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Wie sollt’ ich nicht an Dich, Du an mich denken,
Da Du mich willst in Dich und Dich in mich versenken!
Ich kann Dich ewiglich, mein Licht, vergessen nicht!

 Geliebte Brüder! Wer sind wir? Sünder – und Staub: das ist alles! Und wenn wir das bedenken – und gegenüber jene herrliche, über alle Gedanken, ja alle Phantasie erhabene Beschreibung des Menschensohnes, welche uns Ezechiel im ersten Kapitel macht – müssen wir nicht niederfallen und sprechen: „Was ist der Mensch, daß Du seiner gedenkest, und des Menschen Kind, daß Du Dich seiner annimmst?“ Müssen wir nicht zweifelnd in die Worte Jakobs ausbrechen: „Ich bin nicht wert aller Barmherzigkeit und Treue, welche Du, HErr, an mir thust!“? – Dennoch nimmt ER sich unser an; – ER wird ein Staub und Kindlein der Erde und nennt Menschen Seine Brüder – mehr als einmal. Und alles, Sein Kommen, Sein stilles, selbstverleugnendes, anspruchsloses, von allen Geschichtschreibern der verfluchten Erde vergessenes, segensreiches Leben – Leiden – Sterben hat kein anderes Ziel und Zweck, als daß ER unsere Schulden wegnähme, unsere Strafen trüge, uns die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, erwürbe und die Gaben des heiligen Geistes, damit ER uns Gotte als Seine Brüder darbringen, damit ER zum himmlischen Vater im herzgewinnenden Schmuck Seiner Leiden sagen könnte: „Da bring ich, Vater, Dir Deine Kinder wieder!“

 ER wird unser Bruder nach dem Fleische, auf daß wir Seine Brüder nach dem Geiste würden. Um uns zu Brüdern zu machen, lebt und stirbt ER. Dies hatte ER im Sinn. Denn wie hätte ER sonst am Kreuze den Johannes zu Seinem Bruder machen können? ER hing am Kreuze in schweren Qualen, unter Seinem Kreuze stand Seine Mutter Maria und Sein Jünger Johannes. Mitten in Seinen Qualen wendet ER sich zu Johannes, sprechend: „Siehe, das ist Deine Mutter!“ Indem ER dem Johannes Seine Mutter zur Mutter giebt, setzt ER ihn ja zu Seinem Bruder ein nach Leib und Geist. Da war ER ja voll großer heiliger Bruderliebe zu Johannes. – Da ER auferstanden war,