Praterfahrt in Wien am 1. Mai
[344] Praterfahrt in Wien am 1. Mai. (Mit Illustration S. 328 und 329) Das festliche Treiben, mit welchem die Wiener den Mai begrüßen, entbehrt nicht eines historischen Hintergrundes. Schon zur Zeit der Herzöge wurde in der schönen Donaustadt das Veilchenfest gefeiert, an welchem selbst der Landesfürst teilnahm. Jener Brauch ist mit der Zeit, wie so vieles Andere, verschwunden, aber als Ersatz für ihn blieb die Sitte, am 1. Mai nach dem Prater, dem großen Park der heiteren Kaiserstadt, zu wallfahrten. Unser Zeichner hat ein Augenblicksbild der gegenwärtigen Praterfahrt festgehalten. Wagen und Reiter und Fußgänger tummeln sich hin und her, und im Mittelpunkte erscheint die Equipage des Kaisers Neben den vornehmsten sieht man die einfachsten Leute, neben dem Officier den ranglosen Soldaten, neben der Modedame das arme, alte Mütterchen, und sogar der „Strizzi“ mit der Virginiacigarre im Munde und einer undefinierbaren Kopfbedeckung auf dem Haupte fehlt nicht.
Früher war das Schauspiel glänzender; die österreichische Aristokratie setzte einen Ehrgeiz darein, bei der Praterfahrt am 1. Mai die elegantesten Wagen, Pferde, Lakaien und — was eigentlich zuerst hätte erwähnt werden sollen — die prächtigsten Damentoiletten zu zeigen. Den Equipagen eilten die Läufer voran, die erst durch das Jahr 1848 in ihrem Laufe gehemmt wurden. Berühmte Reiter, wie der vielgenannte Sportsmann Graf Sandor, vollführten ihre merkwürdigsten Reiterkunststückchen. Den Hauptreiz auf die Bevölkerung übte aber das vollzählige Erscheinen des Hofes aus. Der Kaiser, die Kaiserin, alle Erzherzoge und Erzherzoginnen nahmen an der Praterfahrt Theil; der Vater des Kaisers, der vor acht Jahren verstorbene Erzherzog Franz Karl, fuhr, einer alten Gewohnheit gemäß, in einer sechsspännigen Equipage mit Vorreitern, und im „Kaisergarten“, einem dem Hofe reservirten Theile des Praters, bewirthete er am 1. Mai die gesammte kaiserliche Familie mit einem Diner.
Aber auch heute noch bietet der 1. Mai dem Besucher des Praters ein
sehenswerthes, farbenreiches Schauspiel, welches beweist, daß Wien all’ das
besitzt, was zu der frühlingsfrohen Fahrt nöthig ist — nicht zu vergessen:
die schönen Frauen und die heiteren, in der Frühlingssonne himmelhoch
aufjauchzenden Leute, die — wie es im Volksliede heißt - „ka Traurigkeit
g’spüren“ lassen, was auch über sie hereinbrechen mag. - o -