepasste Auswahl der Speisen vorgeschrieben werden; den verschiedenen Arten von Athleten wurden verschiedene Fleischsorten als vorzugsweise zweckmässig anempfohlen; vgl. Plato Crit. 47 B; Protag. 313 D. Aelian. v. h. XI 3. Natürlich mussten die Athleten jene Speisen, die zum zweckmässigen Aufbau ihres Körpers geeignet schienen, in grosser Menge zu sich nehmen, ἀδηφαγία Plut. Arat. 3. Athen. X 413 C; im Anfange der Übungen wurde ihnen eine geringere Portion verabreicht, die dann stufenweise vergrössert wurde (Aristot. Eth. Nicom. II 5). Nach Galen Protrept. 11, 28 pflegten die Athleten unmittelbar nach ihrer Mahlzeit, die zu genau bestimmter Zeit nach Vollendung der täglichen Übungen eingenommen wurde, sich einem langen Schlaf zu überlassen; Plinius n. h. XI 283 spricht von Verdauungsspaziergängen der Athleten. Von der Essfähigkeit der Athleten können die Nachrichten bei Athen. X 412ff. einen Begriff geben; vgl. Aristoph. Pac. 33f. Es ist natürlich, dass diese Leute, gewöhnt, colossale Mengen von Nahrung zu sich zu nehmen (ὑπερπιμπλάμενοι, Galen a. O.), auch nicht einen Tag lang die bestimmte Portion zu entbehren in der Lage waren (Plato Republ. III 404 a. Cic. Tuscul. II 40). Durch diese Zwangsdiät erlangten die Athleten jene strotzende Vollkraft (σφριγᾶν Athen. X 414 D) und jene grosse Fleischmasse (πολυσαρκία Luk. dial. mort. X 5), die für die ἀθληταὶ βαρεῖς, die Ringer, Faustkämpfer und Pankratiasten unerlässlich war, weil durch das so gesteigerte Körpergewicht ein Aufheben oder Niederwurf erschwert, der Gegner aber ermüdet und niedergedrückt wurde. Diese Körperfülle (ἡ ἐπ’ ἄκρον εὐεξία Hippokrates bei Galen Protrept. 11; ὑπερσαρκήσαντες Philostr. Gymnast. 50) barg aber auch mancherlei Gefahren. Kleine Unregelmässigkeiten und Störungen in der gewohnten Lebensweise zogen bei den Athleten leichter als bei anderen Menschen schwere Krankheiten nach sich, Aristot. Problem. I 28; nicht selten machten Schlaganfälle dem Leben dieser Männer ein plötzliches Ende; vgl. Plut. de sanit. tuenda 5.

Die Zwangsdiät ist ein wesentliches Merkmal der berufsmässigen Athletik, ihr Ziel ist die möglichste Steigerung der Tüchtigkeit für eine bestimmte Art von körperlichen Leistungen; dies Ziel kann natürlich nur auf Kosten der harmonischen Ausbildung, vor allem aber auf Kosten der geistigen Entwickelung erreicht werden. Um Appetit und Verdauung nicht zu stören, mussten alle geistigen Anstrengungen und psychischen Affecte möglichst ferngehalten werden, so dass man nicht ohne Grund den Athleten die Fähigkeit, auch den höheren Aufgaben des staatlichen Lebens zu genügen, absprechen konnte; vgl. Plato [2060] Polit. III 404a. 410a. VII 537a. Arist. Polit. VII 7. Galen Protrept. 11. S. Athleten. Litteratur: Krause Gymnastik und Agonistik II 654f. Bussemaker bei Daremberg et Saglio I 517f.

[Reisch. ]

Anmerkung (Wikisource)

  1. transkribiert Anankophagia