Predigten für die festliche Hälfte des Kirchenjahres/Am Sonntag nach Neujahr 1835
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Die heilige Schrift, meine Teuren, redet allerdings oft von Freunden und stellt die Freundschaft, wenn auch nicht in einem besonderen Gebote, doch aber in vielen Beispielen dar. Allein sie kennt noch einen höheren Namen, nämlich den Namen Bruder – und für die Bruderliebe enthält sie nicht allein Beispiele, sondern auch ein großes Gebot des HErrn. Und wahrlich, der Name Bruder hat eine höhere Bedeutung. Seinen Freund wählt sich ein jeder nach seiner Neigung; aber ein Bruder ist ein Freund, welchen Gott beschert nach Seiner Gnade. Von einem Freunde erwartet man erst Freundschaftsbeweise, und bevor man ihn in der Not erprobt hat, glaubt man an seine Freundschaft nicht. Hingegen ein Bruder ist ein solcher Mann, von dessen Liebe man eine gewisse Überzeugung hat, auch wenn sie noch in keiner Not bewährt ist; auf eines Bruders Liebe verläßt man sich mit stiller Beruhigung – allen Freunden traut man Untreue zu, aber ein brüderliches Herz ist ein verlässiges Herz, ein Fels, vom HErrn gepflanzt, eine Zuflucht des bedrängten Herzens, eine letzte Labung selbst im Sterben. Erlaubt mir also, meine Teuren, euch heute von Bruderschaft und Bruderliebe nach dem verlesenen Texte zu predigen.
Gott segne die Predigt an vielen unter uns! Amen.
Es giebt fürs erste eine leibliche Brüderschaft, nach welcher sich die untereinander lieb haben, welche einen Vater und eine Mutter auf Erden haben. Leibliche Geschwister wohnen von Jugend auf unter einem und demselben Dache – und wenn sie älter werden, und ein jedes von ihnen unter sein Dach geht, so ist doch der Segen eines und desselben Vaters und einer Mutter über ihnen, sie gehören zusammen und sind eines Vaters Haus bis zum Grabe und bis sie zu ihren Vätern gesammelt werden. Wenn nun Kinder von der Jugend bis zum Grabe brüderlich einträchtig beisammen wohnen – das ist nach unserm Text fein und lieblich.
Es ist fein und lieblich vor Gott und vor Menschen. Dies drückt unser Psalm in zwei schönen Bildern aus. – Jerusalem ist auf den Bergen Zion gebaut, und auf einem unter ihnen, auf dem Berge Morija, stand später der Tempel, zur Zeit Davids die Hütte des Stifts. Dort hatte der Hohepriester zu thun. Ein schöner Gedanke ist’s nun, sich einen Morgen zu denken, an welchem man Gottes Tau von dem höheren Gebirge Hermon auf die heiligen Berge Zion gleichsam herabsinken sah, wie Leben und Segen, – und im tauigen Morgen einen eben gesalbten Priester, einen Nachfolger Aarons,| vor der Hütte des Stifts im Schein der Opferflammen wandeln zu sehen. Des Hohenpriesters Bart fließt herab ins heilige Gewand – und vom Haupte in den Bart träuft das heilige Salböl Jehovahs, das Bild des heiligen Geistes und Seiner himmlischen Salbung. – Wie lieblich vor Gott ist ein eben gesalbter und gesegneter Priester! Wie lieblich vor Menschen ein von Gott eben mit fruchtbarem Tau gesegnetes Gebirge! So lieblich nun, wie Salböl vor Gott, wie Tau Gottes vor Menschen – so lieblich ist vor Gott und Menschen ein Haus voll Brüder! Eintracht der Brüder ist angenehm, wie ein Priester Gottes, – schön wie eine fruchtbare Gebirgstrift im lieben Tau! Welch ein schöneres Bild fände man in der Schöpfung und in der Kirche? – Konnte der heilige Geist ein schöneres auffinden, brüderliche Eintracht zu ehren? Was ist in der Frühlingsschöpfung schöner, als ein tauiger Morgen? was in der Kirche, als ein gesalbter Priester des HErrn, der Himmel und Erde gemacht hat? – Wahrlich, hoch geehrt ist brüderliche Eintracht! Sie ist gleich den Bergen Zion – wo Gott durch Seine Priester Segen verheißen läßt und Leben giebt zahllos, wie Tau aus dem Morgenrot! Solche Verheißung hat die Eintracht leiblicher Brüder – Zion heißt sie, voll Segens und Lebens ewiglich!
Nun habe ich euch, lieben Brüder, von dreifacher Bruderliebe geredet: von leiblicher, von geistlicher und von leiblich-geistlicher. Wäret ihr nun zufrieden, wenn ich hier innehielte? Habe ich keine vergessen? Wollt ihr nicht noch von einer hören? Hat euch nicht schon, solange ich rede, das Herz nach einer andern Kindschaft wehgethan? – Mit eurer Erlaubnis, geliebte Seelen! Ich habe absichtlich von jener Bruderschaft geschwiegen, die ihr im letzten Verse unseres Anfangsliedes besungen habt. Aber jetzt will ich in ihr Lob ausbrechen – ja, jetzt möcht’ ich’s, wenn ich’s vermöchte! O du himmlischer Vater! Wie könnte ich vergessen, daß ich durch deine unaussprechliche Gnade ein Bruderherz im Himmel habe, das mit mir leiblich und geistlich aufs engste verbunden ist! O du liebe Gemeinde, wie dürfte ich denn von deinem Bruder, von deinem längstverstorbenen Joseph, von deinem ewig lebenden Joseph schweigen, vor dem sich unsere Garben neigen, vor dem sich Sonne, Mond und Sterne beugen? In Deinem Namen beugen sich alle Kniee im Himmel und auf Erden und unter der Erde, alle Herzen und alle Zungen bekennen Dich – auch mein Herz, meine Zunge: Bruder JEsus Christus – wie könnte ich Dein vergessen, vergessen Dein, der Du erst kurz Dein Geburtsfest mit uns gefeiert hast?
O Bruder JEsu, wer könnt’ Dich vergessen?
Man kann ja das Geheimnis nicht ermessen,
Daß Du in mir und ich in Dir soll sein.
Wie sollt’ ich nicht an Dich, Du an mich denken,
Da Du mich willst in Dich und Dich in mich versenken!
Ich kann Dich ewiglich, mein Licht, vergessen nicht!
Geliebte Brüder! Wer sind wir? Sünder – und Staub: das ist alles! Und wenn wir das bedenken – und gegenüber jene herrliche, über alle Gedanken, ja alle Phantasie erhabene Beschreibung des Menschensohnes, welche uns Ezechiel im ersten Kapitel macht – müssen wir nicht niederfallen und sprechen: „Was ist der Mensch, daß Du seiner gedenkest, und des Menschen Kind, daß Du Dich seiner annimmst?“ Müssen wir nicht zweifelnd in die Worte Jakobs ausbrechen: „Ich bin nicht wert aller Barmherzigkeit und Treue, welche Du, HErr, an mir thust!“? – Dennoch nimmt ER sich unser an; – ER wird ein Staub und Kindlein der Erde und nennt Menschen Seine Brüder – mehr als einmal. Und alles, Sein Kommen, Sein stilles, selbstverleugnendes, anspruchsloses, von allen Geschichtschreibern der verfluchten Erde vergessenes, segensreiches Leben – Leiden – Sterben hat kein anderes Ziel und Zweck, als daß ER unsere Schulden wegnähme, unsere Strafen trüge, uns die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, erwürbe und die Gaben des heiligen Geistes, damit ER uns Gotte als Seine Brüder darbringen, damit ER zum himmlischen Vater im herzgewinnenden Schmuck Seiner Leiden sagen könnte: „Da bring ich, Vater, Dir Deine Kinder wieder!“
ER wird unser Bruder nach dem Fleische, auf daß wir Seine Brüder nach dem Geiste würden. Um uns zu Brüdern zu machen, lebt und stirbt ER. Dies hatte ER im Sinn. Denn wie hätte ER sonst am Kreuze den Johannes zu Seinem Bruder machen können? ER hing am Kreuze in schweren Qualen, unter Seinem Kreuze stand Seine Mutter Maria und Sein Jünger Johannes. Mitten in Seinen Qualen wendet ER sich zu Johannes, sprechend: „Siehe, das ist Deine Mutter!“ Indem ER dem Johannes Seine Mutter zur Mutter giebt, setzt ER ihn ja zu Seinem Bruder ein nach Leib und Geist. Da war ER ja voll großer heiliger Bruderliebe zu Johannes. – Da ER auferstanden war,| sprach ER zu Maria: „Gehe hin und sage meinen Brüdern: Ich fahre auf zu meinem Vater und zu Eurem Vater!“ Da nennt ER sie Brüder und Kinder Gottes – und Seinen Vater ihren, das ist, unsern Vater. Wir haben also mit Ihm einen Vater – und sind Seine Brüder – nach Leib und Seele. ER hat unsern Leib an sich genommen und hat uns von Seinem Geiste gegeben. Einer von unserm Geschlecht, unser Bruder JEsus, ist Immanuel, ist Christus, ist ewiger König. –Geliebte Brüder! Wie es einem Engel sein würde, wenn es jemals des himmlischen Vaters Wille sein könnte, ihn aus dieser seligen Gemeinde im Himmel in die Hölle und Genossenschaft der Teufel zu senden, das wissen wir freilich nicht. Aber eine Ahnung, eine traurige Ahnung davon bekommt man, wenn man nach Betrachtung des ganzen Stammbaumes der Bruderschaft – von der leiblichen bis zur Bruderschaft JEsu hinauf – mit einem Male an das erinnert wird, was mit der Bruderliebe und Bruderschaft auf Erden geworden ist. O die Erde ist leider meist kein Paradies der Bruderliebe, sondern eine öde, unfruchtbare Steppe – sonnenverbranntes Land, von Krieg und Unfrieden verzehrt.
Erinnert euch, liebe Seelen, an die leibliche Bruderschaft. Schauet in die Familien – ich meine, ein jeder in seine Familie. Ist’s denn fein und lieblich bei euch? Wohnt ihr einträchtig bei einander? Ist Gottes Segen und Leben bei euch eingekehrt? Gott meint freilich einem jeden an seinem Bruder einen gewissen Freund zu geben. Aber was hilft’s denn den allermeisten, daß sie Brüder haben? Sie haben an ihnen weder Freunde noch Brüder. O es ist schlimm! Wenn Christus durch Sein Evangelium eine Spaltung in den Familien anrichtet, dann jammert die Welt. Warum jammert sie nicht über so viel häufigere Spaltungen zwischen Brüdern, die nicht Christus und Sein Evangelium, sondern der Brüder gegenseitiger Haß und Neid, Stolz und Empfindlichkeit hervorgebracht hat? Das ist so gewöhnlich geworden – daß man’s wunderbar findet, wenn einmal in einer Familie wahre Eintracht herrscht. Es giebt oft kaum ärgere Feinde, als Brüder| untereinander. Die unter einem Herzen gelegen haben und von einer Mutter geboren sind, kommen oft nie wieder zusammen, – bis sie sterben. Sie sind einander fremd, wie Zweige, die vom Baum geschnitten sind! Wenn das so viele Mütter und Väter sähen, deren inniger Wunsch beim Sterben war, daß ihre Kinder ein Haus einträchtiger Brüder sein möchten!Erinnert euch ferner an die geistliche Bruderschaft. Es ist wahr, daß die meisten Christen nicht mehr Christen sind, sondern abgefallene Leute – und es ist ein thörichter Selbstbetrug dieser Zeit, wenn sie gegen diese Wahrheit ankämpft. Aber es ist auch gewiß, daß Gottes Geist in unsern Tagen wieder ausgegangen ist, die Kirche zu bauen – daß dem HErrn Kinder geboren worden sind, wie Tau aus dem Morgenrot. Dieselben haben einen Vater im Himmel, einen ewigen Bruder JEsus Christus, einen Glauben, eine Taufe: sie hätten Ursache und Gnade genug, einträchtig bei einander zu wohnen. Wie schön wäre es, daß sie einträchtig bei einander wohnten – wie fein und lieblich vor Gott und Menschen, – welch ein Segen ist der Eintracht verheißen? Aber leider! So viele Kinder aus Gott in unsern Tagen geboren sind, so wenig Brüder giebt es! Aus einem Fels gehauen, wollen sie doch ein jeder besonderen Wesens sein – und achtet ein jeder seinen Bruder gering! Ein jeder will getragen sein, keiner will des andern Last tragen! Sie haben allzumal scharfe Augen für andere, und zerreißen mit ihren scharfen Zungen die Bande der Bruderliebe, welche der treue Heiland leidend und sterbend um sie schlang! Was ist eine Kirche ohne Bruderliebe? Ein Haus und Reich in sich selbst zerfallen, den Samen gewissen Untergangs in sich selbst tragend.
Rechtschaffen mögen sie sein, geistreich nach der Welt Weise, voll Erkenntnis – alles mögen sie sein, aber Brüder sind sie nicht; ihren Bruder JEsus lieben sie nicht, der abschiednehmend sprach: „Ein neues Gebot gebe ich euch, daß ihr euch untereinander liebet.“ Sie lieben einander im Leben nicht, wie können sie im Tode einander lieben, – wie könnten| die für einander sterben, die nicht für einander leben, ja, die nicht untereinander ohne Streit und Zank und Hader leben können? Sie mögen sich nennen, wie sie wollen, Christen sind sie nicht. „Ich im Vater und ihr in Mir,“ sprach der erstgeborene Bruder JEsus, der aus Himmel und Erde, aus Gott und Menschen eine Familie machen wollte. Sein Name ist Friedefürst; ER kann nicht in denen, die können nicht in Ihm sein, welche ungerecht miteinander streiten. Was hat der Friedefürst für Gemeinschaft mit den Unzufriedenen? Was hat des Friedefürsten ewig friedereicher Vater gemein mit den Kindern des Streits, welche den Frieden hassen? ER hat eine Wohnung gebaut für die Friedelosen, eine freudlose Wohnung, dahin stößt ER die friedlosen Hasser des Friedens, aber bei Ihm finden sie keine Herberge!Brüder! Wenn uns das Gewissen schlägt bei solchen Erinnerungen, so lasset uns ferner noch bedenken, wie nötig es in dieser bösen, betrübten und letzten Zeit der Welt ist, daß leibliche Brüder geistliche Brüder werden, daß Glaubensbrüder in liebevoller Eintracht stehen! Wenn nun, wie das leicht sein könnte, das letzte Gericht über die rettungslose Welt hereinbricht und des HErrn Hand anfängt zu strafen an Seinem Hause: wie gut wär’s, wenn einer durch seines Bruders Liebe und Vermahnung getragen, gestärkt würde für die letzten Tage?
Brüder, liebe Brüder! Christus, unser Bruder, hat sehr brüderlich unsere Lasten getragen, – als ein Gottes Lamm, geduldig, ohne Murren. Unsere Schuld und Sünde ist uns vergeben, unser unbrüderliches, feindliches Wesen ist uns bedeckt, wenn wir reumütig uns zu Seiner unsichtbaren Gegenwart kehren. ER steht uns nahe! ER ist nicht, wie der ältere Bruder des verlorenen Sohnes im Gleichnis, welcher über seines Bruders Heimkehr böse war. Nein, ER ist in die Welt gekommen und ist noch in der Welt, um mit der starken Hand Seiner Bruderliebe selbst uns, Seine irrenden, verlorenen Brüder, zu dem himmlischen Vater zurückzuführen. Niemand kommt zum Vater, als durch Ihn! Aber ER ist allgegenwärtig, auf daß ER alle zurückführe! – Ein jeder,| der mit Seinem Bruder zürnet, werde darum JEsu Christi Bruder, falle nieder vor seinem lange genug verratenen Bruder Joseph, damit er des himmlischen Vaters Kind werde. – Wenn ein jeder unter uns einen Menschen zum Bruder JEsus und Seinem Vater bekehrte, so würde bald die himmlische Familie auf Erden aufgerichtet werden, und die Engel würden sich freuen. Das ist, wenn jeder sich selbst bekehrte, so würden alle bekehrt, alle Brüder JEsu, alle Gottes Kinder sein. Dann würde auch Eintracht in die Kirche der Gläubigen wiederkehren – denn um deswillen, der unsere Sünden trug, würden wir gern einer des andern Sünde und Last tragen und der Sünden Menge decken. Dann würde die Freude über den einen Vater und Bruder ein immerwährendes Weihnachtsfest auf Erden schaffen! – Dann würde ein unversöhntes Herz, ein unversöhnter leiblicher Bruder zu dem andern, ein Nachbar zu dem andern wallen und einer den andern bitten: Lasset uns Frieden und Bruderschaft schließen im Friedefürsten JEsu! Dann würde jedes Haus eine Hütte Gottes – jeder Vater ein glücklicher Vater – jeder Mensch ein Bruder JEsu – alle Menschen Gottes Kinder werden. Da wäre das Ende aller Dinge nahe, – und der HErr müßte kommen und uns heimführen ins ewige Zion, zu dem ewigen Freudenöl – wir müßten unsere ewige Bruderschaft, frei von Leid und Jammer, im Himmel genießen!Teure Seelen! Könnt ihr dem widersprechen? Ist’s nicht von Gott durch JEsum Christum in eure Macht gegeben, Gottes Kinder zu werden? JEsu Brüder? Untereinander Brüder? – So ihr aber solches wisset, selig seid ihr, so ihr’s thut, so ihr die euch verliehene Macht Gottes gebraucht und Brüder werdet. Denn das ist fein und lieblich. „Wie der köstliche Balsam ist etc.“
O JEsu, segne, segne Deine Gemeinde und meine Seele um Deiner ewigen Liebe willen! Amen! Amen.
- ↑ Hebr, 12, 22–24.
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